Ärger im Identitätsparadies

Die anständigen und die hässlichen Popdeutschen

Vermutlich sind Albumcharts aussagekräftiger als Singleplatzierungen, weil sie Auskunft darüber geben, was sich die Leute mit Muse und in voller Länge anhören (statt es bloß als hübsche Melodie aus dem Radio mitzusummen). Sie zeigen, aus welchen Bestandteilen sie sich ihre ganz private Identität bauen. Wie einstmals der Bücherschrank sind Plattensammlung, CD-Regal und das Beladen des Ipods Ausdruck des kulturellen Selbst.

Dass die Albumcharts sich heute fest in deutscher Hand befinden, mag daher ein Trost sein für die, die gegen Ende des letzten Jahrhunderts noch im verbissenen Feldzug gegen »ausländischen Schund« (Heinz-Rudolf Kunze) von der deutschen Radioquote träumten. Ihr Kampf um programmpolitische Schutzzölle für Produkte aus heimischer Schollenhaltung wurde aber nicht bloß um Wirtschaftsfaktoren und den Standort geführt. Wer ihnen volkswirtschaftlichen Pragmatismus unterstellte, verkannte, dass aus ihnen der Wunsch nach deutscher Popidentität sprach – als zeitgemäße Maßnahme des nation building.

Reedutainment

Typen wie Heinz-Rudolf Kunze hatten lange darunter gelitten, dass ihnen die Heimat (als wetterfeste Garage für ihre deutsche Seele) vorenthalten wurde. Deren Konstruktion war schwierig, weil in ihr ja auch irgendwie Auschwitz untergebracht werden musste. Der Identitätsverlust war die gerechte Strafe für die deutschen Verbrechen, das wusste natürlich auch Kunze. Als Chance, Befreiung oder zivilisatorischen Fortschritt konnte er ihn trotzdem nicht begreifen; denn etwas fehlte, wie er schon bemerkt hatte, als er noch als verquaster, aber letztlich harmloser linker Liedermacher durchgewunken werden konnte: »Deutschland/Ich vermiss’ dich«, raunte er 1984 in weinerlichem Tonfall in einem Song – oder besser: Lied mit dem dröhnend nachdenklichen Titel »Deutschland (Verlassen von allen guten Geistern)«.

In der alten BRD hatten sich die Heinz-Rudolf Kunzes nie wirklich zuhause gefühlt. Ihnen war sie keine Heimat, sondern ein künstlich am Verhandlungstisch geschaffenes, wurzelloses Gebilde, das nicht auf Blut und Boden, sondern auf dem Papier alliierter Verträge errichtet wurde. In einem gewissen Sinne war die alte BRD also durchaus utopisch: ein Deutschland ohne Deutschland, nach innen zerrissen, nach außen beflissen. Selbst die Nationalmannschaft blickte beim Abspielen der Hymne betreten zu Boden.

Als die Heinz-Rudolf Kunzes ihr Deutschland dann endlich zurückbekommen hatten, konnten sie trotzdem nicht gleich zur Tagesordnung übergehen. Es musste nämlich erst noch neu erfunden werden. Irgendwer kam dabei auf die Idee, dass das neue Deutschland ein Popdeutschland sein müsse. Ein genialer Schachzug, denn erstens fettete Pop die spießige Idee der Nation mit Weltoffenheit und Glamour auf. Zweitens war er dank der Gnade der späten Geburt – und anders als Goethe, Schiller oder Wagner – nicht mit dem Makel des Nationalsozialismus behaftet (auch wenn an seiner Peripherie bereits Nazipopentwürfe kursierten). Drittens hatte Pop ohnehin die Hochkultur abgelöst und dabei eine ihrer wichtigsten Funktionen übernommen: die nationale Identitätsstiftung. Ausschlaggebend dürfte aber gewesen sein, dass Pop der Inbegriff glücklich absolvierter Entnazifizierung war. Mit ihm hatten die Alliierten die Kinder von Hitler und Endsieg gründlich umerzogen. Er war ein neues, vollkommen undeutsches Lebensgefühl, und nicht bloß eine Demutsgeste, wie jenes Lippenbekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung, das alten Nazis die Möglichkeit gab, ihre Karrieren unter neuen politischen Vorzeichen weiter zu treiben.

Durch Pop konnten sich deutsche Kids als Teil der Weltgemeinschaft fühlen, indem sie die gleichen Platten hörten, die gleichen Frisuren trugen und die gleichen Gesten aus den gleichen Hollywoodfilmen einstudierten wie alle anderen auch. Das war tatsächlich ein Neuanfang, zumindest solange Pop ein Symbol kultureller Besatzung blieb, und jene Form von Überfremdung, die junge Deutsche nicht als Strafe, sondern als Glück erlebten. Ihn einzudeutschen, verbot sich daher lange Zeit von selbst. Dass die deutsche Sprache für Popmusik gänzlich ungeeignet sei, war ein common sense, der erst mühsam abgetragen werden musste, um endlich wieder so unverkrampft und selbstbewusst deutsch singen zu können, wie es heute wieder üblich geworden ist.

Popdeutschland

Erst als Popkulturnation konnte Deutschland endlich auch wieder Kulturnation sein. Die musste nur noch 16 Jahre Helmut Kohl’sche Popferne überstehen. Mit der rot-grünen Regierung kam dann eine neue politische Klasse an die Macht, die selbst schon eine amtliche Popsozialisation durchlaufen hatte und, wie Gerhard Schröder, freundschaftlichen Umgang mit Popacts pflegte oder, wie die ehemalige Ton Steine Scherben-Managerin Claudia Roth, selbst aus der Popwirtschaft kam. Warum trotzdem ausgerechnet Sigmar Gabriel (der in all der rot-grünen Unverkrampftheit immer ein bisschen wie ein übrig gebliebener Ziehsohn von Helmut Kohl wirkte) zum Popbeauftragten ernannt wurde, soll ihr Geheimnis bleiben. Jedenfalls wurden Pop und Popkompetenz (die ja offensichtlich sogar Gabriel zugetraut wurde) über Nacht zur Staatsraison und zum integralen Bestandteil einer neuen deutschen Subjektivität. Das einzige, was jetzt noch fehlte, war deutsche Popmusik, die Popdeutschland repräsentieren konnte. Leute wie Herbert Grönemeyer oder Kunze fühlten sich angesprochen, aber ihre unglaublich seltsame Verkrampftheit, die sie nicht nur vom angloamerikanischen, sondern auch von französischem oder italienischem Pop unterschied, war irgendwie noch immer Ausdruck einer postnazistischen Identitätskrise. Aus ihnen sprach keine coole, parkettsichere deutsche Popidentität. Als halbherzig zu Pop konvertierte Liedermacher blieben sie deutsches Sonderformat, das noch immer altbacken und plump wirkte. Ein Missstand, mit dem die deutsche Popindustrie in nur wenigen Jahren gründlich aufgeräumt hat. Heute sind die deutschen Albumcharts ein Marktplatz stimmiger Identitätsangebote. Die biederrockistischen Toten Hosen stehen dort in einträchtigem Konkurrenzkampf neben dem sanft modernisierten Schlager von Helene Fischer und Andrea Berg, deutschem Gangsterrap, den Bombastpopblähungen von Unheilig und dem gefühligen Indiepop von Thees Uhlmann oder Jupiter Jones. Natürlich hört sich das alles immer auch ein bisschen gleich an; die Toten Hosen klingen wie Andrea Berg mit Gitarren und Jupiter Jones wie Unheilig mit Abitur. Aber vielleicht muss das auch so sein, weil sie sich alle um das gleiche bewerben: die deutsche Seele und ihre Kaufkraft.

Sie alle haben jedenfalls verstanden, wie zielgruppengerecht aufbereitete Popwaren funktionieren. Nichts, was sie tun, wirkt mehr unfreiwillig eigenständig – also so falsch, ungelenk und beknackt, wie es Kunze oder Grönemeyer nie abstreifen konnten. Auf ihr langweilig-perfektes Einerlei darf Popdeutschland zu Recht stolz sein (statt sich weiterhin für Grönemeyer schämen zu müssen): Endlich haben auch wir internationales Radioformat!

Deutschrock ist Leidenschaft

Aufgeschreckt wird die post-post-nazistische Popidylle allenfalls dadurch, dass sich neuerdings auch der hässliche Deutsche in Gestalt einer Südtiroler Deppenband wieder zu Wort meldet, und es damit zu vollen Hallen, goldenen Schallplatten und Echo-Nominierungen bringt. Frei.Wild stören den Popfrieden, weil sie sich keinen Deut um die komplizierten Codes des neuen deutschen Selbstverständnisses scheren. Das gehört zum Lieferumfang ihres Rebellentums. Wie rechts sie nun eigentlich genau sind, darüber darf aktuell noch spekuliert werden. Fest steht, dass Sänger Philipp Burger noch vor wenigen Jahren mit den Kaiserjägern typischen Rechtsrock verzapft hat. Zitat: »Diese Neger und Yugos werden sesshaft/Doch den größten Teil der Schuld tragt nun mal ihr/Weshalb hab’n wir auch dieses Gesindel hier«. Allzu offenen Formen von Rassismus ist er mit Frei.Wild zwar entwachsen, aber Heimatliebe und Patriotismus zu Mitgrölrefrains einzudampfen, will er sich trotzdem nicht nehmen lassen. Aus dem Repertoire neurechter Legitimationsstrategien bedient er sich erschreckend souverän, zum Beispiel indem er sein Publikum immer mal wieder zu »Nazis raus!«-Chören animiert. Die bandeigene Webseite versteht Frei.Wild als »Gegenkultur, deren Protest darin besteht, sich von einer künstlich und abstrakt gewordenen Unterhaltungsindustrie nichts mehr vormachen lassen zu wollen«. Als Grauzonenband agieren sie also in jener unübersichtlichen Sparte, die sich zwischen »Entartete Kunst«-Ausstellung und der Kuschelkapitalismuskritik der DIY-Szene auftut. Sie verkaufen eine von keinerlei Reflexion getrübte Authentizität, nach der eine gewaltige Nachfrage zu bestehen scheint. Thomas Kuban, der Jahre lang undercover in der rechten Musikszene recherchiert hat, bezeichnet ihre Musik als »Identitätsrock«. Zur Logik der Identität gehört es, all das abzuwehren, was sie bedroht oder in Frage stellt. Bei Frei.Wild ist das vor allem eine floskelhaft angeprangerte Kultur der political correctness, die ihnen den Mund verbieten möchte. Das unverfälscht Echte lässt sich aber nicht an die Kandare nehmen, schon gar nicht von gesellschaftlichen Spielregeln oder zivilisatorischen Mindeststandards. Denen wird ein flexibler Heimatbegriff entgegengesetzt, der in einem Moment den correctnesshalber untersagten Nationalstolz und im nächsten dann doch nur die liebevolle Verbundenheit mit dem eigenen Talkessel meinen kann. In seinem Zentrum steht die Band als eingeschworene Gemeinschaft, die innere Haltung und äußere Erscheinung, Herz und Kalkül zur Übereinstimmung bringt: »Deutschrock ist Leidenschaft«, heißt einer ihrer Songs, ein anderer »Wahre Werte«. Und die sind bekanntlich das Schmiermittel der Identität. Als Wert ist Frei.Wild eigentlich nichts zu blöd, solange es Wirgefühl erzeugt: »Sprache, Brauchtum und Glaube sind Werte der Heimat/Ohne sie gehen wir unter, stirbt unser kleines Volk« (»Wahre Werte«). Strukturell sind solche Werte in jedem Fall rechts, egal welches Kollektiv sich auf sie bezieht und auch unabhängig davon, ob Frei.Wild auch bereit wären, die Hand gegen die Ungläubigen zu erheben, um den drohenden Volkstod abzuwenden, oder ob es ihnen dann doch genügt, Sprache, Brauchtum und Glaube bloß zu Post-Oi-Stadionrock zu verwursten.

Pop statt braun

NPD-Funktionäre jedenfalls wissen das emotionale Mobilisierungspotential von Frei.Wild zu schätzen, auch wenn (oder gerade weil) sie dann eben doch nicht ganz auf Parteilinie sind. Damit spielen sie geschickt dem allgemeinen Alarmismus in die Hände. Denn natürlich ist der Erfolg von Frei.Wild eine kleine PR-Katastrophe für die neuen Popdeutschen, die doch (diesseits von Public Viewing und der schwarz-rot-goldnen Partydroge Testosteron) so gerne unbedenklich sein möchten. Andererseits ist er auch eine Chance, um zum Aufstand der Anständigen zu blasen. Die guten Popdeutschen brauchen die hässlichen, um sich öffentlichkeitswirksam von ihnen zu unterscheiden. Der Erfolg von Frei.Wild mag beängstigend sein, aber letztlich haben alle etwas davon: Die ehemalige Punk- und heutige Kuschelrockband Jupiter Jones darf im ARD-Interview eine explizite Stellungnahme gegen Rechts von ihnen fordern; und Kraftklub konnten letztes Jahr im Verbund mit Mia. (die wissen, wovon sie reden, schließlich haben sie seinerzeit selbst für ihr nationales Bekennerschreiben im Popsongformat ordentlich auf die Finger bekommen) in allerletzter Sekunde ihre Einladung zur Echo-Verleihung verhindern. Dank Frei.Wild können alle beweisen, dass sie auf der richtigen Seite stehen. Und das ist aktuell noch immer die, die den Patriotismus in seine Schranken verweist, wo er allzu krachledern und geschichtsvergessen daherkommt. Ihre Empörung erinnert an die gutbürgerliche Obsession mit der NPD. Dass deren Veranstaltungen die gemütlichen Nester deutscher Klein- und Mittelstädte beschmutzen, in denen sie bevorzugt angemeldet werden, wissen wir aus tausendundeiner Presseerklärung. Die Panik, mit der darauf üblicherweise reagiert wird, steht in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang mit ihren Wahlergebnissen. Unmittelbare Gefahr geht von NPD-Parteitagen bis auf weiteres wohl eher nicht aus. Immerhin, die NPD liefert der bürgerlichen Mitte identitätsstiftende Bilder jener hässlichen Deutschen, die sie selbst schon lange nicht mehr sind. Indem ihre Mitglieder manchmal gewaltbereit und ansonsten dumpf, unartikuliert und provinziell daherkommen, geben sie eine gute Kontrastfolie für die anständigen Deutschen ab. Und wenn die ganz viel Glück haben, stellen sich NPD-Wähler_innen sogar als hitlergrüßendes Postkartenmotiv in eingenässter Jogginghose zur Verfügung. Scheiße sein und dabei auch noch scheiße aussehen – was will der bürgerliche Gelegenheitsantifaschismus mehr!

Die noch immer ungebrochene Beliebtheit dieses Bildes aus den Neunziger Jahren hat vermutlich genau damit zu tun: Es zeigt den hässlichen Deutschen als abstoßenden Proll, als jene unverbesserliche (und schon vom Styling her indiskutable) Minderheit, der die deutsche Mehrheit mutig mit Luftballons, Hüpfburgen, Bauchtanz und T-Shirts mit der Aufschrift »In braun nicht lieferbar« entgegentreten darf. Der zur Bürgerpflicht gewordene Widerstand macht sie manchmal sogar richtiggehend kreativ wie 2010 anlässlich des NPD-Parteitags in Bamberg, wo vorgeschlagen wurde, das Parteitags-Catering selbst in die Hand zu nehmen und die NPD mit türkischen Spezialitäten zu vergraulen. Derlei Störaktionen erzählen recht plastisch davon, worin sich die anständigen Deutschen von ihren unanständigen Volksgenoss_innen zu unterscheiden glauben. Denn eigentlich sind die ja die Vaterlandsverräter_innen, weil sie aus der Vergangenheit nichts gelernt haben und keine guten Deutschen sein wollen, sondern einfach nur deutsch ohne jegliche moralische Einschränkung. Bewältigte Vergangenheit sieht jedenfalls anders aus.

Als schwarzen Schafe der deutschen Familienaufstellung erfüllen NPD und Frei.Wild also eine wichtige Funktion: Gegen sie zu protestieren, kostet nichts, bringt aber etwas ein, vor allem neues deutsches Wir-Gefühl, bis im bunt-statt-braunen Einheitsbrei keine bürgerlichen Parteien mehr zu erkennen sind, sondern nur noch – frei nach Wilhelm II. – anständige Deutsche.

Heimat mit Fußnoten

Abgrenzung ist ein Mittel, um bestehende Nähe unkenntlich zu machen. Die bürgerliche Mitte kann ihren eigenen Rassismus vor sich selbst verbergen, indem sie sich über den der NPD empört, und die Vehemenz, mit der Frei.Wild problematisiert wird, soll vielleicht nur davon ablenken, dass der neue deutsche Identitätspop sich gar nicht so sehr von deren ungeschlachtem Identitätsrock unterscheidet. Beide klingen auffällig ähnlich, und beide singen im Prinzip über das gleiche: Freundschaft, Werte, Identität und Heimat, nur das die einen das zu Stampfrhythmen tun und die anderen eher leise, bedächtig, melancholisch. Letzteres beherrscht vermutlich der ehemalige Tomte-Sänger Thees Uhlman am besten. Zu Frei.Wild hat er sich bisher zwar noch nicht in googlebarer Weise geäußert, aber dass auch er tendenziell bunt statt braun fühlt, setze ich an dieser Stelle voraus. Die Heimat, von der er singt, ist immer ein wenig gebrochen und mit einer ganzen Menge Fußnoten behängt, die beweisen sollen, dass das alles doch ganz schön kompliziert ist. Für Frei.Wild ist Heimat einleuchtend und selbsterklärend, eine Sache des gesunden Menschenverstands und etwas, woran geglaubt werden muss. Sie befiehlt, und Frei.Wild folgen ihr. Das wäre so üblich, da wo sie herkommen. Niemand käme dort auf die Idee, daran etwas Schlechtes zu finden. Das sei eher ein innerdeutsches Problem. Und so weiter. Thees Uhlman kommt vom norddeutschen Dorf, wo es nicht viel zu lieben gibt, außer eben jener Popkultur, die ihn vor dem Dorf gerettet hat. Wie für viele Kids des deutschen Nachkriegs wurde sie ihm zur Ersatzheimat und hat ihn zu dem gemacht hat, was er heute ist: ein dufter Kumpeltyp, der das Herz am rechten Fleck trägt, etwas penetrant vielleicht – wie alle Egozentriker_innen –, aber durchaus unbedrohlich. Um sein zu können, was er ist, muss Uhlmann aber trotzdem wissen, wo er herkommt. »Du kriegst die Leute aus dem Dorf/Das Dorf nicht aus den Leuten«, heißt es in »Lat: 53.7, Lon: 9.11667«, einem Song, der ein Heimatsong sein möchte. Im Titel steht die geographische Position von Hemmoor, dem Dorf, aus dem Uhlmann kommt. Dass er dorthin heute wieder ohne Bitterkeit zurückkehren kann, davon erzählt wiederum »Zum Laichen und Sterben ziehen die Lachse den Fluss hinauf«, an dem vor allem das Video bemerkenswert ist, in dem er die Bilder seiner Kindheit nachstellt: Thees als Bub auf dem Wohnzimmerteppich, Thees als deutscher Indiepopper mit Gitarre auf demselben Teppich usw. Kinder, wie die Zeit vergeht! Der eigene Nachwuchs muss auch mal ins Bild laufen, weil aus dem Sohn ja längst ein Vater geworden ist. So ist das eben mit der Natur, vergleiche dazu das im Songtitel untergebrachte Biologiewissen. Eingefallen ist ihm das vermutlich beim Anschauen von »König der Löwen«. Wer Kinder hat, muss da durch, und schreibt hinterher vielleicht sogar noch einen Song über jenen ewigen Kreislauf des Lebens, den Disneyfilme neuerdings propagieren. Das kann Uhlman guten Gewissens tun, weil er sich mit den Verhältnissen, denen er entstammt, im Reinen weiß. Er hat sich ausgesöhnt, nicht nur als Sohn, der als Vater zurückkehrt, sondern als jemand, der verstanden hat, wie sich dort alles verhält, auch natürlich zur Geschichte. Vom anderen Ende der Popsozialisation, die die eigene Herkunft an den entscheidenden Stellen korrigiert, kann wieder über jenes Dorf gesungen werden, dass sich ja sowieso nicht abschütteln lässt. Sie hat alles gut gemacht und Herkunftsidentität um Popidentität ergänzt. Eine gelungene Popidentität ist natürlich jene, die die Widersprüche stimmig integriert und aus ihnen ein knuffiges Popsubjekt formt. Dass das geht, davon erzählt die Bildungsbiographie des Thees Uhlman, die er uns so gerne und immer einmal zu oft unter die Nase reibt, um das hindurch scheinende Kalkül kaschieren zu können.

Für gelungene deutsche Popidentität muss Pop sich nur von jenem Fremden, als das er in die deutschen Dörfer eingedrungen ist, in etwas Eigenes verwandeln: in jene Welt, in der sich alles um Thees Uhlmann dreht, die kleinen wie die großen Dinge. Und die sind immer nur so gut, wie das, was sie zu dessen Herzensbildung beigetragen haben. Das erklärt uns dann noch einmal »Am 7. März«, das als Geburtstagsständchen für »Mum« beginnt. Als guter Sohn hat er gegoogelt und kann ihr nun erzählen, was noch so alles los war am Tag ihrer Geburt: Kurz nach ihr erblickt Rudi Dutschke das Licht der Welt, G.I.s überqueren erstmals den Rhein bei Remagen (um die Deutschen zur Vernunft und zur Popkultur zu bringen). Obwohl unser Leben gering erscheint im Angesicht von ein paar Millionen Googlehits, sind wir doch ein Teil der Geschichte, die zu unserer eigenen wird, wenn wir aus ihr lernen. Das alles wird zu Ich, Identität und Heimat, und darüber auch jener Ort, an dem einmal der Fernseher stand, der uns das alles zuerst gezeigt hat. Das Private und das Politische treffen dabei so aufeinander, wie sich die Bewohner_innen deutscher TV-Soap-WGs gelegentlich in ihrer Designerküche begegnen. Dabei entsteht – gleichsam en passant – jene Popidentität, hinter die wir Deutschen nicht zurückkönnen, selbst wenn wir es wollten.

Leider hält Uhlmann sein Thema (»Mums« Geburtstag) nicht allzu lange durch und landet recht schnell wieder bei der bewährten Aufzählung dessen, was denn eigentlich ihn so alles geprägt hat, zum Beispiel »Walter Röhrl/Ivan Lendl/Brett Easton Ellis«. Im Video sehen wir ihn als deutsche Version von Woody Allens Zelig durch jene geschichtlichen Versatzstücke springen, die er im Song abspult: mit Dutschke diskutiert er auf einem Podium, nur um im nächsten Moment neben Mr. Cheswick in »One flew over the cuckoo« zu sitzen. Und wir verstehen: Das alles ist ein Stückchen Thees Uhlman, der es aufgenommen, verarbeitet und schließlich in Popidentität transformiert hat, auch das, was dann eben doch nicht zu ihm passen wollte: »Das erste Spiel Monopoly/Ich hab keinmal gewonnen« (weil sich deutsche Künstlerseele und schnöder Geschäftssinn nicht unter einen Hut bringen lassen.)

Inmitten all der popkulturellen Fragmente tauchen natürlich jene Lehren auf, die deutsche Popidentität eben auch irgendwo unterkriegen muss: »Mich ruft kein Vaterland/Man weiß, in was das mündet«. Oh ja, wissen wir! Am Ende gehen wieder nur Leute kaputt, die Freunde, Fans oder wenigstens Tourbassisten hätten sein können. Wir dürfen vermuten, dass Uhlmann sich ziemlich gut vorkommt, wenn er so was singt.

Und wie es sich für Identitätsmusik gehört, hat er noch ein paar Werte im Gepäck: »Solange es hell ist/Werden alle Menschen Brüder/Und das ist es was ich mag«. Dazu sehen wir jubelnde Gesamtdeutsche auf der Mauer. Ob das nun schon Gesinnung ist oder doch nur postmoderne Beliebigkeit, kann ich am Ende auch nicht sagen. Aber vermutlich ist genau das ja die Masche der neuen Popdeutschen.

 

~ Von Frank Apunkt Schneider. Der Autor ist selbsternannter Poptheoretiker und schreibt aktuell an dem Buch »Deutschpop halt’s Maul! Für eine Ästhetik der Verkrampfung«, das voraussichtlich im Herbst 2014 im Ventil Verlag erscheinen wird.