Ab jetzt wird zurückversöhnt

Über ProtagonistInnen und Pläne der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung

Als der Bundestag im Dezember 2008 die Gründung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung beschloss, frohlockte die Frankfurter Allgemeine Zeitung, damit hätte die von Erika Steinbach gegründete Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen »alles erreicht, was sie bezweckte«. Stefan Dietrich, »Erkenntnisgewinn auf Umwegen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.12.2008. Tatsächlich ist der Unterschied nicht groß: Hinter der Stiftung verbirgt sich eine zentrale Erinnerungsstätte im Zentrum Berlins, die sich allein in deutscher Trägerschaft befindet, die inhaltlich auf deutsche Opfer fokussiert sein und auf deren Konzeption der Bund der Vertriebenen (BdV) maßgeblichen Einfluss haben wird. Jörg Kronauer, »Es ist Vollbracht«, in: Phase 2, 30/2008.

 Die Stiftung ist eine staatliche Manifestation des um Flucht und Vertreibung kreisenden neuen deutschen Opferdiskurses, dessen Leitbegriff ›Unrecht‹ ist. Pünktlich zum 60. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Interview: »Deutschland hat den Zweiten Weltkrieg ausgelöst. […] Das war die Ursache. Dennoch ist auch die Vertreibung von weit über zwölf Millionen Menschen aus den Gebieten des ehemaligen Deutschlands und heutigen Polens natürlich ein Unrecht und auch das muss benannt werden«. Interview im ARD-Morgenmagazin vom 01.09.2009. http://pdstream.babiel.com/bpa/20090901_merkel.mp4. Dass sie dabei mit völlig übertriebenen Zahlen hantiert, scheint ihr offenbar noch nicht einmal peinlich zu sein. Selbst konservative HistorikerInnen sprechen nur von knapp sieben Millionen deutschen »Vertriebenen« aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten. Doch auch diese Zahl ist, genau wie der Begriff »Vertreibung« nicht nach wissenschaftlichen Kriterien, sondern nach politischen Interessen definiert. Zum Umgang mit übertriebenen Opferzahlen im deutschen Erinnerungsdiskurs vgl. Robert ?urek, Wie viele Vertreibungsopfer?, in: Zentrum für Historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften (Hg.), 1. September 1939 – 2009. Ein deutsch-polnischer Erinnerungsort?, Berlin 2009, 25-34, http://www.cbh.pan.pl/images/stories/pliki/pdf/Publikacje/broszura_1939_2009_dodtek.pdf. Mithilfe der Vokabel ›Unrecht‹ werden im deutschen Opferdiskurs vermehrt in relativierender Weise sowohl Vertreibungen als auch der von den Deutschen begangene Vernichtungskrieg gefasst.

Kritik an solchen Äußerungen wird allenfalls noch im Ausland artikuliert. Kommt sie aus Polen, wird sie hierzulande schnell als Überempfindlichkeit abgekanzelt – ein Ausdruck deutscher Selbstgerechtigkeit. Dennoch gibt es bei der Bundesregierung ein Bemühen, Kratzer am »Ansehen Deutschlands« zu vermeiden. In mehreren Konsultationen wurde der polnischen Regierung unter Premier Donald Tusk das Versprechen abgerungen, das Stiftungsvorhaben nicht öffentlich zu kritisieren. Dieses Stillschweigen wurde in Deutschland zugleich als deutsch-polnisches Einvernehmen verkauft. Allein, es gelang nicht, die gewünschten polnischen Alibi-VertreterInnen aufzutreiben. Ein für Dezember 2008 geplantes wissenschaftliches Symposium, sozusagen die Auftaktveranstaltung der Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung, wurde gar abgesagt, weil keine polnischen HistorikerInnen daran teilnehmen wollten.

Teil der Absprache mit der polnischen Regierung war vermutlich das Versprechen, dass Erika Steinbach nicht dem Stiftungsrat angehören wird. Insofern ist das Motto »Steinbach verhindern« zur außenpolitischen Staatsräson geworden. Allerdings will sich die Union weiter dem deutsch-nationalistischen Wählersumpf anbiedern und überlässt es daher der FDP, diese Message auch klar zu formulieren.

 Eine inhaltliche Auseinandersetzung über Inhalt, Sinn und Zweck der geplanten Stiftung hat es – anders als 2003 – weder im Bundestag noch in den deutschen Medien gegeben. Stattdessen wird, alle paar Monate aufs Neue, eine Stellvertreter-Debatte über die Frage geführt, ob Erika Steinbach nun dem Stiftungsrat angehören soll oder nicht. Der hysterische Ton in vielen Artikeln und LeserInnenbriefen, die sich jegliche Einmischung von polnischer Seite in diese »deutsche Angelegenheit« Erika Steinbach, Stiftung ist eine deutsche Angelegenheit, Interview mit stern.de, 22.11.2009, http://www.stern.de/politik/deutschland/erika-steinbach-stiftung-ist-eine-deutsce-angelegenheit-1523366.html. verbitten, sagt einiges darüber aus, wie weit revisionistisches Gedankengut und antipolnische Ressentiments in der deutschen Gesellschaft verbreitet sind. Für viele Deutsche scheint es nach wie vor völlig inakzeptabel zu sein, dass Polen als souveräner Staat und gleichberechtigtes EU-Mitglied auch eigene Interessen wahrnimmt. Den Argumenten, die nicht nur von polnischer Seite vorgebracht werden, wird jedenfalls kaum Gehör geschenkt. Stattdessen wird ›den Polen‹ unterstellt, Erika Steinbach völlig ohne Grund zu hassen, die eigene Täterschaft nicht anerkennen zu wollen und überhaupt überempfindlich zu reagieren, sobald es um ›die Geschichte‹ geht.

In Deutschland besteht ein parteiübergreifender Konsens (mit Ausnahme der LINKEN), dass es eine zentrale Erinnerungsstätte für die deutschen »Vertriebenen« geben muss. Abgesehen von vereinzelten Kommentaren in linksliberalen Medien gibt es keine nennenswerte Kritik mehr, weder am inhaltlichen Konzept, noch an der rein deutschen Trägerschaft, geschweige denn an der Beteiligung des BdV.

 Was genau aber soll unter dem Dach der Stiftung passieren? Das noch von der Großen Koalition verabschiedete Konzept sieht als Kernstück eine Dauerausstellung vor, die im Berliner Deutschlandhaus, unweit des Potsdamer Platzes gezeigt werden soll. Mit dem Umbau des Hauses wurde begonnen, die bisherigen MieterInnen, darunter die Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas, müssen ausziehen. Offiziell soll die Dauerausstellung sich an der vom Bonner Haus der Geschichte (HDG) konzipierten Ausstellung Flucht, Vertreibung, Versöhnung Erich Später, »Vollkommen rehabilitiert«, in: Phase 2, 29/2008. orientieren. In dieser wurden der Nationalsozialismus und der deutsche Vernichtungskrieg zum Vorspiel der Vertreibung der Deutschen degradiert. Entsprechend sollen in der geplanten Dauerausstellung Flucht und Vertreibung der Deutschen einen Hauptakzent bilden. Von anderen Hauptakzenten ist wohlgemerkt nicht die Rede – lediglich von einer Einbettung in den »Kontext europäischer Vertreibungen im 20. Jahrhundert«. Diese schwammige Formulierung lässt vermuten, dass die Dauerausstellung auch Elemente der Ausstellung Erzwungene Wege enthalten wird, die das Zentrum gegen Vertreibungen 2006 in Berlin zeigte. Vertreibungen wurden als universelles Übel meist totalitärer Staaten dargestellt, unter dem millionenfach ZivilistInnen zu leiden hatten – die Deutschen wurden so zu einem Glied in einer langen Kette von unschuldigen Opfern.

Formal hat die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung im Juli 2009 ihre Arbeit aufgenommen. Viel scheint allerdings noch nicht passiert zu sein. Die inhaltlichen Planungen gehen noch nicht über die Konzeptpapiere hinaus, die bereits bei der Stiftungsgründung vorlagen. Allerdings wurden inzwischen einige wichtige Personalentscheidungen getroffen, die auch als politische Weichenstellungen angesehen werden können:

 Zum Direktor der Stiftung ist im Juli 2009 Professor Manfred Kittel, ein jungkonservativer Zeithistoriker, der lange Zeit am Münchener Institut für Zeitgeschichte und an der Universität Regensburg tätig war, ernannt worden. In seiner Dissertation kritisierte er die »Legende von der Zweiten Schuld« und attestierte der Bundesrepublik in der Ära Adenauer eine hervorragende Bewältigung der NS-Vergangenheit. Manfred Kittel, »Die Legende von der ›Zweiten Schuld‹«, Vergangenheitsbewältigung in der Ära Adenauer, Berlin 1993. Für seinen neuen Job qualifiziert hat sich Kittel mit einem Buch mit dem Titel Vertreibung der Vertriebenen. Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961–1982) (2007). Manfred Kittel, Vertreibung der Vertriebenen? Der historische deutsche Osten in der Erinnerungskultur der Bundesrepublik (1961-1982). München 2007. Darin behauptet Kittel, der »erinnerungskulturelle Paradigmenwechsel« ab den 1970er Jahren – sprich das wachsende Bewusstsein für den Vernichtungscharakter des Nationalsozialismus – habe in der BRD »Züge einer zweiten, geistigen Vertreibung der Vertriebenen« angenommen. ebd., S. 183. Kittel stellt die »Vertriebenen« als Opfer der Erinnerung an den Nationalsozialismus dar, ohne auf die offen revanchistische Politik der Landsmannschaften und ihre konsequente Verdrängung der NS-Zeit einzugehen. Seine These, die Themen Flucht und Vertreibung und Deutscher Osten wären jahrzehntelang nicht öffentlich thematisiert worden, widerlegt Kittel durch seine ausführliche empirische Darstellung dabei selbst. K. Erik Franzen, »Wer hat Angst vorm ›deutschen Osten‹«?, in: Frankfurter Rundschau, 31.01.2007. Wissenschaftlich wie politisch ist Kittel also ein treuer Verbündeter des BdV. Zwar gehört er nicht zu den offiziellen UnterstützerInnen des Zentrums gegen Vertreibungen, er ist aber erklärter Befürworter eines nationalen Vertreibungszentrums in Berlin. Kurt Nelhiebel, »Die Entkopplung von Krieg und Vertreibung. Zu Manfred Kittels Deutung der jüngeren europäischen Geschichte, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft«, Heft 1/2010, 54-69. Kein Wunder also, dass auch die neurechte Junge Freiheit voll des Lobes über Kittels Berufung war.

 Neben dem Direktor entscheidet vor allem der 13-köpfige Stiftungsrat über die inhaltliche Ausrichtung der Dauerausstellung. Diesem gehören, ähnlich wie bei staatlichen NS-Gedenkstätten, VertreterInnen des Bundestages, der Bundesregierung sowie dreier konfessioneller RepräsentantInnen an. Als »Opferverband« sind drei Sitze für den BdV vorgesehen - mehr als für jede andere Organisation. Der Stiftungsrat hat durchaus Mitglieder, die ihre Differenzen mit dem BdV haben, wie etwa die SPD-Bundestagsabgeordnete Angelica Schwall-Düren (SPD-Bundestagsfraktion) oder der Hamburger Weihbischof Hans-Jochen Jaschke. Der Katholik, der sich selbst als »Schlesier« bezeichnet, protestierte kürzlich öffentlich gegen den Alleinvertretungsanspruch des BdV – dieser spreche nicht in seinem Namen. Hans-Jochen Jaschke, »Nicht in meinem Namen«, Die Zeit, 3/2010, 17.01.2010, http://www.zeit.de/2010/03/P-Vertriebene. Allerdings wurde niemand in den Stiftungsrat berufen, der oder die droht, die erinnerungspolitischen Zielsetzungen der Stiftung zu hinterfragen – mit Ausnahme von Salomon Korn (Zentralrat der Juden) vielleicht – doch auch dessen Kritik richtete sich bisher eher gegen den BdV als gegen die Stiftung selbst.

 Neben dem Stiftungsrat gibt es in der Stiftung noch einen wissenschaftlichen Beraterkreis. Anders als bei solch rein beratenden Gremien üblich scheint die wissenschaftliche Kompetenz allerdings nur bedingt ein Kriterium bei der Auswahl der Mitglieder gewesen zu sein. In einigen Fällen scheint eher die richtige politische Einstellung ausschlaggebend gewesen zu sein: Allein vier der acht Beiratsmitglieder sind offizielle UnterstützerInnen des Zentrums gegen Vertreibungen. Eine Aufstellung der Mitglieder befindet sich auf der (vorläufigen) Website der Stiftung unter http://www.dhm.de/sfvv/wissenschaftlicher_beraterkreis.html.

 Ein weiteres Mitglied, Matthias Stickler, schrieb eine affirmative Verbandsgeschichte des BdV bis 1972. Darin lobte er die demokratisierende Wirkung der Vertriebenenverbände, die die »Mehrheit der alten nationalen Rechten in die Bonner Demokratie« integriert hätten. Zudem sei »in den Spitzenpositionen der Vertriebenenverbände der Anteil entsprechend belasteter Personen [gemeint sind Mitläufer, Nutznießer und Anhänger des NS-Regimes, d. A.] keineswegs überdurchschnittlich hoch« gewesen. Matthias Stickler, Ostdeutsch heißt Gesamtdeutsch. Organisation, Selbstverständnis und heimatpolitische Zielsetzungen der deutschen Vertriebenenverbände 1949-197, Düsseldorf 2004. Wissenschaftlichen KritikerInnen der Vertriebenenverbände unterstellt Stickler eine »Politisierung des Erkenntnisinteresses«. Kein geringerer als Manfred Kittel attestiert hingegen Stickler selbst, »couragiert Position zu beziehen« und »das Standardwerk zur Geschichte des BdV« geschrieben zu haben. Matthias Stickler: »Ostdeutsch heißt gesamtdeutsch«, in: sehepunkte 5/ 2005, http://www.sehepunkte.de/2005/05/7149.html.

 In den Beirat berufen wurde Stickler erst nachdem Kittel seinen Posten übernommen hatte. Vorher sollte auf seinem Platz die Erfurter Professorin Claudia Kraft sitzen. Als eine der wenigen (potenziellen) Beiratsmitglieder, die wirklich wissenschaftliche Expertise zum Thema Zwangsmigration für sich in Anspruch nehmen kann, steht Kraft allerdings dem Stiftungskonzept generell sehr skeptisch gegenüber und hat dementsprechend ihr Beiratsmandat gar nicht erst angenommen. Claudia Kraft im Interview mit Deutschlandradio Kultur, 14.12.2009. Bei anderen Beiratsmitgliedern schien es der Stiftung wiederum darum zu gehen, dem gesamten Projekt zusätzliche Legitimität zu verschaffen. Zumindest darf man sich fragen, was etwa Raphael Gross, Leiter des Jüdischen Museums sowie des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt am Main oder Silvio Peritore, Leiter des Dokumentations- und Kulturzentrums deutscher Sinti und Roma, bewogen hat, in das Gremium einzutreten.

 Außerdem soll der wissenschaftliche Beraterkreis zumindest den Anschein erwecken, das Thema Zwangsmigration würde in der Stiftung aus einer europäischen Perspektive betrachtet – jeweils ein Mitglied kommt aus Tschechien, Polen und Ungarn. Der ungarische Vertreter, der Historiker Krisztián Ungváry, ist hierzulande bekannt geworden durch seine totalitarismustheoretisch inspirierte Fundamentalkritik an der ersten Wehrmachtsausstellung. Vgl. »Reemtsmas Legenden. Nicht nur Bilder können lügen«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.11.1999. Polen entsandte einen der renommiertesten polnischen Historiker und anerkannten Experten für die Geschichte der deutschen Besatzung, Tomasz Szarota. Doch nach der ersten Sitzung des wissenschaftlichen Beraterkreises, die erst im Dezember 2009 stattfand, erklärte er seinen Rückzug. Für einige deutsche PolitikerInnen kam das überraschend, in der Stiftung war man peinlich berührt, doch Szarotas Begründung ist ebenso einfach wie nachvollziehbar: »Die Stiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung ist ein Klon des Zentrums gegen Vertreibungen.« Er habe nicht geahnt, so Szarota, dass »sich die Bundesregierung das Geschichtsbild des BdV so sehr zu eigen gemacht hat«. »Da kann ich als Pole nicht helfen« Interview mit Tomasz Szarota, tageszeitung, 19.01.2010.

 Szarotas Rückzug war auch eine indirekte Reaktion auf den Brief einer Gruppe von Europaabgeordneten der CDU und CSU. Darin wurde die Bundesregierung in Anspielung auf den Streit um Äußerungen von Erika Steinbach gefragt, ob »Erkenntnisse über mögliche Taten, Aktivitäten oder Äußerungen von polnischen Beiratsmitgliedern vor[liegen], die einer Berufung in den Beirat entgegenstehen könnten«. »CDU-Parlamentarier blamiert sich mit Steinbach-Brief« 08.12.2009 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,665696,00.html. Angesichts der Tatsache, dass Szarota der einzige polnische Vertreter in sämtlichen Stiftungsgremien ist, mutet die Frage nicht nur borniert an. Sie ist zudem plattester Geschichtsrevisionismus; schon ein Blick auf Wikipedia verrät, dass Szarotas Vater von deutschen Besatzungstruppen erschossen wurde. Doch Folgen dieses Briefes? Keine.

 In die Mediendebatte über Erika Steinbach passte der Brief indes hervorragend. Immerhin hat die BdV-Präsidentin es mit ihrer Sturheit (innerhalb von nur zwei Jahren wird nun zum vierten Mal über ihren Sitz im Stiftungsrat diskutiert) geschafft, dass einige KommentatorInnen nicht mehr nur ihren Rückzug fordern, sondern auch über ihre Person hinaus den BdV und seine Politik mit etwas kritischeren Augen sehen. Erstmals seit Jahren machten sich im Januar 2010 gleich mehrere JournalistInnen daran, die immer noch auf der Website des BdV verkündete Zahl von »rund zwei Millionen Mitgliedern« http://www.bund-der-vertriebenen.de/derbdv/struktur-1.php3.>http://www.bund-der-vertriebenen.de/derbdv/struktur-1.php3. zu überprüfen: Eine Telefonumfrage der Nachrichtenagentur ddp ergab eine Mitgliederzahl von rund 550.000 in den Mitgliedsverbänden des BdV. »Präsidentin von 550 000 statt Millionen«, 06.01.2010, http://www.focus.de/politik/deutschland/erika-steinbach-praesidentin-von-550-000statt-millionen_aid_468285.html. Interne Aufstellungen des BdV gehen nach Informationen des Deutschlandfunks sogar nur noch von gut 100.000 zahlenden Mitgliedern aus. Otto Langels, »Der lange Weg der Versöhnung, Erika Steinbach, die Politik und die Vertriebenenverbände» 05.01.2010, http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/1099348/.

 Auch wenn es so scheint, als wenn Steinbach mit ihren übertriebenen Forderungen ihre Sympathien bei großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit verspielt hat, kann von einer kritischen Haltung gegenüber dem BdV nach wie vor keine Rede sein. Weder das Selbstverständnis des BdV als »Opferverband« , noch sein völlig übertriebener politischer Einfluss und die üppige (und für den BdV existenzielle) staatlichen Finanzierung werden hierzulande systematisch hinterfragt oder gar infrage gestellt. Das gilt in besonderem Maße für die bisher völlig fehlende Aufarbeitung der NS-Vergangenheit zahlreicher Vertriebenenfunktionäre und des Revanchismus, dem sie sich in der Nachkriegszeit verschrieben. Das beste Beispiel hierfür ist die 1950 verkündete Charta der deutschen Heimatvertriebenen. Zur Erinnerung: Ein guter Teil der ErstunterzeichnerInnen waren überzeugte NationalsozialistInnen, einige von ihnen bis 1945 mitverantwortlich für die nationalsozialistische Volkstumspolitik. Vgl. Erich Später, »Gez. NSDAP, SA und SS«, in: konkret, 4-6/2004, sowie Micha Brumlik, Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen. Berlin 2000. Eben jene Ex-Nazis verzichteten nun in der Charta großzügig »auf Rache und Vergeltung«. Gleichzeitig erklärten sie die »Heimatvertriebenen« zu den »vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen« und mahnten die Mitverantwortung der »Völker der Welt« an. In der Lesart von Steinbach, aber auch von Angela Merkel wird aus so einer revanchistischen Kampfschrift ein »Dokument der Versöhnung«. Rede der Bundeskanzlerin auf der Veranstaltung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion »60 Jahre Vertreibung – 60 Jahre Wege zur Versöhnung«, 18.09.2006, <link http://www.bundesregierung.de/nn_1514/Content/DE/Bulletin/2006/09/84-1-bk-60-jahe.html.>http://www.bundesregierung.de/nn_1514/Content/DE/Bulletin/2006/09/84-1-bk-60-jahe.html. Spätestens am 5. August 2010, wenn der BdV den 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Charta feiert – dürften die Differenzen zwischen Merkel und Steinbach also überwunden sein.

 Der Historikerin Eva Hahn zufolge ist solch eine Geschichtsklitterung durchaus als ein neuer historischer Revisionismus zu bezeichnen. Im Gegensatz zum klassischen Revisionismus wird nicht versucht, den Nationalsozialismus zu rehabilitieren, sondern es wird sich brav von ihm distanziert. Der Holocaust wird nicht geleugnet, sondern seine Singularität betont. Doch indem die VertreterInnen des neues Revisionismus »die Alliierten ähnlicher Verbrechen mit derselben ideellen Grundlage bezichtigen, indem sie den Nazismus als ein normales Phänomen innerhalb der europäischen Geschichte darstellen, indem sie die Unschuld der Opfer der Vertreibung behaupten […] erreichen die Verfechter der neuen Geschichtsschreibung jedoch die gleichen Ziele wie durch die klassischen Erzählungen, die von den neonazistischen Revisionisten verbreitet werden: eine Umschreibung der europäischen Geschichte des 20. Jahrhunderts, wie sie seit dem Zweiten Weltkrieg von den meisten Europäern verstanden wird.« Eva und Hans Henning Hahn, »Die Holocaustisierung des Flucht- und Vertreibungsdiskurses«, in: Deutsch-Tschechische Nachrichten, 8/2008, 20-21, http://www.deutsch-tschechische-nachrichten.de/dtn_dossiers/dtn_dossier_07.pdf.

 Das Unerträgliche an diesem neuen Revisionismus ist, dass er – anders als noch vor zehn Jahren – kaum noch eine öffentliche Debatte auslöst. Die dahinter liegenden Vorstellungen werden bei Weitem nicht nur von AnhängerInnen des BdV oder der Unionsparteien geteilt. Ein Beispiel dafür ist der ARD-Zweiteiler Die Flucht (2007). Laut Senderangaben war der Film mit über 13 Millionen ZuschauerInnen die erfolgreichste ARD-Produktion seit Jahren. In Form einer Liebesgeschichte zwischen einer ostpreußischen Gräfin und »ihrem« französischen Zwangsarbeiter wird die Auflösung sämtlicher Gegensätze zwischen TäterInnen und Opfern, zwischen jeglichen Klassen und Nationen abgefeiert. Am Ende – und hier schließt der Film nahtlos an den pervertierten Versöhnunsbegriff an – zählt nur die »gemeinsame Trauer« um die Toten – schließlich sind ja alle irgendwie Opfer. Eine ausführlichere Analyse des Films erscheint demnächst in der Broschüre des AGI.

~ Von Lars Breuer. Der Autor ist Mitglied des Arbeitskreises Geschichtspolitische Interventionen (AGI) in Berlin. Der AGI führte 2009 mehrere Veranstaltungen zum Diskurs um das Vertreibungszentrum durch. Eine Dokumentation dieser Veranstaltungen erscheint in Kürze.