Anständig geblieben

Die Frage nach der deutschen Täterschaft im Nationalsozialismus wurde nach 1945 auf verschiedene Arten zu beantworten gesucht: In der unmittelbaren Nachkriegszeit standen vor allem Hitler und seine Funktionselite im Mittelpunkt des Interesses, verbunden war dies mit einer Dämonisierung oder gar Pathologisierung der TäterInnen. Seit dem Eichmann-Prozess im Jahr 1961 konzentrierte sich die Wahrnehmung von Beschuldigten vor allem auf ihre Funktion als Rädchen im Getriebe der NS-Bürokratie und die mehr oder minder bewusste Beteiligung an Prozessen, deren Zwecke ihnen selbst angeblich unbekannt waren. Spätestens mit den Veröffentlichungen von Christopher Browning und Daniel Goldhagen über ganz normale Männer bzw. Deutsche wendet sich die Forschung vermehrt dieser umfassenden TäterInnengruppe zu und auch die Motive bloßer ZuschauerInnen werden vermehrt untersucht.

Das Buch von Raphael Gross Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral lässt sich innerhalb dieser jüngsten Entwicklung verorten. Sein Versuch, den Nationalsozialismus unter der Perspektive moralischer Urteile zu erforschen und »in eine Moralgeschichte einzubinden«, setzt sich zum Ziel, »vor allem die alltägliche NS-Moral zu analysieren«. Dabei geht es zunächst nicht um die moralische Beurteilung der Handlungen von Akteuren nach 1933. Gross macht die Moral vielmehr selbst zum Objekt der Analyse und fragt, welche Rolle ihr in der Bereitstellung der »internen Bindekräfte der nationalsozialistischen ›Volksgemeinschaft‹« zukam, mit welchen moralischen Gefühlen sie verknüpft war und wie sie als spezifisch nationalsozialistische nach 1945 fortwirkte. Als Moral versteht er zunächst Regelmäßigkeiten im Verhalten, die auf sozialem Druck beruhen. Dieser Druck zeige sich in wechselseitigen Verpflichtungen und Forderungen, die als jeweils gut begründet gelten und durch spezifische moralische Gefühle (Empörung, Groll, Scham) abgestützt werden. Nun zeichnete sich die NS-Ideologie durch die Verwendung einer Vielzahl moralischer Begriffe bzw. Begriffe mit »einer starken moralischen Aufladung: Ehre, Treue, Anstand, Kameradschaft etc.« aus. Auch die Biologisierung des Sozialen mittels Rassenlehren war darauf angewiesen, dass empirische Behauptungen eine moralische Bewertung erfuhren. Gross, der sich selbst in die Tradition der Intellectual History [dt. Ideengeschichte] einordnet, untersucht daher die Entstehung, Transformation und Verankerung der Struktur moralischer Gefühle im Dritten Reich und ihre Kontinuität in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Dabei spürt er der historischen Semantik von Begriffen wie Schande, Schuld und Anstand nach.

In Anlehnung an den Philosophen Ernst Tugendhat unterscheidet Gross zwischen partikularer und universaler Moral und attestiert dem NS eine Form der ersteren. Sie zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass eine Begründung für Wertungen nicht gegenüber allen Menschen erfolgt oder explizit verweigert wird. Damit wird eine Herangehensweise an den Nationalsozialismus und seine Verbrechen zurückgewiesen, die beide per se als absolut böse und amoralisch auffasst, sich so aber die Möglichkeit verstellt, genaueres über die Selbstverständnisse der deutschen TäterInnen und MitläuferInnen zu erfahren.

Gross legt keine systematische Monographie zum Thema vor. In einzelnen, zum Teil schon publizierten, Forschungsbeiträgen widmet sich der Autor dem Thema der »Rassenschande« und ihrer Behandlung vor Gerichten vor und nach 1945, dem Verhältnis von Hitlers Politik zum Christentum und der Interpretation des Ehre-Begriffes in zwei Unterhaltungsfilmen, die im Gegensatz zum Film Jud Süß, den Gross ebenfalls untersucht, nicht explizit propagandistischen Charakters waren. Die Frage des Umgangs mit (eigener, fremder und »deutscher«) Schuld wird am Beispiel dreier Personen nachgegangen: Hans Frank (Generalgouverneur des besetzen Polen), Traudl Junge (Hitlers Sekretärin) und Karl Jaspers (der deutsche Philosoph war mit einer Jüdin verheiratet). Auch hier geht es Gross wesentlich darum, wie sich moralische Gefühle während und nach dem Nationalsozialismus darstellten und welchen Einfluss sie auf das Handeln der untersuchten Personen hatten. Wiederum aus dem Bereich des Rechts bzw. der Rechtswissenschaft stammen Untersuchungen zum Antipositivismus im Nachkriegsdeutschland und dem Umgang mit uneindeutigen TäterInnenbiographien in den bundesdeutschen Spruchkammerverfahren. Einem Beitrag zur »Moralität des Bösen« in den Diskussionen um den Eichmann-Prozess folgt ein Aufsatz, der dem Fortwirken der NS-Moral am Beispiel der Paulskirchenrede von Martin Walser nachgeht. So wirkte der Begriff der Schande auch bei Walser noch als identitätsstiftendes und damit ausgrenzendes Werkzeug der Sprache, denn wo »vom Holocaust als einer Schande für alle Deutschen gesprochen wird, darf ein Jude nicht mehr Deutscher sein«.

Die einzelnen Beiträge sind thematisch heterogen und nutzen verschiedenste Quellen. Sie umkreisen das Thema Moral und Nationalsozialismus in wiederholten Anläufen und aus wechselnden Perspektiven. Da die Untersuchung der Moral im Nationalsozialismus und ihrer Verlängerung in die Nachkriegszeit tatsächlich relativ neu ist, lässt sich über die fehlende theoretische Stringenz hinwegsehen. Was allerdings auffällt, ist, dass bestimmte Fragen zwar aufgeworfen, aber im materialen Teil des Buches kaum beantwortet werden. So stammen die meisten verwendeten Quellen doch aus dem Zentrum nationalsozialistischer Ideologie, das Problem der Alltagsmoral bleibt mehr oder minder unbearbeitet. Wie eine universalistische Moral in relativ kurzer Zeit einer partikularen weichen konnte, wird zwar beispielhaft gezeigt, aber kaum erklärt. Umso nachvollziehbarer ist der Appell des Autors am Ende des Bandes, die Forschung zu Fragen der Moral im Nationalsozialismus zu intensivieren.

MARCEL MÜLLER

Raphael Gross: Anständig geblieben. Nationalsozialistische Moral, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 2010, 278 S., € 19,95.