Anti-Homosexualität in der Psychoanalyse

Der Sammelband Psychoanalyse und männliche Homosexualität schließt an eine Ausstellung im Schwulen Museum und eine Tagung an der International Psychoanalytic University Berlin an, die dem Theoretiker und Schwulenaktivisten Martin Dannecker gewidmet waren. Im Anschluss an das dialektische Denken Danneckers widmet sich der Band einerseits der institutionellen und alltagspraktischen Verankerung der Anti-Homosexualität in der Psychoanalyse und verteidigt andererseits das psychoanalytische Begriffswerkzeug zur Erklärung der Anti-Homosexualität. Schon die Verwendung des Begriffs Anti-Homosexualität ist ein politisches Statement. Damit soll deutlich werden, dass mit »Homophobie« fälschlicherweise eine Ablehnung von Homosexualität auf Basis einer ernstzunehmenden Angst, der Phobie, bezeichnet wird. Die Geschichte der Anti-Homosexualität wird von Sigmund Freud bis in die neoliberale Gegenwart erzählt. Heute ist die Sexualität eigentlich de-sexualisiert, konstatieren die Herausgebenden Victoria Preis, Aaron Lahl und Patrick Henze: Sie ist ein »undramatischer unaufgeregter Freizeitspaß« geworden, der keine Kraft mehr hat, die Gesellschaft zu verändern. Benedikt Wolf stellt in seinem herausragenden literaturwissenschaftlichen Beitrag Versuche über die Pubertät fest, dass die gesellschaftlichen Transformationen seit den 1960er Jahren tatsächlich Errungenschaften darstellen, aber »nicht im liberalen Sinn, sondern im dialektischen Sinn«. Mit Bezug auf Martin Dannecker beschreibt Wolf den bitteren Beigeschmack der gewonnenen sexuellen Freiheit, in deren Folge die Menschen »sowohl die ihnen abhanden gekommene Sprache als auch die Sache selbst zurück (erhalten). Aber das, was sie zurückerhalten ist ihnen entfremdet. Es ist entsubjektiviert und damit wesentlich de-sexualisiert.«

Laut den Herausgebenden ist die sexuelle Liberalisierung nicht nur durch Entfremdung gekennzeichnet, sondern auch fragil. Sie ist ein »Zugeständnis, das sich in einer historisch kurzen Zeitspanne vollzogen hat und auf einen geografisch überschaubaren Raum beschränkt ist«. Zeichen dafür ist die Tatsache, dass sich in der Psychoanalyse althergebrachte Vorstellungen von gesunder und normaler Heterosexualität versus unreifer Homosexualität halten, auch wenn sie nur, wie Sophinette Becker († 24. Oktober 2019) anmerkt, »hinter vorgehaltener Hand« und mit einem Verweis auf gesellschaftlich verhangene Sprach- und Denkverbote verlautet werden. In ihrem Beitrag Geschlecht und sexuelle Orientierung in Auflösung – was bleibt? deutet sie darauf hin, dass eine sexualpolitische Wende auf ihren tieferen Gehalt und ihre Nachhaltigkeit befragt werden sollte. In der deutschen Psychoanalyse habe stattdessen ein sprachloser Wechsel von der Pathologisierung zur Entpathologisierung der Homosexualität stattgefunden. Die Sprachlosigkeit dieses Wechsels führt so die Autorin gegenwärtig zu Scheintoleranz statt Selbstaufklärung. Gegen diese Scheintoleranz schlägt sie eine Durcharbeitung der mit Anti-Homosexualität verbundenen Konflikte vor mit der Frage: »Warum hat man früher so gedacht und warum denkt man heute anders?« 

Als einen unter anderen möglichen Gründen für die Anti-Homosexualität und den Heterosexismus in der Psychoanalyse nennen die Herausgebenden die Angst vor dem Trieb. Der Trieb und das sexuelle Genießen werden an die männliche Homosexualität delegiert und stereotypisiert: »Die mediale Inszenierung und das kollektive Gerücht über die Homosexualität sind durchsetzt von Stereotypien. Gerade die Sphäre des Sexuellen an der männlichen Homosexualität ruft Faszination und Neid hervor, die sich an bekannte Bilder von Darkrooms oder Sexpartys heften.« Dem entgegen fordert der Band »im Sinne Danneckers« eine Psychoanalyse, die weder stereotypisiert noch Differenzen in der psychodynamischen Entwicklung verleugnet. 

Der Band reicht inhaltlich weit über das Feld der Psychoanalyse hinaus, schon allein weil Psychoanalytiker*innen Teil des gesellschaftlichen Alltags sind. Beim Lesen wird immer wieder verständlich, dass es zur sexualpolitischen Gleichstellung mehr braucht als Interventionen auf der Ebene sprachlicher Repräsentationen wie Lippenbekenntnisse oder Sprachverbote. Eine politische Auseinandersetzung mit der Anti-Homosexualität sollte versuchen, deren spezifische Gründe zu verstehen, statt sie zu verleugnen. Mit dieser Position ist der Band auch in Hinblick auf politische Debatten zu Transidentität sehr lesenswert, obwohl einige Beiträge für Einsteiger*innen in die Psychoanalyse voraussetzungsreich sind. In der Einleitung wird darauf Bezug genommen, dass die weibliche (Homo-)Sexualität konträr zur männlichen Homosexualität konnotiert sei: Ihr würden Triebhaftigkeit und Sexualität abgesprochen. Diesem Thema gingen die Herausgebenden mit einem weiteren Symposium, »Psychoanalyse und lesbische Sexualität«, vom 17.-18. Januar 2020 nach. Die Diskussionen innerhalb der zwei Tage verliefen ausgesprochen hitzig. Wahrscheinlich vereint ein folgender Tagungsband also ebenso spannende Positionen wie dieser.

 

Nora Caótica

 

Patrick Henze, Aaron Lahl, Victoria Preis: Psychoanalyse und männliche Homosexualität. Beträge zu einer sexualpolitischen Debatte, Psychosozial Verlag, Gießen 2019, 330 S., € 34,90.