Anthropologisierung des Leidens

Interview mit dem Historiker Dan Diner

Dan Diner ist Professor für Geschichte an der Hebrew University Jerusalem und Direktor des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören u.a. Feindbild Amerika. Über die Beständigkeit eines Ressentiments (München 2002) sowie der Sammelband Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten (München 2003).
 

In den jüngsten Debatten um die Bücher von Jörg Friedrich und Günther Grass können erneute Versuche gesehen werden, die Deutschen nicht als Täter des Nationalsozialismus sondern als Opfer eines irgendwie über sie gekommenen Zweiten Weltkriegs zu interpretieren. Um aber Friedrich beispielsweise gegen diese Kritik zu imprägnieren, wurde seine Mitarbeit an der Enzyklopädie des Holocaust betont und sein Buch »Der Brand« damit beworben. Weiß Friedrich als Historiker, was er tut, wenn er alliierte Bomberverbände als »Einsatzgruppen« und deutsche Bunker als »Krematorien« bezeichnet?

Sowohl das Buch von Grass als auch das Buch von Friedrich – mit allen bestehenden Unterschieden stehen für eine sich zunehmend durchsetzende Tendenz in der öffentlichen Darbietung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges in Deutschland, die ich als eine Tendenz der Enthistorisierung zugunsten einer Anthropologisierung von Leid charakterisieren würde. Das ganz ohne Zweifel auch von Deutschen erfahrene Leid wird dabei jedoch gänzlich entkontextualisiert. All das, was gemeinhin mit Geschichte in Verbindung gebracht wird, geht dabei verloren. Auf Kosten der in der historischen Darstellung sich auszuweisenden impliziten Bewertung der bedauerten Ereignisse wird geradezu das Gegenteil evoziert: Die Leid bedingenden, sie erst hervorbringenden Umstände werden verdrängt. Was bleibt ist die Fokussierung auf die bloße Leiderfahrung des Menschen als Menschen. Diese ist selbstverständlich allerorts und jederzeit zu bedauern. Worauf es aber ankommt ist der politische und moralische Kontext der jeweils literarisch, historiographisch oder künstlerisch niederschlagenden Urteilskraft. Dieser wird allerdings durch einen alt-neuen Leiddiskurs ersetzt, während seine Einklage und die dabei abverlangte moralische Urteilskraft mit dem gelangweilten Gestus des inflatoniert Bekannten abgewunken wird. Bestenfalls wird der historische Kontext rhetorisch des guten Tons wegen erwähnt. Alt-neu ist dieser Diskurs im übrigen deshalb, weil er in Deutschland schon immer anzutreffen war, mochte er sich in Gestalt eines ohnehin unglaubwürdigen ultramoralischen Diskurses der Selbstbezichtigung verdeckt haben, dem schon immer etwas kontraphobisches anhaftete. Aber das war nie das Gegenteil des kollektiven Bewusstseins, nur seine nach außen gekehrte bußfertige Seite. Heute kehrt der alte, die unmittelbare Nachkriegszeit begleitende deutsche Opferdiskurs wieder. Nunmehr vor allem betrieben von solchen Personen und Persönlichkeiten, die glauben machen wollen, früher ganz anders gesprochen zu haben. Immerhin haben sie durch kernerartiges Abarbeiten der Vergangenheit in der öffentlichen Meinung so etwas wie einen rhetorischen Bonus. Dieser wird jetzt verstärkt ausgespielt, vor allem dann, wenn man sich anheischig macht, sich die allseits eingeschliffenen Bilder und Metaphern des Holocaust-Diskurses nunmehr als Ikonen einer eigenen Leidensgeschichte einzuverleiben. Bei Friedrich ist ein solch suggestiver, einen moralischen Surplus einheimsender Zugang ganz offenkundig. Die Piloten des Strategischen Bomberkommandos werden zu »Einsatzgruppen«, Keller zu »Krematorien« und die ganz ohne Frage zu bedauernde, in Kauf genommene Zerstörung auch von Bibliotheken falschmünzerisch zu »Bücherverbrennungen« verbogen – so, als seien ganz bestimmte Druckwerke im Sinne einer Selektion des Geistes bewusst den Flammen überantwortet worden. Hier wird nach dem Motto gehandelt: die andern waren es auch. Solche Konterbande der Begriffe sucht eine Parität des Leidens zu erschleichen.
Wie auch immer. Bleibend ist der Eindruck, als sei mit dem Ende der durch den Kalten Krieg herbeigeführten Neutralisierung der Erlebnisgedächtnisse des Zweiten Weltkrieges auch einer spezifisch partikular-parteilichen deutschen Erinnerung an erfahrenes Leid Tür und Tor geöffnet. Damit erhärtet sich der ohnehin waltende Eindruck, die über vierzig Jahre öffentlich zur Schau getragene Haltung kollektiver Zerknirschtheit ebenjener Vergangenheit sei nicht echt, sondern sich selbst gegenüber auferlegt gewesen – einer zweiten Umerziehung gleich. Nunmehr habe diese jedoch als falsch erkannte Erinnerung dem bislang verstellt gewesenen Kollektivgedächtnis zu weichen. Das erfolgt nicht über beinharten Revisionismus alter Prägung, obwohl die Diskurse sich verblüffender Weise einander ähneln, sondern aus der Deckung jener Anthropologisierung heraus, einer Verallgemeinmenschlichung des Leides allseits und überall. Man macht sich keine Freunde, wenn man dies als eine falsche, eine Universalisierung bedienende Verstellung eigener, durchaus spezifischer Erfahrungs- und Schuldgeschichte dechiffriert. Die wirkliche Annahme der Vergangenheit hätte nämlich auch für den öffentlichen Diskurs weitreichende Folgen: Sie würde der Darbietung eigenen Leids so manchen moralischen Vorbehalt auferlegen. Das scheint man in den sonst abschätzig bedachten fünfziger Jahren noch besser gewusst, zumindest doch so empfunden zu haben.

 

Das heißt, Sie sehen dahinter keine Methode?

Ich sehe dahinter eher das Wirken einer unsichtbaren Hand, die man wohl am besten mit der Metapher des kollektiven Gedächtnis beschreibt. Friedrich gibt schließlich einem Empfinden Stimme, das immer schon untergründig in der deutschen Gesellschaft bestand hatte, sich aber eben nur verhalten und gebrochen äußerte. Oftmals verschoben andere, vor allem ferne und aktuelle Vorgänge, das angestaute Arsenal der eigenen Empfindungen. Während es jetzt mit einem deutlich fordernden Zungenschlag so etwas wie ausstehende Anerkennung, ja Satisfaktion für jenes vergangene Leid einfordert.
 

Die verschiedenen Jahrestage von Schlüsselereignissen des Nationalsozialismus werden in breiten Debatten begangen. Sehen Sie dabei eine Tendenz und in welcher Form sehen Sie Ereignisse wie den 17. Juni 1953 in diesem Gedächtniskontext eingebettet?

Die Dinge sind höchst komplex und in ihrer Problematik auf den ersten Blick oft nicht als solche erkennbar. So etwa jene Strategie der Vorleistung, in der es darum geht, den von Deutschen anderen zugefügtes Leid rundherum und pauschal anzuerkennen, um dann mittels ebenjener anthropologisierenden Gleichsetzung: »Mensch ist Mensch«, die eigene Leidensgeschichte »als Mensch« zur Geltung zu bringen. So funktioniert etwa die Choreographie jener historischen, genauer, pseudohistorischen Serien eines Guido Knopp. Es beginnt mit der dokumentarischen Aufführung des Holocaust – mit einem allseits bekannten Unterton tiefster Betroffenheit unterlegt. Dann weitet sich mit der Abfolge der Serien das ganze Panorama des Krieges endlich auch auf solche Themen aus, die das damalige kollektive Erleben der Deutschen trifft und endet bei der Darstellung des Leids der Bombenopfer und dem Schrecken von Flucht und Vertreibung, kurz, bei den traditionellen Themen einer ohnehin ständig präsent, wenn auch verdeckten und versteckt gebliebenen sowie transgenerationell weitergegebenen Leidensgeschichte. Heute fordert eine sich derartig gebärdende Haltung ihren Tribut, indem sie ganz ohne viel Federlesen die Bühne der Öffentlichkeit für sich reklamiert.
Der 17. Juni 1953 wiederum ist ein interessantes Phänomen. Ein identifikationsfähiges Ereignis mit Zukunft insofern, als hier zwei Diskursebenen ineinander übergehen. Es steht zu vermuten, dass der 17. Juni in seiner Bedeutung den 8. Mai, den 3. Oktober und andere Tage, die als Gedenktage der Selbstreflexion der Deutschen mehr schlecht als recht von Staatswegen inauguriert wurden, ablösen wird. Doch zuerst zu jenen widerstrebenden Tendenzen des 17. Juni 1953: Die Tendenzen der Freiheit und der Einheit, die in unterschiedlich dichter Mischform von sich reden machten. Die eine, vormals dominante Diskursebene stellte eher das Motiv der Freiheit und der Demokratie ins Zentrum kollektiver Identifikation. Schließlich drängte der Aufstand auf die Erfüllung universeller Werte und Versprechungen. In der damaligen Sprache ein Arbeiteraufstand gegen Unterdrückung und Ausbeutung einer vorgeblichen Partei der »Arbeiterklasse«, die alles nur mögliche für eine ferne Zukunft versprach, dafür den Menschen den Verzicht auf Gegenwart abverlangte. Was damit im Zentrum des Interesses stand war die totalitäre Parteienherrschaft: Die Unterdrückung durch die SED. Das schließlich von den Sowjets praktisch zu verantwortende Blutvergießen trat dabei interessanterweise eher in den Hintergrund. Vielleicht auch und gerade weil von den Sowjets eh nichts anderes erwartet worden war. Jetzt, nach fünfzig Jahren und der Vereinigung Deutschlands ist eine leichte, wenn auch nicht unerhebliche Veränderung im Bild des 17. Juni 1953 auszumachen. Abgesehen davon, dass jenes Datum mit einer Wucht der Wiederkunft des Unterdrückten ins öffentliche Bewusstsein getreten ist, ist eine wahrnehmbare Konversion weg vom Wertegegensatz zwischen Freiheit und totalitärer Herrschaft hin zu einem Ereignis zunehmend nationaler Konnotation. Die vormals dominante Idee der Freiheit wird zunehmend von der Einheit in Anspruch genommen. Freiheit nicht an und für sich, sondern bedingte Freiheit. Freiheit »um zu«. Beide Tendenzen, die Tendenz der westlichen und vornehmlich individuell gerichteten Freiheit und die Tendenz der nationalen, sprich, der kollektiv eingefärbten Einheit verschmelzen miteinander unter einem zunehmend sich durchsetzenden Primat der Einheit: Der Einheit der vergessenen Nation. Das ist alles wenig dramatisch. Doch was im Hintergrund droht, ist jener durch das Paradigma des nationalen Kollektivs angestoßene Durchbruch hin zu einer neu aufzurollenden Gedächtnisgeschichte des Zweiten Weltkrieges unter dem Primat der eigenen Leidensgeschichte.

 

Könnten Sie Ihre These über eine Annäherung der kollektiven nationalen Gedächtnisse in Europa kurz ausführen und erläutern, welche Rolle der Holocaust dabei spielt?

Es ist mein Eindruck, dass der Zweite Weltkrieg insgesamt so etwas wie die Bedeutung eines Gründungsereignisses für das sich vereinigende Europa annimmt. Dies lässt sich an immer wieder aufscheinenden Anlässen beobachten, die den Zweiten Weltkrieg mit seinem Kern der Judenvernichtung zum Inhalt haben – auch solche karikaturistisch-marginalen Vorgänge wie die Entgleisungen eines Berlusconi oder wessen auch immer. Der Zweite Weltkrieg ist so etwas wie der Resonanzboden der unterschiedlichen europäischen Gedächtnisse. Ein zwar gemeinsam erfahrenes, aber aus völlig unterschiedlich verfassten, mitunter gegenläufigen Gedächtnissen komponiertes Ereignis. Das englische Gedächtnis steht dabei ganz weit außen vor, wie am Rande. Kein Wunder bei der kompromisslosen Gegenwehr, die Britannien unter Churchill Hitlerdeutschland entgegensetzte. Zu dieser Distanz gehörten im übrigen die heute in Deutschland so hochmoralisch problematisierten Bombardierungen deutscher Städte durch die Royal Air Force. Das französische Gedächtnis ist in sich gespalten und reflektiert die auch tatsächlich so gewesenen dichotomen Kollaborations- und Résistancegeschichten. Bei Dominanz der Kollaborationsanteile, wie wir heute besser wissen. Auch das italienische Gedächtnis an Faschismus und Krieg ist sehr stark in sich gespalten, wobei das in der Geschichtsschreibung des letzten Jahrzehnts stärker hervorgetretene Bürgerkriegsmotiv nunmehr in Richtung von so etwas wie einer national konnotierten antideutschen Einheit tendiert. Interessanterweise auch auf Seiten der Neofaschisten. Das tschechische Gedächtnis ist von einer ambivalenten Haltung gekennzeichnet. Während der nazideutschen Okkupation wurde die Versorgung des Standortes aufgrund der hier produzierenden deutschen Rüstungswirtschaft als Vorzug empfunden, so dass sich nicht zuletzt so etwas wie eine verborgene Kollaboration vermuten ließe. Diese verborgene Geschichte einer wenn auch ausgesprochen passiven Anpassung der Tschechen mochte sich als nachgeholter Widerstand in der Vertreibung der Deutschen nach 1945 niedergeschlagen haben. Wobei auch diese Geschichte heute in Deutschland im Sinne der aktuell angestoßenen, vorgeblich hypermoralischen Argumentationsfigur anthropologisiert wird: »Nein zu ethnischen Säuberungen heute – nein zu ethnischen Säuberungen damals«. So, als hätte es nicht den Zweiten Weltkrieg mit all seinen von Deutschland ausgehenden Verbrechen und Gräuel gegeben. Auch das gehört immer noch zur Geschichte.
Die Liste der betroffenen kollektiven Gedächtnisse in Europa ließe sich beliebig fortführen. Es gibt also Gedächtnisse von unterdrückten Völkern, von eroberten Völkern, von kollaborierenden und neutralen Völkern. Alle beziehen sich letztendlich in ihrer Geschichte auf das gemeinsame Ereignis des Zweiten Weltkrieges – wenn auch in notwendig unterschiedlicher Weise. Insofern handelt es sich beim Zweiten Weltkrieg um ein Gründungsereignis. Und als Gründungsereignis hat es seine Wirkung noch vor sich. Deshalb habe ich vom Zweiten Weltkrieg mit dem Holocaust als seinen Kern als einem Phänomen »gestauter Zeit« gesprochen. Bei zunehmender Distanz zum Ereignis dehnt sie sich weiter aus. In die Zukunft wie in die Vergangenheit.
Der Holocaust ist erst im letzten Jahrzehnt oder in den letzten 15 Jahren in das Zentrum des Zweiten Weltkrieges eingewandert und dies obwohl oder weil er ein peripheres Ereignis der Geschichtsschreibung der sechziger, siebziger und auch noch der achtziger Jahre war. Das mag auch ereignisgeschichtlich insofern ein reales Problem sein, als der Holocaust während des Weltkrieges stattfand, außerhalb des Krieges auch gar nicht hätte stattfinden können, aber selbst kein Teil der Kriegshandlungen als Kriegshandlung selbst war. Jetzt sind wir mit einem umgekehrten Phänomen konfrontiert: Der Holocaust erscheint als Zentralereignis des Weltkrieges und strahlt somit auf jede historische Beschreibung der Kriegsvorgänge aus.

 

Sehen Sie bei diesem Prozess des Abgleichens nicht die Gefahr, dass es dabei zu einem Relativieren und zu einer Verschiebung der Täter-Opfer-Grenzen kommt?

Was heißt schon Gefahr. Dieser Prozess des Abgleichens der Gedächtnisse ist ohnehin nicht zu verhindern. Man kann ihn allenfalls kritisch begleiten. Die Kontaminierung der jeweiligen im Diskurs sich befindlichen Gedächtnisse an den Zweiten Weltkrieg sind nun mal zu stark, als dass sie sich politisch korrekt einfach regulieren ließen. Umso mehr ist eine Verknüpfung von ereignistheoretischer wie gedächtnistheoretischer kritischer Begleitung dieses Prozesses nötig. Und der Holocaust wird sich seiner singulären Natur wegen auch bei allen verausgabten Bemühungen nicht »plausibelisieren« lassen. Schließlich ist es u.a. das immer wieder eine tiefe Beunruhigung auslösende Charakteristikum des Holocaust, dass im Unterschied zu allen versuchten Anthropologisierungen eben nicht Menschen Menschen Leid zugefügt haben, sondern ganz bestimmte Menschen, vornehmlich Deutsche, andere bestimmte Menschen, vornehmlich Juden, ihrer bloßen Herkunft wegen der Vernichtung anheim gegeben haben. Das ist das eine. Das andere ist die dabei erfolgte fundamentale Erschütterung von anthropologischen Grundannahmen menschlichen Verhaltens: Im Zentrum auch und gerade das utilitaristisch gehaltene Prinzip der Selbsterhaltung. Um hier philosophisch zu werden, ein Phänomen, das ich einmal in universalisierender Absicht als »Zivilisationsbruch« charakterisiert habe. Dies beiseite zu schieben, werden auch die nationalgeschichtliche Muster abgleichenden Kollektive angesichts des nachgetragenen Gedächtnisdiskurses dem Zweiten Weltkrieg gegenüber nicht wirklich aushalten.
 

An der Konstruktion eines europäischen Gedächtnisses wurde im letzten Irakkrieg heftig gezimmert. Dabei wurde eine geschichtsbewusste europäische Gedächtniskultur inszeniert oder behauptet und ihr gegenüber das Bild von den geschichtslosen USA entworfen. Stellt die gedächtnispolitische Argumentation ein neues Element des Antiamerikanismus dar?

Das Phänomen des Antiamerikanismus ist aus verschiedenen Anteilen komponiert. Das beginnt mit dem beständigen, in Vergessenheit geratenen, historischen Gegensatz von Europa zu Amerika. Hier die wohlgefälligen Traditionsgesellschaften, auf der anderen Seite eine Art der Moderne, die alle Tradition gleichsam zu verschlingen scheint. Eine solche Wahrnehmung übersieht den Umstand, dass es sich auf der anderen Seite des Atlantik bei den Amerikanern um Menschen handelt, die selbst oder deren Vorfahren als Flüchtlinge und Emigranten vornehmlich aus Europa kommend die Vereinigten Staaten konstituieren. Wenn man so will, handelt es sich bei Amerika um ein seitenverkehrtes Europa: Die Neue Welt ist aus den Krisen der alten Welt komponiert. Es kann hier nicht darum gehen, so etwas wie eine Genealogie des Antiamerikanismus zu entfalten. Es sollte genügen, darauf hingewiesen zu haben, dass sich das Phänomen des Antiamerikanismus nicht aus diesem oder jenem Verhalten dieser oder jener amerikanischen Administration herleitet, sondern ein überaus tiefes Moment des europäischen Selbstverständnisses ist, dass freilich aktueller Konjunkturen bedarf, um sich Luft zu verschaffen. Dann gibt es jeweils unterschiedliche historisch gemachte Erfahrungen, die in den jeweiligen Ländern verschieden die Chiffren der Amerikafeindlichkeit grundieren. In Deutschland etwa die Niederlage 1945, die Nürnberger Prozesse – all das was als tiefe Kränkung, als kollektive Demütigung empfunden wurde, und das aus den Händen einer Flüchtlings- und Emigrantennation, die man im Prinzip als kulturlos, jedenfalls wenig ebenbürtig erachtet. Womit wir wieder beim Thema sind. Auch Länder wie Frankreich fühlen sich paradoxerweise von Amerika insofern gedemütigt, als sie sich nicht aus eigener Kraft befreien haben können. Dies freilich ist nur einer der vielen Aspekte, aus denen sich die Kulturkonstante des Antiamerikanismus speist. Für Europa ist vor dem Hintergrund des Gründungsereignis Zweiter Weltkrieg jedenfalls relevant, den als niederrangig empfundenen Amerikanern in unterschiedlicher Weise nicht verziehen zu haben, die jeweiligen europäischen Gesellschaften vor den Katastrophen des Nationalsozialismus und – in einem geringeren Maße auch den des Kommunismus – befreit zu haben.
 

Peter Sloterdijk, Jürgen Habermas und andere deutsche Intellektuelle haben als Avantgarde in ihren Plädoyers für Old Europe bzw. Kerneuropa den Holocaust als Teil der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges »europäisiert«. Wie erklären Sie die Unbekümmertheit dieses Vorgehens und die geringe Resonanz, die diese Teile ihrer Argumentationen erfuhren?

In diesen hoch emotionalen Reaktionen bilden sich zudem Tendenzen ab, in denen europäische Einigungsvorstellungen dem Muster der deutschen Einigung als großen Nationalstaat entsprechen wollen. Nach dem Motto, so wie die deutsche Reichsgründung ein Prozess der Vereinigung und Vereinheitlichung unterschiedlicher Territorialhoheiten gewesen war, so möge sich jetzt Europa vereinigen. Ein dergestalt konstruierter Gegensatz zwischen Amerika und Europa, der die europäische Einigung einer Nationalstaatsgründung analog konzipiert und auf ein Verhältnis des Gegensatzes zum Anderen baut, setzt schließlich auf ein politisch konstitutives Feindverhältnis, gegen das der Theoretiker des Kommunikativen Handelns ansonsten immer vorgegangen war. Zudem wird deutlich, dass es so etwas wie einen westlichen Wertekanon als gemeinsame Grundlage gar nicht gibt. Ich bezweifele, dass es ihn in dieser Form außer im Gegensatz zum Kommunismus jemals gegeben hat. Der Westen stellt sich mithin als Notgemeinschaft des Kalten Krieges heraus. Nunmehr werden jene Konturen sichtbar, die wieder in die Geschichte zurückführen.
 

Herzlichen Dank für das Gespräch.



Phase 2 Leipzig