A more perfect Union

Zu der Entstehung und den Elementen des American Exceptionalism

»Vor 221 Jahren, in einer Halle, die noch immer auf der gegenüberliegenden Straßenseite steht, versammelte sich eine Gruppe von Männern und begann mit diesen einfachen Worten Amerikas unwahrscheinliches Experiment in Demokratie. Bauern und Gelehrte; Staatsmänner und Patrioten, die über einen Ozean gereist waren, um der Tyrannei und der Verfolgung zu entkommen, ließen schließlich ihre Unabhängigkeitserklärung bei einer Versammlung in Philadelphia, die das Frühjahr 1787 über stattfand, Wirklichkeit werden. Die Erklärung, die sie verfassten, wurde schließlich unterzeichnet, aber blieb letztendlich unvollendet. Sie war befleckt von der Ursünde der Nation: der Sklaverei, einer Frage, die die Kolonien teilte und die Versammlung in eine Sackgasse brachte, bis die Gründungsväter beschlossen, den Sklavenhandel für mindestens 20 weitere Jahre fortbestehen zu lassen, und eine endgültige Lösung den zukünftigen Generationen zu überlassen. Natürlich war die Antwort auf die Frage der Sklaverei bereits in unserer Verfassung verankert – einer Verfassung, die in ihrem Kern das Ideal der staatsbürgerlichen Gleichheit vor dem Gesetz enthielt; einer Verfassung, die ihrer Bevölkerung Freiheit und Gerechtigkeit sowie eine Union versprach, die mit der Zeit vollendet werden konnte und sollte.http://edition.cnn.com/2008/POLITICS/03/18/obama.transcript/index.html Übersetzung durch den Autor.«

Mit diesen Worten begann der demokratische Präsdidentschaftsbewerber Barack Obama seine Rede im März 2008 in Philadelphia. Sie enthält einige konstitutive Elemente dessen, was den Topos des American Exceptionalism ausmacht. Insofern handelt es sich bei ihr um eine durch und durch amerikanische Rede.Dass Obamas Position in einigen außenpolitischen Fragen deutlicher sein könnte, ist die eine Sache. Ihn deshalb als »typisch europäischen Zombie« zu bezeichnen, wie es einige Antideutsche tun, zeugt jedoch von einer Ignoranz gegenüber der Spezifik der Vereinigten Staaten. Er betont, dass die Vereinigten Staaten von Amerika auf die älteste demokratische Tradition zurückblicken und dass sie gegründet wurden von Einwanderern, die der Tyrannei und der Verfolgung zu entkommen suchten. Verabschiedet worden sei eine Verfassung, die die Gleichheit vor dem Recht, die Freiheit und die Gerechtigkeit festschreibt. Zugleich zeichnet Obama aber kein verklärendes Bild der amerikanischen Geschichte, sondern verweist auf die bis heute nicht überbrückte Diskrepanz zwischen den in den Gründungsdokumenten postulierten Idealen und der sozialen Realität. Dieser Riss wird am deutlichsten an der Sklaverei, die von Beginn an zu den heftigsten Auseinandersetzungen in der amerikanischen Gesellschaft führte und die Einheit der Union Mitte des 19. Jahrhunderts im Bürgerkrieg fast zerstört hätte.

Der Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis zieht sich wie ein roter Faden durch die amerikanische Geschichte. Er existiert bis heute und wird sicherlich noch weiter auszufechten sein. Trotz des Siegs der Nordstaaten im Bürgerkrieg 1865, der darauf folgenden Abschaffung der Sklaverei, der Verleihung der Staatsbürgerschaft an die ehemaligen Sklaven und der Erfolge der Bürgerrechtsbewegung seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts besteht die strukturelle Diskriminierung nicht nur der schwarzen Amerikaner fort. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den regelmäßig wiederkehrenden Debatten über affirmative action und race issues. Neben der Sklaverei ist die Vertreibung und Ermordung der Native Americans der deutlichste Widerspruch zu den amerikanischen Idealen. Vollkommen falsch wäre es jedoch, die tragische Geschichte der Native und der African Americans als paradigmatisch für die Vereinigten Staaten anzusehen. Das Gegenteil ist der Fall. Die African Americans unterscheiden sich von allen anderen Einwanderergruppen dadurch, dass sie nicht freiwillig nach Amerika gekommen sind, sondern dorthin verschleppt wurden. Sie hatten keinerlei Möglichkeit, am American Dream zu partizipieren, was bis heute weit reichende Implikationen hat. Die Vertreibung der Native Americans ist Teil der Geschichte des europäischen Kolonialismus und nur zu verstehen im Zusammenhang mit der Gründung eines modernen Nationalstaates, die nirgendwo gewaltfrei ablief. Die modernen Nationalstaaten sind das Produkt von Revolutionen, von Kriegen und nahezu immer von gewaltvoll verlaufenden Homogenisierungsprozessen.Hierzu Eric Hobsbawn, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, München 1996. Im Gegensatz zu vielen anderen Nationen gibt es in Amerika eine sehr kritische Aufarbeitung der Besiedlungsgeschichte sowie ernsthafte Versuche, das historische Unrecht wenigstens auszugleichen. Die Erfahrungen dieser beiden gesellschaftlichen und ethnischen Gruppen divergieren somit fundamental von der Auffassung Amerikas als dem Land der Zukunft und der unbegrenzten Möglichkeiten. Der Topos des amerikanischen Traumes »Vom Tellerwäscher zum Millionär« ist immer ideologisch aufgeladen. Zugleich ist er aber mehr. In ihm reflektiert sich die reale Immigrationserfahrung von Millionen Menschen, die in der neuen Welt Zuflucht vor Armut und unterdrückenden Verhältnissen fanden.

Die amerikanische Geschichte ist zu verstehen als die permanente Kollision der in den Gründungsdokumenten verankerten Werte und ihrer (fehlenden) Implementierung. Wie Obama in seiner Rede betont, war das Ende der Sklaverei bereits durch den verfassungsmäßigen Gleichheitsgrundsatz vorweggenommen. Auch wenn sich die Kluft zwischen Ideal und Realität nie schließen wird, ist es doch im Laufe der geschichtlichen Entwicklung zu einer Annäherung gekommen. Bei den Kämpfen in der amerikanischen Geschichte, sei es bei der Arbeiter- oder bei der Bürgerrechtsbewegung, wurde immer auf die Verfassungswerte rekurriert und ihre Umsetzung eingeklagt. Es ging auch ihnen um eine more perfect union.

Die besondere Verfasstheit der Vereinigten Staaten von Amerika

Bereits diese Punkte verweisen auf eine Verfasstheit der amerikanischen Gesellschaft, die sie grundlegend von den meisten europäischen unterscheidet und die gemeinhin unter dem Terminus des American Exceptionalism zusammengefasst werden. Die Debatte darüber ist eine der längsten der amerikanischen Geschichte und beginnt bereits Ende des 18. Jahrhunderts mit der Veröffentlichung der Letters from an American Farmer von Hector St. John de Crèvecoeur, einem in die Neue Welt emigrierten Franzosen. Darin schreibt er:

»Was also ist der Amerikaner, dieser neue Mensch? Er ist entweder ein Europäer oder der Nachfahre eines Europäers: deshalb diese seltsame Mischung des Blutes, die sich in keinem anderen Land findet. Der ist ein Amerikaner, der alle seine alten Vorurteile und Sitten hinter sich lässt und neue von der neuen Lebensweise erhält, die er gewählt hat, von der neuen Regierung, der er folgt, und dem neuen Status, den er einnimmt. Er wird ein Amerikaner, indem er in den breiten Schoß unserer Alma Mater aufgenommen wird. Hier werden Individuen aller Nationen zu einer neuen Menschengattung zusammengeschmolzen, deren Bemühungen und deren Reichtum eines Tages große Veränderungen in der Welt verursachen werden.«Hector St. John de Crèvecoeur, Letters from an American Farmer (1793), Oxford 1997. Auszugsweise abgedruckt in Andreas Hess (Hrsg.), American Social and Political Thought. A Reader, Edinburgh 2002, 18. (Ü.d.A.)

In diesem klassischen Ausspruch fasst Crèvecoeur in fast schon antizipierender Weise wichtige Aspekte zusammen, die prägend für die amerikanische Gesellschaft werden sollten. Die Emigration nach Amerika bedinge ein Zurücklassen der alten Traditionen und die Adaption eines neuen, unbekannten Lebensstils. Er prophezeit, dass Amerika verfolgten Menschen aus der ganzen Welt Zuflucht biete, die Großes für die Menschheit erreichen werden. Damit wird ein Universalismus postuliert, der nationale Borniertheiten zu überwinden beansprucht. Das Selbstverständnis der Amerikaner sei anders konstituiert als in der Alten Welt. Es sei gekennzeichnet durch eine Offenheit und basiere nicht auf einer Abstammungsgemeinschaft. Deshalb sei »Amerikaner zu werden« eine individuelle Entscheidung derjenigen, die bereit seien, die amerikanische Regierung und deren Gesetze zu akzeptieren.

Frühe Besiedlung und religiöse Toleranz

Der Ausgangspunkt dieser besonderen gesellschaftlichen Verfasstheit reicht historisch jedoch noch weiter zurück in die Frühphase der Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents durch europäische Flüchtlinge. Nachdem der englische König Jakob I. englischen Kaufleuten und Handelskompanien im Jahre 1606 einen Freibrief für die Gründung von Kolonien ausgestellt hatte, gründeten Siedler der London-Company ein Jahr darauf Jamestown, die Keimzelle der späteren Kolonie Virginia. Eine gute Dekade später, 1620, landete eine Gruppe frommer Calvinisten in der Nähe von Cape Cod und rief die Siedlung Plymouth Plantation ins Leben. Vor ihrer Ankunft in Amerika waren sie bereits vor religiöser Unterdrückung aus England in die Niederlande geflohen. Während der Überfahrt schlossen sie auf dem Schiff den Mayflower-Vertrag, in dem sie festlegten, sich zu einem »bürgerlichen politischen Körper« zu vereinigen und das politische Leben und das allgemeine Wohl in der Kolonie durch »rechte und billige Gesetze, Verfügungen, Erlasse, Einrichtungen und Ämter«Zitiert nach Wolfgang Lauterbach und Manfred Schlenke (Hrsg.), Geschichte in Quellen, Band 3, München 2. Auflage, 1976, 407. zu regeln. In der stark religiös geprägten Sicht der Calvinisten erschien die Überfahrt in die Neue Welt als Erfüllung der biblischen Heilsgeschichte, als neuer Exodus. Amerika war für die in Europa religiös verfolgten puritanischen Calvinisten das neue Israel, das Gelobte Land. Sie beabsichtigen »eine Stadt auf dem Hügel«»A City upon the Hill.« Die Predigt A Modell of Christian Charity findet sich unter http://history.hanover.edu/texts/winthmod.html., ein neues Jerusalem zu gründen, wie es der erste Gouverneur der Kolonie Massachusetts John Winthrop in einer Predigt formulierte. Die biblische Metaphorik und der Rekurs auf die Exodusgeschichte wurden maßgeblich für das amerikanische Selbstverständnis als Gegenpol zum alten Europa. Amerika wurde als Aufnahmeland für alle betrachtet, die einer modernen Form der ägyptischen Gefangenschaft zu entfliehen gezwungen waren. Obwohl der in Europa gültige Grundsatz cuius regio eius religio (Wessen das Land, dessen die Religion) keine Geltung in den Kolonien beanspruchen konnte, waren diese selbst in religiöser Hinsicht nicht von Beginn an frei. Eine religiöse Toleranz bildete sich in widersprüchlichen historischen Prozessen heraus. Kennzeichnend ist jedoch, dass religiöse Konflikte anders gelöst wurden als durch Glaubenskriege, die für die europäische Geschichte so typisch waren. Die massenhafte Verfügbarkeit von dünn besiedeltem Land ermöglichte es, bei Unstimmigkeiten neue Siedlungen zu gründen.

So zog Roger Williams, der in Massachusetts der Subversion bezichtigt wurde, mit einer Gruppe von Anhängern aus und gründete im Jahre 1636 in der Naragansett Bay die Siedlung Providence. Sie wurde später zur Hauptstadt der Kolonie Rhode Island. Gedeckt durch ein Edikt des englischen Königs wurde in ihr die Freiheit in religiösen Angelegenheiten verkündet. Zusätzlich zur praktischen Umsetzung war Williams der Erste, der die Religionsfreiheit theoretisch konzeptionalisierte. In der Kirche sah er eine freiwillige Vereinigung und er plädierte für eine strikte Trennung von weltlichen und religiösen Fragen. Während sich die kirchlichen Autoritäten nicht in die staatliche Politik einmischen sollten, müsste der Herrscher die freie Ausübung der Religion garantieren.

Neben Rhode Island wurde vor allem die von dem Quäker William Penn gegründete Kolonie Pennsylvania zu einem Beispiel für einen pragmatischen und gelassenen Umgang mit religiösen Differenzen. Dort entwickelte sich eine Vielzahl von Sekten und christlichen Denominationen, von deutschen Lutheranern und Reformierten über die Pietisten bis zu den Amish. Sie wurde zu einem Zufluchtsort verfolgter religiöser Minderheiten. In der Verfassung wurde Gewissensfreiheit garantiert und ein fortschrittliches Strafgesetzbuch erlassen. Der französische Philosoph Voltaire pries Pennsylvania als eine Regierung ohne Priester und sah nur dort die Postulate der Aufklärung realisiert.Voltaire, Quatrième lettre »Sur les«. Lettres philosophiques (1734), édition critique avec une introduction et un commentaire par Gustave Lanson, Paris 1964, 38. Die Situation in den Kolonien lässt manifest werden, was Hannah Arendt immer wieder hervorhob, dass nämlich dort im Gegensatz zu Europa die praktischen Erfahrungen den theoretischen Reflexionen vorausgingen. Ferner war es Amerika, das Europa das praktische Beispiel gab, und nicht Europa, das Amerika die Theorie des gesellschaftlichen Vertrags und der Toleranz brachte. Sie schreibt: »Wichtige och ist vielleicht, dass ihnen [den Gelehrten; S.V.] gar keine Erfahrungen zur Verfügung standen, auf die sie hätten zurückgreifen können für ein Selbstverständnis irgendeiner Art; sie besaßen nichts als die durch keine Wirklichkeit erprobten Ideen und Prinzipien aus der Zeit vor der Revolution.«Hannah Arendt, Über die Revolution, München 1965, 170.

Gesellschaftlicher Pluralismus

Zum Verständnis der Genese des American Exceptionalism ist außerdem noch die Verfasstheit des Puritanismus zu berücksichtigen. Er bedarf keiner zentralen Instanz religiöser Autorität wie dem Papst, weil er auf der Idee eines Vertrags und einer Abmachung der Individuen mit Gott basiert, dem sogenannten Covenant . Damit wird auch jede Form der Vermittlungsinstanzen zwischen beiden obsolet und die Priesterschicht überflüssig. Dies wirkte sich auch auf die Struktur der Kirchengemeinden aus, die nach dem Prinzip des Voluntarismus aufgebaut waren. Die demokratische Organisation der Gemeinden und die auf Freiwilligkeit beruhende Teilnahme wurden später in den Staatstheorien in die Idee der Partizipation am politischen Leben transformiert. Die frühe Entwicklung legte den Grundstein für die in der amerikanischen Revolution von 1776 sich manifestierende Säkularisierung einer zunächst genuin religiösen Erfahrung. Nicht nur die hohe Alphabetisierungsrate, sondern vor allem auch die sich aus der Stellung der Gemeinde ergebende Selbstregierung und lokale Selbstverwaltung führte zur Herausbildung eines politischen Bewusstseins bei der Masse der Bevölkerung.Dies beschrieb in bisher unübertroffener Weise Alexis de Tocqueville in seinem in zwei Bänden 1835/1840 erschienenem Werk De la démocratie en Amérique.

Nach der zugespitzten Situation in den Kolonien, die sich in der ersten antikolonialen Revolution der Weltgeschichte entlud, standen die Revolutionäre unmittelbar vor dem praktischen Problem, wie aus dreizehn Kolonien mit divergierenden Traditionen, vielen verschiedenen Sekten und einer heterogenen Bevölkerung eine gemeinsame Nation entstehen könne. Für eine religiös und geographisch stark fragmentierte Gesellschaft war der Föderalismus der Garant des Pluralismus. Nur die Zersplitterung der Macht und eine Dezentralisierung der politischen Struktur helfe eine »Tyrannei der Mehrheit« (Tocqueville) zu verhindern. Nach der erfolgreichen Revolution musste also eines der grundlegenden Probleme der Moderne gemeistert werden: die Dialektik von Einheit und Differenz.

Die theoretische Diskussion darüber findet sich in den Federalist Papers, die gut zehn Jahre nach der Revolution von Alexander Hamilton, John Jay und James Madison verfasst wurden. Vor allem der zehnte Artikel gilt als die Konzeptionalisierung des modernen Pluralismusprinzips. Madison schreibt darin: »Solange die menschliche Vernunft fehlbar ist, und der Mensch frei ist, sie zu benutzen, wird es unterschiedliche Meinungen geben.«James Madison, Alexander Hamilton und John Jay, Die Federalist-Artikel. Politische Theorie und Verfassungskommentar der amerikanischen Gründerväter. Mit dem englischen und deutschen Text der Verfassung der USA, herausgegeben, übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Angela Adams und Willi Paul Adams, Paderborn 1994, 52.

Angenommen wird, dass es niemals zu einer völligen Interessenskonvergenz in der menschlichen Gesellschaft kommen könne, sondern die Differenzen immer bestehen blieben. Nicht die Beseitigung der Differenzen oder ihre Harmonisierung ist somit das Ziel, vielmehr ein adäquater Umgang damit, der für Madison in eine eutralisierung der Auswirkungen von Meinungsverschiedenheiten durch ihre Institutionalisierung bestand. Deshalb verwarf er auch die direkte Demokratie und ein Einkammerparlament. Im Gegensatz zu ihren französischen Mitstreitern verwehrten sich die amerikanischen Revolutionäre einer Apotheose des Volkes und verfielen nicht dem Glauben, dass es direkt herrschen könne.Hierin und im unterschiedlichen Umgang mit der Religion werden zwei verschiedene Traditionen der westlichen Aufklärung deutlich. Während die kontinentaleuropäische sich durch eine Kirchenfeindschaft auszeichnet, ist die angelsächsische durch einen pragmatischen Umgang mit Religion gekennzeichnet. Sein politischer Einfluss müsse über Institutionen vermittelt sein, um einen Despotismus der Mehrheit zu verhindern. Eine reine Demokratie laufe Gefahr, in eine Herrschaft der Masse umzuschlagen. Hannah Arendt fasst diesen Gedanken zusammen: »Technisch gesprochen, ist die Alternative zu einer gereinigten und repräsentierten Vielfalt von Meinungen das Plebiszit, das in der Tat aufs Genaueste der Herrschaft der öffentlichen Meinung entspricht. Und genau wie die öffentliche Meinung in Wahrheit der Tod aller Meinungen und Meinungsbildungen ist, so ist das Plebiszit der Tod des Wahlrechts, aufgrund dessen die Bürger zum Mindesten das Recht haben, die Regierung zu wählen und sie zu kontrollieren.«Arendt, Revolution, 330.

Der Anspruch auf die Bewahrung der Pluralität und die Vermeidung von Homogenisierung und Zentralisierung manifestieren sich auch im Motto der Vereinigten Staaten von Amerika: E pluribus unum , aus den Vielen Eins. Einen Versuch seiner Implementierung stellt die 1787 verabschiedete Verfassung dar, die 1791 noch um den Grundrechtskatalog ergänzt wurde. In ihr ist ein System der checks and balances festgeschrieben, ein System der sich gegenseitig kontrollierenden, einschränkenden und ausbalancierenden Gewalten.Die Verfassung ist sehr einfach und gerade deshalb erstaunlich flexibel und anpassungsfähig. Konflikte um ihre Interpretation ziehen sich durch die amerikanische Geschichte. Weitere grundlegende Elemente sind die Volkssouveränität mit Repräsentationssystem und das Bundesstaatenprinzip, das die Kompetenzen der Zentralgewalt und der Einzelstaaten regelt. Die Verfassung ist aber nicht nur die Institutionalisierung des politischen Pluralismus, sondern auch die Garantie für religiöse Vielfalt. Zur Sicherung der Einheit in der Vielheit bedurfte es einer strikten Scheidung von Staat und Glauben. Die völlige Freiheit des Glaubens wurde gewährt, dieser aber zugleich rigoros aus der öffentlichen Sphäre ferngehalten. Er wurde privatisiert und dadurch neutralisiert. In den Bill of Rights wurde das Prinzip der Religionsfreiheit und der Trennung zwischen Kirche und Staat, die Thomas Jefferson als »wall of separation« bezeichnete, konstitutionell fixiert. Der bis heute in Amerika wegweisende und nie angetastete erste Zusatz lautet: »Der Kongress darf kein Gesetz erlassen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- und Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung durch Petition um Abstellung von Missständen zu ersuchen.«Erster Zusatzartikel, in: Madison, Federalist-Artikel, 569. Die amerikanische Verfassung ist die erste de euzeit und sie ist entscheidend für den Konstitutionalismus im Allgemeinen geworden. Sie bildet den Abschluss der Genese der amerikanischen Nation und zugleich die Basis für die weitere Entwicklung.

Territoriale Expansion und der Frontier-Gedanke

Im 19. Jahrhundert traten noch weitere für den American Exceptionalism konstitutive Momente hinzu. So vergrößerte sich das Staatsgebiet durch die Westexpansion permanent, bis im Jahre 1907 durch die Aufnahme Oklahomas in die Union die territoriale Konsolidierung abgeschlossen wurde. Die Relevanz der Westexpansion, die dauernde Verschiebung der Grenze, hat Frederick Turner 1890 in dem Buch The Frontier in American History herausgearbeitet. In der Ausdehnung sah er eine Ventilfunktion, die die Möglichkeit eröffnete, einer disparaten Lage zu entfliehen und sich im Westen ein neues Leben aufzubauen. Proletarier hätten die Existenz als freie Farmer im Westen dem Klassenkampf vorziehen können. Dies führte zu einem Arbeitskräftemangel in den Metropolen der Ostküste und damit zu relativ hohen Löhnen. Zugleich brachte dies aber eine hohe Fluktuation unter den Arbeitern mit sich, was die gewerkschaftliche Organisierung massiv erschwerte.

Die Westexpansion habe zur Herausbildung des Individualismus und der Eigenverantwortung beigetragen, weil das harte Leben in den Grenzregionen eine große Mobilität und Flexibilität erfordert habe. Die Wildnis brachte den Siedlern »eine neue Art bei, das Schicksal des einfachen Mannes zu betrachten, lehrte sie die Annahme der Bedingungen der neuen Welt, die Schaffung neuer Institutionen, um neue Bedürfnisse zu befriedigen.«Frederick Turner, The Frontier in American History, hier zitiert nach Hess, Reader, 23. Obwohl Turner die oft klägliche Existenz der Siedler teils romantisiert und andere zentrale Faktoren ausblendet, die zur Entstehung der spezifischen Bedingungen führten, enthält seine These einen Wahrheitsgehalt. Der Frontier-Gedanke erhielt Einzug ins amerikanische Massenbewusstsein und wurde zu einem Mythos, der für die Überschreitung von Grenzen und somit für die beständige Möglichkeit eines Neuanfangs und eines Vorankommens steht. In dieser mythologisierten Form hat die Frontier den Wegfall der realen Grenze überstanden.In politischen Reden wird immer wieder auf die Frontier Bezug genommen. Am berühmtesten dürfte die Charakterisierung des Weltraums als neue Frontier durch John F. Kennedy sein. Die eigene Geschichte wurde von vielen Amerikanern wie auch von Immigranten als fortschreitende Zivilisierung verstanden. Das Urbarmachen und Besiedeln neuer Gebiete wurde mit der Ausbreitung der Zivilisation gleichgesetzt. Zusammen mit der Vorstellung der biblischen Heilsgeschichte und des Neuanfangs, wie er sich bei den frühen religiösen Siedlern fand, und dem Gedanken an die moralische und politische Überlegenheit, konstituiert der Frontier-Gedanke die Basis für einen Universalismus. Amerika wurde als Kern einer neuen, segensreichen Weltordnung gesehen, die sich ausbreiten werde. Im Laufe der Entwicklung säkularisierte sich der Gedanke. Propagiert wurde nun die Verbreitung der American Idea, womit Demokratie, individuelle und wirtschaftliche Freiheit, rechtliche Gleichheit und Rechtssicherheit gemeint waren. Besonderen Anklang fand diese Vorstellung bei europäischen und vor allem bei deutschen Revolutionären, die im 19. Jahrhundert vor den repressiven Verhältnissen in der Alten Welt flohen. Sie hofften, mithilfe Amerikas den Feudalismus in Europa ein für alle Mal zu beseitigen.Das inoffizielle Manifest der Bewegung ist das Buch The New Rome der beiden deutschen Auswanderer Theodor Poesche und Charles Goepp von 1852, in dem sie sich für die militärische Intervention amerikanischer Truppen in Europa aussprechen.

Dan Diner formuliert die Besonderheit Amerikas wie folgt: »Die amerikanische Revolution beruht auf einem Universalismus der Menschen- und Bürgerrechte, dem es nicht auferlegt war, gegen bestehende Verhältnisse anzutreten. Das Privileg Amerikas war es, die Wirklichkeit einer neuen Welt gleichsam aus sich heraus zu erfinden. Die amerikanische Utopie etablierte sich in der Gegenwart, während die kontinentalen Revolutionen jeweils unterschiedliche Visionen in die Zukunft projizierten.«Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, Frankfurt am Main 2000, 24.

Liberale Tradition und amerikanischer Patriotismus

Amerika war frei von historischem Ballast wie Absolutismus und Feudalismus. Nicht nur die Genese einer spezifischen politischen Struktur ist aus den unterschiedlichen Prämissen zu erklären, sondern auch die Entstehung einer Tradition des liberalen politischen Denkens. Schon nach der erfolgreichen Unabhängigkeit blieb eine Konterrevolution aus. Es bildete sich keine reaktionäre Bewegung heraus. Ebenso wenig entstand eine Arbeiterbewegung, die mit der europäischen vergleichbar gewesen wäre.Dies stößt gerade bei europäischen Linken bis heute auf Unverständnis. Das wichtigste Buch in diesem Zusammenhang ist Werner Sombart, Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?, Tübingen 1906. Natürlich gab es militante Klassenkämpfe, aber diese drehten sich um die konkrete Verbesserung der Arbeits- und Lebensumstände. Dieser Kampf wurde auf dem Boden der Verfassung und unter affirmativem Bezug auf sie ausgefochten. Hinzu kommt, dass nicht zuletzt aufgrund der Einwanderung das meritokratische Prinzip das gesellschaftlich Bestimmende wurde. Es zählte nicht die Herkunft oder Tradition, sondern die Leistung. Aus de otwendigkeit der Akzeptanz von Differenz und Pluralität entwickelte sich die Tradition des Liberalismus und ein demokratischer Habitus wurde gesellschaftlich verwurzelt. Außerdem bildete sich eine kritisch distanzierte Haltung gegenüber Autoritäten, vor allem gegenüber dem Staat heraus. Theodor W. Adorno beschreibt diese Aspekte folgendermaßen: »Wesentlicher und beglückender war die Erfahrung des Substantiellen demokratischer Formen: dass sie in Amerika ins Leben eingesickert sind, während sie zumindest in Deutschland nie mehr als formale Spielregeln waren und, wie ich fürchte, immer noch nicht mehr sind. Drüben lernte ich ein Potential realer Humanität kennen, das im alten Europa so kaum anzutreffen ist. Die politische Form der Demokratie ist den Menschen unendlich viel näher.«Theodor W. Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in: ders.: Kulturkritik und Gesellschaft II, Gesammelte Schriften Band 10.2, herausgegeben von Rolf Wiedemann, Darmstadt 1998, 735.

Dies wirkte sich stark auf den amerikanischen Patriotismus und auf die Frage aus, was es bedeutet, Amerikaner zu sein. Selbstverständlich bedarf auch Amerika als Nationalstaat der Konstruktion einer einheitlichen Identität. Das Einheit stiftende Moment wurde in einer berühmten Formulierung als American Creed bezeichnet.Die Formulierung geht auf das Buch von Gunnar Myrdal zurück: An American Dilemma. The Negro Problem und Modern Democracy, New York 1962. Es meint die Herstellung einer gemeinsamen Identität über den Bezug auf abstrakte politische Werte. Dieser Patriotismus der Werte, der Amerika paradigmatisch als die zivile Nation auszeichnet, wird immer wieder in symbolischen Handlungen bekräftigt, was die Wichtigkeit der Flagge, des 4. Juli, der Verfassung und des Pledge of Allegiance zeigt. Amerika ist das Gegenkonzept zur ethnisch fundierten Nation und es herrscht ein inklusiver Patriotismus vor. Der Rekurs auf die abstrakten, in der Verfassung niedergelegten Werte begründen den Kern dessen, was die »Substanz des Amerikaner-Seins« ausmacht, die demgemäß »mit gutem Grund als eine Ansammlung von bürgerlichen Rechten« beschrieben wurden.Michael Werz, Ethnizität als moderne Ideologie. Ein gesellschaftlicher Begriff in geografischem Kontext, in: Moshe Zuckermann (Hrsg.), Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 30 (2002), 21. Das sich um diesen Kern konstituierende Selbstverständnis muss immer wieder modifiziert und angepasst werden. Es ist ein permanenter Aushandlungsprozess, und die Diskussion darüber wird in der amerikanischen Gesellschaft auch aufgrund der massiven Einwanderung regelmäßig geführt.

Die Einwanderung nach Amerika

Die Einwanderung bestimmte von Anbeginn den Charakter der amerikanischen Gesellschaft. Belief sich die Bevölkerung in den Kolonien im Jahre 1620 noch auf 2000 Personen, so wuchs sie auf etwa 275 000 im Jahre 1700 und schließlich auf 2,5 Mio. beim Ausbruch der Revolution 1776. Amerika war eine reale Alternative zu Europa, die Flüchtlingen die Chance bot, ein neues Leben anzufangen. Besonders im 19. Jahrhundert fand eine Masseneinwanderung aus Europa statt; zwischen 1820 und 1924 ließen sich knapp 36 Millionen Immigranten in Amerika nieder. Die Einwanderung stieß in der amerikanischen Gesellschaft nicht immer auf Zustimmung. Durch die gesamte Geschichte hinweg formierten sich Bewegungen, die die Zuwanderung begrenzen oder ganz beenden wollten, so etwa die antikatholischen Nativisten im 19. Jahrhundert, der rassistische Ku-Klux-Klan im 20. Jahrhundert und bewaffnete Milizen an der mexikanischen Grenze heute. Auch wenn es auf der politischen Ebene immer wieder Rückschläge gab, wie die Einführung einer Quotenregelung im Jahre 1924, hörte die Immigration nie auf. Sie beeinflusst den Charakter der amerikanischen Gesellschaft auf eine fundamentale Weise und führt zu einer äußerst dynamischen Gesellschaft, deren Selbstbild in permanenten Aushandlungsprozessen neu bestimmt wird. Die Diskussion über den Umgang mit Neueinwanderern zieht sich durch die amerikanische Geschichte wie ein roter Faden, und die beiden Topoi Melting Pot (Schmelztiegel) und Cultural Pluralism markieren bis heute die Pole der Auseinandersetzung.

Nach einer neuen Untersuchung des Pew Research Center wird der Anteil der Einwanderer weiter wachsen. Wenn die jetzige Entwicklung anhält, dann werden zwischen 2020 und 2025 15 Prozent der amerikanischen Bevölkerung im Ausland geboren sein. Die Hispano-Amerikaner werden knapp 30 Prozent der Gesamtbevölkerung darstellen, im Vergleich zu 15 Prozent heute, und auch der Prozentsatz der asiatischstämmigen Amerikaner wird sich auf gut 10 Prozent verdoppeln. Der Anteil der Weißen an der Bevölkerung wird erstmals auf weniger als die Hälfte fallen.

Des Weiteren sind die Vereinigten Staaten von Amerika das einzig hoch industrialisierte Land, dessen Bevölkerung weiter stark wächst. Trotz aller Versuche, das amerikanische Selbstverständnis zu essentialisieren und trotz all des reaktionären Lamentierens über die Nichtintegrationsfähigkeit der neuen Einwanderer, wofür unter anderem Samuel Huntington steht,Samuel P. Huntington, Who are we? Die Krise der amerikanischen Identität, Hamburg/Wien 2004. werden die Aspekte des American Exceptionalism ihre Gültigkeit bewahren. Ihre Geltung wird am Beispiel der Einwanderung immer wieder deutlich. Amerika wird eine sich permanent wandelnde, dynamische und tolerante Gesellschaft bleiben. Durch die Wahl Barack Obamas zum ersten afro-amerikanischen Präsidenten würde es weiter auf dem Weg zur Realisierung der bereits in der Verfassung verankerten Prinzipien voranschreiten und die Diskrepanz zwischen den Idealen und der gesellschaftlichen Realität erneut ein kleines Stück verringern. Es wäre Ausdruck einer gestiegenen Toleranz in der amerikanischen Gesellschaft gegenüber ihrer eigenen multikulturellen Verfasstheit. Damit wäre der Umsetzung des Grundsatzes to build a more perfect union gedient.

SEBASTIAN VOIGT

Der Autor ist Verfasser des Buches Die Dialektik von Einheit und Differenz.