20 Jahre staatlicher Antirassismus in Deutschland

Zur Staatskritik der Programme gegen Rechtsextremismus und Rassismus

Für viele antifaschistische Linke bedeutete die Ausrufung des »Aufstands der Anständigen« im Jahr 2000 die Möglichkeit, ihre politische Arbeit in Lohnarbeitsverhältnisse zu überführen. Auch heute noch stellt eine Anstellung in den zahlreichen staatlich geförderten Projekten gegen Rechtsextremismus und Rassismus eine der wenigen Aussichten auf eine halbwegs sinnerfüllte Lohnarbeit für einen nicht unbeträchtlichen Teil der Linken dar, wenn sie sich nicht auf den prekären Wissenschaftsbetrieb einlassen wollen. So kommt es, dass es vielfach Linksradikale sind, die die staatliche Erwiderung auf Rechtsextremismus und Rassismus ausführen. Nach den mörderischen Anschlägen in Halle und Hanau verkündete Bundesfamilienministerin Franziska Giffey (SPD) im März 2020, das Förderprogramm Demokratie leben! von derzeit 115 Millionen Euro bis 2023 auf 200 Millionen Euro jährlich aufzustocken. Noch mehr potenzielle Lohnarbeitsverhältnisse für Linke also.

Wird sich im Seminar und der Politgruppe noch in radikaler Gesellschafts- und Staatskritik geübt, ist aus den geförderten Projekten selber wenig zur kritischen Analyse der staatlichen Förderprogramme zu vernehmen. Eine Ausnahme bildet der folgende Sammelband, in dem unterschiedliche Akteur*innen ihre Erfahrungen in den Programmen reflektieren: Friedrich Burschel/Uwe Schubert/Gerd Wiegel (Hrsg.), »Der Sommer ist vorbei…«: Vom »Aufstand der Anständigen« zur »Extremismus-Klausel«. Beiträge zu 13 Jahren »Bundesprogramme gegen Rechts«, Münster 2013. In den meisten Beiträgen bleibt die Auseinandersetzung mit staats- und gesellschaftskritischen Bestimmungen jedoch oberflächlich. Zwar gab es in der Amtszeit Kristina Schröders als Bundesfamilienministerin heftige Auseinandersetzungen zwischen ihr und den zivilgesellschaftlichen Organisationen um die sogenannte Extremismusklausel, aber diese drehten sich weniger um eine staatskritische Reflexion der Programme als um das Zurückdrängen staatlicher Kontrolle in der Umsetzung der Förderrichtlinien. Eine staatskritische Analyse der Bundesprogramme hingegen kann aufzeigen, dass der staatliche Antirassismus stark durch die ökonomischen Notwendigkeiten innerhalb eines kapitalistischen Nationalstaats geformt ist. Daher muss eine politische Linke, die es mit dem Antirassismus ernst meint, die sozialstrukturellen Funktionen derartiger Programme erkennen, um sich der Grenzen ihrer Wirksamkeit bewusst zu werden.

Die Staatskritik Johannis Agnolis eignet sich besonders, um zu verstehen, wie staatliches Handeln im »historisch-spezifischen Möglichkeitskorridor« Jan Schlemermeyer, Kritik der Politik als Politikwissenschaft?, in: PROKLA. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, 160 (2010), 465. sowohl von den konkreten politischen, ökonomischen und ideologischen Konstellationen als auch durch die allgemeine Notwendigkeit der Sicherstellung der Kapitalakkumulation durch den Staat Agnoli vertritt einen weiten Begriff von Staat. An der Umsetzung der Reproduktion der Kapitalakkumulation sind nicht nur staatliche Kernorgane wie Rechtsprechung und Regierung, sondern eine Bandbreite sozialer Institutionen (wie Verbände, Massenmedien, Parteien) beteiligt. Deren konkrete Ausformung hängt von der jeweiligen historisch-spezifischen ökonomischen Situation und der Klassendynamik ab. bestimmt wird. Agnolis Staatstheorie versteht den Staat weder als autonomes Subjekt, das, losgelöst von ökonomischen Bedingungen, im Interesse des Allgemeinwohls Entscheidungen trifft noch als »bloße Überbauerscheinung […], deren ganze Wirklichkeit von der Kapitalbewegung« abhängt. Johannes Agnoli, Der Staat des Kapitals und weitere Schriften zur Kritik der Politik, Freiburg 1995, 30. Die Aufgaben des Staates bestehen vielmehr in der Vermittlung der widersprüchlichen Interessen der Einzelkapitale, der Befriedung von Klassenkonflikten und der gesellschaftlichen Existenzsicherung der Arbeiter*innen. Er hat jedoch einen gewissen Spielraum, wie er die Kapitalreproduktion organisiert. Die konkrete Strategie ist an die unterschiedlichen staatlichen Akteur*innen und ihre ideologische Einbettung gebunden. Dabei können diese durchaus temporär gegen das Verwertungsinteresse des Kapitals agieren, jedoch nicht auf Dauer, da sonst die Reproduktion des Kapitalverhältnisses gefährdet wäre.

Die unterschiedliche Ausrichtung der Bundesprogramme zur Rechtsextremismusprävention unter den Regierungen Helmut Kohls und Gerhard Schröders lässt sich nicht nur aus ihrer politischökonomischen Funktion erklären. Die Unterschiede hängen gleichermaßen mit dem nationalistischen Programm der Kohl-Regierung sowie mit dem progressiven Neoliberalismus der Regierung Schröders zusammen. Teil des progressiven Neoliberalismus der Schröder-Regierung ist ein liberaler Humanismus, aus dem sich unter anderem ihr liberaler Antirassismus speist. Dieser konnte das Regierungshandeln bestimmen, solange er mit der Notwendigkeit der staatlich vermittelten Reproduktion des Kapitalverhältnisses im Einklang stand. Das zeigt eine historische Rekonstruktion der Entwicklung der ersten beiden Bundesprogramme zur Rechtsextremismusprävention recht deutlich.

 

Die 1990er Jahre: Das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt als Strategie der Befriedung 

Das erste staatliche Programm, das dem Neonazismus begegnen sollte, hatte die Kohl-Regierung bereits 1992 ins Leben gerufen: das Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt (AgAG). Als staatlicher Antirassismus lässt sich jedoch erst das darauffolgende Bundesprogramm der Schröder-Regierung bezeichnen, denn beim AgAG spielte die Auseinandersetzung mit Rassismus als eigenständiger Ideologie nur eine untergeordnete Rolle. Ziel war es, Jugendhilfestrukturen im Osten aufzubauen und zugleich zielgruppenspezifisch mit rechtsextremen und nicht-rechtsextremen Jugendlichen zusammenzuarbeiten. Dabei wurde auf das Konzept der akzeptierenden Jugendarbeit gesetzt, das aus der Drogenarbeit stammt. Ihm zufolge war die rassistische und rechtsextreme Gewalt lediglich eine Reaktion auf die sozio-ökonomische Desintegration von Jugendlichen. Zwar registrierte der Ansatz also die sozio-ökonomische Dimension von Rechtsextremismus und Rassismus – im Gegensatz zu den späteren Bundesprogrammen –, jedoch in völlig entpolitisierter Weise. Er reduzierte beides auf ein bloßes Gewaltphänomen. Die Mittel aus dem AgAG trugen infolge dieser Entpolitisierung indirekt zum Aufbau rechtsextremer Infrastrukturen bei. So lernten sich die Mitglieder des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) in einem kommunalen Jugendclub in Jena kennen, in dem Sozialarbeiter*innen sie jahrelang duldeten.

Bereits die Regierung Kohl trieb die neoliberale Umstrukturierung der Gesellschaft voran, indem sie Produktionsbedingungen flexibilisierte: Arbeiter*innenrechte wurden erheblich eingeschränkt, Sozial- und Arbeitslosenhilfe drastisch gekürzt. Die Zeit nach der »Wiedervereinigung« war zudem eine der ökonomischen Stagnation, was die Arbeitslosigkeit vor allem in Ostdeutschland rasant in die Höhe schnellen ließ. Die allgemeinen Reaktionen auf den Anstieg der Geflüchtetenzahlen offenbarten dazu einen gesamtgesellschaftlich getragenen Rassismus, der bei Regierungspolitiker*innen auf Verständnis stieß, und in unzähligen Pogromen und Angriffen auf Geflüchtete und Migrant*innen sowie der faktischen Abschaffung des Asylrechts durch die Bundesregierung mündete.

Das AgAG war Teil der staatlichen Strategie, die von der politischen und ökonomischen Krise Deutschlands bedrohte Ordnung sowie die Kapitalreproduktion aufrechtzuerhalten. Die grassierende rassistische Gewalt stellte das staatliche Gewaltmonopol sowie die internationale Reputation Deutschlands als Produktionsstandort infrage. Beides sollte eine Pazifizierung schnellstmöglich sichern bzw. regenerieren. Die Vorgehensweise der Befriedung zielte nicht etwa darauf, die Betroffenen der Gewalt zu unterstützen, sondern die Täter*innen durch Sozialarbeit in die Gesellschaft zu (re)integrieren.

Der Versuch des AgAG, den sozialen Frieden für den reibungslosen Reproduktionsprozess wiederherzustellen, kann nicht losgelöst von der repressiven Abschottungspolitik des deutschen Staates, als einer Variante des Umgangs mit zunehmender Migration, verstanden werden. Die Strategie der Ära Kohl lässt sich als konservativer Neoliberalismus charakterisieren. Siehe dazu: Katrin Reimer, Rechte Ideologie und soziale Frage. Soziale Arbeit und Politische Bildung in Zeiten rechtspopulistischen Neoliberalismus, in: Burschel/Schubert/Wiegel (Hrsg.), »Der Sommer ist vorbei…«, 29-50. Sie ethnisierte die sozio-ökonomischen Folgen der neoliberalen Umstrukturierung und der Einigung Deutschlands und setzte auf den Ausschluss derjenigen, die nicht zum nationalen Kollektiv gehören sollten. Die politisch Verantwortlichen vermittelten, die Einwanderung würde das Sozialsystem Deutschlands überlasten, die Abschottung dagegen ökonomisch und politisch die geeignetste Lösung sein. Damit war das Kalkül verbunden, weniger Asylbewerber*innen würden die rassistische Gewalt zum Verschwinden bringen und die soziale Ordnung könne sich auf diese Weise erholen. Beide Strategien – die repressive Abschottung und die versuchte Integration rechter Gewalttäter*innen mittels des AgAG – beförderten das Fortbestehen von Rassismus: 1998 erreichte die Anzahl rechter Angriffe ihren bis dato zweithöchsten Wert seit 1990.

 

Der »Aufstand der Anständigen«: Strategiewechsel im progressiven Neoliberalismus 

Auch die ökonomische Stagnation hielt über die 1990er Jahre hinaus an. Deutschland schien im globalen Wetteifer der nationalen Wirtschaftsstandorte nicht mithalten zu können, Verwaltungsund Arbeitsmarktstrukturen galten als nicht wettbewerbsfähig. Die seit 1999 regierende rot-grüne Koalition reagierte auf diese Situation: Das sogenannte Schröder-Blair-Papier Gerhard Schröder/Tony Blair, Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten, 8. Juni 1998, https://bit.ly/3434UUR verankerte den »aktivierenden Sozialstaat« als Leitlinie der Wirtschaftspolitik, Steuerreformen entlasteten vor allem Spitzenverdiener*innen und die Privatisierung der Sozialfürsorge durch die sogenannte Riester-Rente wurde vorangetrieben. Damit waren die Weichen für die später folgenden Hartz-IVReformen und den damit zusammenhängenden massiven Ausbau des Niedriglohnsektors gestellt. In der Folge verschaffte sich Deutschland bis 2007 einen Leistungsbilanzüberschuss von 100 Milliarden Euro. Das bedeutet, dass die Differenz von Export und Import von Waren und Dienstleistungen für Deutschland bei 100 Milliarden Euro lag. Für 2019 lag der Wert bei 245 Milliarden Euro. Gleichzeitig sanken im Zeitraum von 2000 bis 2011 die Reallöhne um etwa 4,5 Prozent. Der Wirtschaftsstandort Deutschland profitierte also von der zunehmenden Prekarisierung der Lohn- und Lebensverhältnisse.

Ein wichtiger Bestandteil des rot-grünen Aufrüstens der deutschen Wettbewerbsfähigkeit war die Neuausrichtung der Migrations- und Integrationspolitik. Die als notwendig erachtete »Transnationalisierung gesellschaftlicher Verkehrsverhältnisse« Mario Candeias, Neoliberalismus, Hochtechnologie, Hegemonie. Grundrisse einer transnationalen kapitalistischen Produktions- und Lebensweise. Eine Kritik, Hamburg 2004, 334. umfasste nicht nur Waren, sondern vor allem Arbeitskräfte. Rot-Grün machte nun – im Gegensatz zur Kohl-Regierung – im Geiste eines progressiven Neoliberalismus Zum Begriff des progressiven Neoliberalismus: Nancy Fraser, Für eine neue Linke oder: Das Ende des progressiven Neoliberalismus, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 2 (2017), 71-76. Migration als Ressource aus, die es ökonomisch nutzbar zu machen gelte. Die Politik der neoliberalen Umstrukturierung der Gesellschaft setzte sich also in veränderter Gestalt fort. Anders als die auf nationalistische Abwehr bedachte rechtskonservative Vorgängerregierung, ging Rot-Grün auf bestimmte antirassistische Forderungen ein, um das politisch- ökonomische Gefüge effizienter zu gestalten. Die Koalition reformierte die repressive Migrationspolitik der Regierung Kohl, indem sie das Staatsbürgerschaftsrecht novellierte Es wurde grundsätzlich die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgschaft für in Deutschland Neugeborene geschaffen. So wurde das Abstammungsprinzips nicht durch das Territorialprinzips ersetzt, sondern lediglich ergänzt, da sich die Kinder von Eltern ohne deutschen Pass zwischen 18 und 23 Jahren für einen Pass entscheiden müssen. Diese sogenannte »Optionspflicht« entfällt jedoch im Jahre 2014 für diejenigen, die in Deutschland aufgewachsen sind. und bedingte Einwanderungsmöglichkeiten für Fachkräfte schuf. Gerhard Schröder (SPD) verkündete im Jahr 2000 eine Greencard für IT-Expert*innen mit einem Kontingent von 20.000, allerdings ohne die Möglichkeit eines Familiennachzugs. Jürgen Rüttgers (CDU) startete dagegen die rassistische Kampagne Kinder statt Inder. Diese beiden unterschiedlichen Politikvorschläge zeigen deutlich, wie staatliche Akteur*innen mit unterschiedlichen Strategien auf ökonomische Notwendigkeiten reagieren. In diesem Fall brauchte das IT-Kapital mehr Arbeitskräfte, um weiterhin konkurrenzfähig zu bleiben. Der nationalautoritäre Rüttgers schlägt hierfür eine protektionistische Strategie des Heranzüchtens eigener deutscher Arbeitskräfte vor. Dem progressiv-neoliberalen Schröder hingegen ist egal, welche Nationalität diese Arbeitskräfte haben – Hauptsache die Arbeit wird schnell erledigt. Jedoch bildeten diese Lockerungen und das Ansinnen der Anwerbung von Fachkräften nur eine Seite des neuen Migrationsmanagements. Die andere bestand darin, als »illegal« erachtete Migration zu unterbinden. Das meinte vor allem nicht unmittelbar ökonomisch »verwertbare« Zuwanderung. Auch verbesserte sich die sozio-ökonomische Situation der Migrant*innen in Deutschland nicht. Die rassistische Segmentierung der Gesellschaft blieb weiterhin einer der zentralen Mechanismen für die Stabilisierung der Klassenverhältnisse. Siehe dazu: Juliane Karakayali, Rassismus in der Krise, in: Femina Politica, 2 (2012), 99–106.

Nach der internationalen Berichterstattung über den antisemitischen Anschlag auf Besucher*innen einer Synagoge in Düsseldorf im Jahr 2000 verlangte Schröder: »Wir brauchen einen Aufstand der Anständigen, wegschauen ist nicht mehr erlaubt.« Im Anschluss an diesen berühmt gewordenen Ausspruch folgte die Bereitstellung der Mittel für das 2001 eingeleitete Bundesprogramm Jugend für Toleranz und Demokratie – gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus mit seinen drei Teilprogrammen Xenos, Entimon und CIVITAS. Sie unterschieden sich deutlich von AgAG: Im Zentrum stand nun ein zivilgesellschaftlicher Ansatz, der Rechtsextremismus als Problem der politischen Kultur verstand und Rassismus durchaus als gesamtgesellschaftliches Phänomen bezeichnete. Jedoch rückte die sozio-ökonomische Dimension von Rassismus und Rechtsextremismus völlig in den Hintergrund, da sich die Programme eher auf das Ziel der Rückgewinnung zivilgesellschaftlicher Hegemonie richteten. Während gegen AgAG in der radikalen Linken noch Kritik laut wurde, fanden nun die ersten in den unterschiedlichen durch die Programme finanzierten Initiativen einen Job.

Die sich daraus entwickelnde Institutionalisierung eines liberalen Antirassismus war integraler Bestandteil des progressiven Neoliberalismus der Schröder-Regierung. Der liberale Antirassismus zeichnete sich dadurch aus, dass er diejenigen Anteile des rassistischen Herrschaftsverhältnisses unthematisiert und unangetastet ließ, die zur Aufrechterhaltung des Wirtschaftsstandorts Deutschland und allgemein der politischen Stabilität beitrugen. Nur so konnten die politischen Verantwortlichen die Bundesprogramme gegen Rassismus ausbauen und gleichzeitig die Bedingungen für ethnisierte Lohnunterschiede migrantischer Arbeiter*innen etwa in der Fleischindustrie unangetastet lassen.

Grundsätzlich ist die rassistische Segmentierung der Gesellschaft funktional für die Kapitalverwertung. Das Kapital erzielt durch die billigere rassifizierte Arbeitskraft höhere Profitraten. Jedoch kann eine grassierende rassistische Stimmung ebenso dysfunktional für den Verwertungsprozess sein: Eben weil der Produktionskreislauf auf die flexible Zufuhr von Arbeitskräften der von Rassismus Betroffenen angewiesen ist, hat der deutsche Staat ein Interesse daran, diese Dynamiken nicht zu sehr eskalieren zu lassen. Das bedeutet, denjenigen Migrant*innen, die bereits in Deutschland leben, ein Mindestmaß an Schutz zu gewähren, da ihre Arbeitskraft sonst langfristig dem Produktionskreislauf verlorengehen würde. Die rot-grüne Regierung hatte erkannt, dass die vorherige Strategie diesen Schutz nicht bereitstellen konnte, sodass sie nun den Fokus der Maßnahmen verschob – weg von den Täter*innen, hin zu den Betroffenen und denjenigen, die sich zivilgesellschaftlich gegen Rassismus und Rechtsextremismus einsetzten.

Zudem diente das so geschaffene Bild eines toleranten Deutschlands der weiteren Einwanderung erwünschter Fachkräfte. Doch seit etwa 2015 muss Deutschland – im Streben nach neuer politischer und ökonomischer Vorherrschaft – um sein so hart wiedererkämpftes sauberes Image bangen. Dabei betonen die großen Kapitalfraktionen in regelmäßigen Abständen, wie wichtig ein weltoffener Ruf für den Wirtschaftsstandort ist. Wie der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie Dieter Kempf 2019 sagte, passen »Ausländerfeindlichkeit und Nationalismus […] nicht zu einer international erfolgreichen deutschen Wirtschaft« Zit. n. »Nationalismus passt nicht zu einer erfolgreichen Wirtschaft«, in: Zeit Online vom 15. August 2019, https://tinyurl.com/y6tnjbdk.. Die Migrant*innen sollen außerdem der schrumpfenden deutschen Bevölkerung unter die Arme greifen, ihre Beiträge das Sozialversicherungssystem aufrechterhalten und die günstige migrantische Arbeitskraft den Niedriglohnsektor der Bau-, Agrar- und Pflegeindustrie am Laufen halten. Migrantische Arbeitskräfte dienen als »Reservearmee« oder, wie es die FDP ausdrückt, sie »dynamisieren« die Arbeitsmärkte: Durch erhöhte Konkurrenz können die niedrigen Löhne gehalten werden. Siehe dazu: Florian Butollo, Die große Mobilmachung: Die globale Landnahme von Arbeit und die Reservearmeemechanismen der Gegenwart, in: Heinz Bude/Philipp Staab (Hrsg.), Kapitalismus und Ungleichheit: die neuen Verwerfungen, Frankfurt a.M./New York 2016, 215–238.

Der liberale Antirassismus half also, die grundlegenden Bedingungen bereitzustellen, in denen die ökonomische Verwertung rassistisch legitimierter Ungleichheit sich vollzieht. Er war so in spezifischer Weise mit der politischen und ökonomischen Neuausrichtung Deutschlands durch Rot-Grün verschränkt, die sich mit Agnoli als Teil der veränderten Strategie des »imperativen Mandats« Agnoli, Der Staat des Kapitals, 42. des Staates zur Garantie der Kapitalakkumulation begreifen lässt. Der anhaltende Rassismus und die Stagnation der Ökonomie unter der Zuspitzung der Weltmarktkonkurrenz erforderten eine Neuausrichtung innerhalb des ideell-gesamtkapitalistischen Möglichkeitskorridors. Die Antworten darauf dienten dem Versuch, sowohl die staatliche Legitimität zu bewahren als auch die internationale Konkurrenzfähigkeit Deutschlands zu stärken und die Profitraten des deutschen Kapitals zu erhöhen. Die rot-grüne Migrationspolitik und das Bundesprogramm Jugend für Demokratie und Toleranz griffen so ineinander.

Die Gefährdung der gesellschaftlichen Stabilität durch neonazistische Gruppierungen konnte (und kann) der deutsche Staat nicht dulden. Versuchte die Kohl-Regierung, Neonazis mittels sozialpädagogischer Integration zu bekämpfen, setzte Rot-Grün auf die Präventionsleistung der Zivilgesellschaft. Für den ordnungspolitischen Charakter der Programme spricht ebenfalls, dass der gegenwärtig zweitgrößte Fördertopf Zusammenhalt durch Teilhabe mit dem Ziel der »Förderung von Projekten für demokratische Teilhabe und gegen Extremismus« dem Innen- und nicht dem Familienministerium untersteht.

Auch die Novellierung des Staatsbürgerschaftsrechts, mit der die 40 Jahre verspätete Anerkennung Deutschlands als Einwanderungsland einherging, hatte eine ordnungspolitische Schlagseite. Die (eingeschränkte) Möglichkeit auf Staatsbürgerschaft bedeutete zwar die symbolische Anerkennung der Kinder von Migrant*innen – die sogenannte zweiten Generation – via formale Gleichstellung als juristische und politische Subjekte. Dies lässt sich aber auch als präventive Strategie verstehen, migrantische Arbeitskräfte durch Teilhabe am nationalen Kollektiv zu befrieden. Denn an ökonomischer Benachteiligung, rassistischer Segmentierung und den damit tendenziell niedrigeren Kosten ihrer Arbeitskraft für das Kapital änderte sich dadurch nichts. Die wilden Streiks migrantischer Industriearbeiter*innen in den siebziger Jahren, die gegen die miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen protestierten, zeigen, wie migrantischer Widerstand den Produktionskreislauf stören kann, wenn der Staat die »Integration« nicht ausreichend gewährleistet. Siehe dazu: Manuela Bojadžijev, Die windige Internationale: Rassismus und Kämpfe der Migration, Münster 2008, 157.

 

Die Bundesprogramme gegen »(Rechts-)Extremismus« heute 

Im Laufe der letzten 19 Jahre wurden die Bundesprogramme in ihrer Form vielfach verändert. Die Höhe der Mittel sowie die programmatische Ausrichtung orientierten sich dabei an den jeweiligen politischen Kräfteverhältnissen der Regierungskoalitionen sowie den gesellschaftlichen Ereignislagen. Ab 2005 einigte sich die große Koalition – dem politischen Kompromiss zwischen konservativem und progressivem Neoliberalismus – auf die Formeln »gegen jede Form von Extremismus« und für »das zivilgesellschaftliche Engagement für Demokratie« So lautete die Selbstbezeichnung des Demokratie-leben!-Programms.. So fließen Teile der Gelder mittlerweile auch in Projekte gegen Islamismus und Linksextremismus. Wurde 2019 vielen Projekten die Unterstützung in der nächsten Förderperiode verweigert und die finanziellen Mittel um acht Millionen Euro gekürzt, verkündete Franziska Giffey kürzlich die Erhöhung der Fördersumme. Unterm Strich stiegen die jährlichen Aufwendungen seit der Einführung der Programme kontinuierlich an – 2023 werden sie fast ein Zehnfaches der Summe des Jahres 2001 betragen.

Verschiedene Ereignisse beeinflussten den Ausbau der Bundesprogramme seit der Jahrtausendwende: die Selbstenttarnung des NSU, der Anstieg der Fluchtbewegungen nach Deutschland, die darauf folgende Konjunktur rassistischer Angriffe, der Aufstieg und die Etablierung der AfD, zuletzt die mörderischen Attentate in Halle und Hanau. Wie bereits dargelegt, sind die Förderprogramme nicht vollständig ökonomisch determiniert, sondern auch von ideologischen Hegemonien abhängig. Doch auch aktuell erfüllen sie dieselben politisch-ökonomischen Funktionen wie die Maßnahmen des »Aufstands der Anständigen«. Obwohl Deutschland als Gewinner aus der Finanzkrise 2008 hervorging, verlor das politische System in zuvor ungekanntem Ausmaß an Legitimität, sodass die großen Volksparteien nicht mehr annähernd ihre gewohnten Wahlergebnisse einholen können. Die Bundesprogramme ergänzen auch gegenwärtig die migrations- und integrationspolitische Linie: Vor allem die Fluchtmigration wurde in den letzten Jahren selektiv nutzbar gemacht, indem die Umgestaltung des Aufenthaltsrecht nach ökonomischen Kriterien erfolgte. Wer dem Niedriglohnsektor nützlich sein kann, darf (vielleicht) bleiben, wer nicht, muss (sehr wahrscheinlich) »raus«. Das zeigt sich etwa an den Bemühungen, rumänische Erntehelfer*innen – trotz Coronalockdown – einzufliegen, um die deutsche Spargelernte sicherzustellen, während gleichzeitig Geflüchtete weiterhin abgeschoben werden.

Das staatliche Agieren abseits der Bundesprogramme zeigt sehr deutlich, wo die Grenzen des liberalen Humanismus und damit des staatlichen Antirassismus liegen: Getreu dem Motto »Unser Volk zuerst«, wie es der sachsen-anhaltinische Innenminister sinngemäß Anfang April 2020 per Twitter verkündete, wurden selbst nach wochenlanger Presseberichterstattung über die unmenschlichen Zustände in griechischen Flüchtlingslagern die Insass*innen weiter ihrem Elend überlassen. Schon vor der Corona-Pandemie versuchten CDU-Politiker*innen immer wieder, mit rassistischen Aussagen sowohl um die Gunst der AfD-Wählerschaft zu buhlen als auch den starken Staat anzurufen. Begleitet von dieser rassistischen Rhetorik baute die große Koalition die bis 2015 teils in zähen Kämpfen errungenen Rechte Geflüchteter ab. Zugleich argumentierten Regierungsverterter*innen, die anhaltende sozio-ökonomische Benachteiligung der von Rassismus Betroffenen habe ihre Ursache nicht in der rassistischen Sozialstruktur, sondern ihren mangelnden Integrationsbemühungen. Die angebliche Authentizität der antifaschistischen Bemühungen des deutschen Staates machte auch das vehemente Vertuschen des NSU-Komplexes durch den Verfassungsschutz deutlich. Und erst kürzlich stellte das Aufdecken rechter Terrornetzwerke in Polizei und Bundeswehr die »Vertrauenswürdigkeit« der Sicherheitsbehörden nochmals unter Beweis.

 

Politische Perspektiven 

Angesichts dieses deutschen Staates ist es zunächst begrüßenswert, dass nicht nur Behörden, sondern auch Linke in nicht-staatlichen Organisationen in professionalisierter Weise gegen Rassismus und die unmittelbaren Auswirkungen rechter Mobilisierung angehen. Beratungsstellen für Betroffene rechter Gewalt wie auch die institutionelle Unterstützung antifaschistischer Initiativen auf dem flachen Land tragen dazu bei, das durch Rassismus und Rechtsextremismus verursachte Leid ein wenig abzumildern und das Leben in Deutschland etwas erträglicher zu machen. Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, die Abschaffung dieser Programme zu fordern. Eine flächendeckende Unterstützung für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt und derjenigen, die sich dagegen wehren, ist ohne staatlich-institutionelle Förderung nicht zu leisten.

Jedoch müssen sich Linke, die in den geförderten Projekten arbeiten mit der eigenen begrenzten Wirksamkeit sowie der funktionalen Verstrickung der antirassistischen Staatsprogramme bei der Reproduktion rassistischer Ausbeutungsverhältnisse konfrontieren. Sonst laufen sie Gefahr, zur Apologie der Verhältnisse beizutragen, deren Auswirkungen sie bekämpfen wollen. Denn die Grenzen des staatlichen Antirassismus sind schnell erreicht, wenn es um die grundsätzliche Kritik rassistischer und kapitalistischer Herrschaftsverhältnisse geht. Eine solche Kritik kann nur aus einer linken Basis- und Selbstorganisation jenseits staatlich finanzierter Strukturen erfolgen. Es ist fatal, wenn die Lohnarbeit in einem staatlich finanzierten Projekt die notwendige Kritik und die ihr entsprechende politische Praxis gegen Staat, Kapital und Rassismus ersetzt.

Die Konjunktur rassistischer Angriffe und die rechte Mobilisierung der letzten Jahre sind nicht lediglich Ergebnis einer Diskursverschiebung, die über die Gegen-Hegemonie staatlicher Projekte aufgehoben werden könnte. Vielmehr sind sie auch Resultat der staatlichen Legitimationskrise und der sich in den letzten Jahrzehnten verschärfenden Konkurrenzbedingungen. Die Grundlagen der rassistischen Ideologie – Rassismus als historisch gewachsenes Herrschaftsverhältnis und die zunehmende Fragmentierung, Konkurrenz und Unsicherheit der Lohnabhängigen infolge der andauernden Angriffe auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der Proletarisierten durch Kapital und Staat – lassen sich nicht mit Bildungs- und Beratungsarbeit auflösen. In Konsequenz dessen kann ein radikaler – nicht-staatlicher – Antirassismus nur bedeuten, eine sozialrevolutionäre Perspektive einzunehmen und damit den Kampf gegen Rassismus und Kapitalverhältnis gleichermaßen zu führen.

 

Paul Buchmann

Der Autor ist in der translib organisiert und arbeitet in einem von Demokratie leben! finanzierten Projekt. Er bedankt sich bei Kristofer Pitz für die Unterstützung beim Verfassen des Texts