Blinde Flecken

Die Negation von Aufklärung und Menschenrechten ist die Voraussetzung der Negation des Bestehenden in ihrem Namen

Der Blick in die Geschichte, die »Tradition der Unterdrückten«, zeigt den kritischen Betrachter­Innen die Geschichte eines nahezu permanenten Ausnahmezustands. Unser Begriff der Geschichte wird dieser Tatsache nicht gerecht. Diese Feststellung Walter Benjamins aus dem Jahr 1940 bezieht sich auch auf die Geschichte der Aufklärung, der Moderne. »Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im zwanzigsten Jahrhundert ›noch‹ möglich sind«, so Benjamin, sei »kein philosophisches«. Es stehe »nicht am Anfang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der es stammt, nicht zu halten ist.« Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: Ders., Sprache und Geschichte, Stuttgart 1992, 145–146. Diese Feststellung ist immer noch aktuell. Die »Werte« der Aufklärung sedimentierten »im Laufe ihrer Verinnerlichungsgeschichte zur ›zweiten Natur‹« und blieben der unreflektierte Referenzpunkt nicht nur in Politik und Feuilleton unserer bürgerlichen Demokratie, sondern auch in linken Debatten. »Freiheit, Gleichheit und Demokratie sind die letzten Posten«, auf die sich selbst gesellschaftskritisches Denken zurückzieht, »und die praktische Ohnmacht, dem Krisenprozess etwas entgegensetzen zu können, entspricht lediglich der zutraulichen Naivität« gegenüber ihrem theoretischen Fundament. Daniel Späth, Das Elend der Aufklärung, in: EXIT. Krise und Kritik der Warengesellschaft, 8 (2011), 45–78, 48. Die Geschichte der Aufklärung, die das aufgeklärte Europa erzählt, ist eine ideologische Verschleierung der Realgeschichte der Aufklärung. Erst der Blick auf das Leid, aus dem Aufklärung ersteht, und das Leid, das sie real mit sich brachte und zu entschulden half, lässt ihre Kernidee positiv greifbar werden. Der Gedanke der Freiheit steht seit jeher im Spannungsverhältnis zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihn in dieser Form erst entstehen ließen.

Europas »Aufklärung« und die Menschenrechte

In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, in die Geschichte zu blicken. Der aufgeklärte Historiker und Freimaurer Johann Jacob Sell veröffentlichte im Jahr 1791 den Versuch einer Geschichte des Negersclavenhandels. Darin kommentiert er auch Bemühungen aus Kreisen der Quäker in Nordamerika, die bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Sklavenhaltung abschaffen wollten: »Anfangs mußten freilich einige Auf­opferungen geschehen; aber bald wurde man überzeugt, daß durch freie Menschen in kürzerer Zeit mehrere Arbeit verrichtet würde, und daß, wenn auch ihr Unterhalt mehrere Kosten erforderte, diese doch wiederum von Seiten der geringern Anzahl der Arbeiter, die man nöthig hatte, so wie von Seiten des Capitals, das zur Anschaffung neuer Sklaven nöthig war, erspart werden konnten.« Johann Jacob Sell, Versuch einer Geschichte des Negersclavenhandels, Halle 1791, 199 (Hervorh. Hannes Bode). Derartige »menschenfreundliche Bemühungen« im Geist frühkapitalistischer Verhältnisse ließen in Europa allerdings noch mehrere Jahrzehnte, ja z.B. in Brasilien oder Kuba noch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts auf sich warten. Auf die Gründe dafür verweist auch eine Aussage des britischen Staatsministers Pitt vor dem Parlament im Jahr der französischen Revolution 1789. Bittschriften für die Abschaffung des Sklavenhandels, so Pitt, machten der »Menschlichkeit und Denkungsart der Britten Ehre«, die Wichtigkeit des Sklavenhandels verlange jedoch zunächst sorgfältigste Beratschlagung. Sprachs und vertagte die Angelegenheit, um beim nächsten Mal zu sagen: »Da Menschlichkeit und Politik in Collision kämen; so müsste letztere wohl den Ausschlag geben.« Ebd., 210 (Hervorh. Hannes Bode).

Weite Teile der Produktion beruhten unmittelbar auf der Sklavenarbeit und dem Güterimport aus den Sklavenkolonien; schnell verbreiteten sich damals rassistische Narrative, die britische Freiheit und afrikanische Unfreiheit in Einklang brachten. Auch für das Mutterland der Revolution, Frankreich, trifft das zu. In der berühmten historischen Studie  Die Französische Revolution von Thomas Carlyle aus dem Jahr 1837 findet sich ein Kapitel mit dem Namen »Kein Zucker«. Carlyles mehrbändiges Werk, in seinem Fokus weit weniger eurozentrisch als heutige »Geschichten« Europas, bietet auch einen Blick auf Saint-Domingue (Haiti) bzw. auf vergessene Zusammenhänge: »Was für eine Veränderung, in zwei Jahren. Seit die ersten Kokarden mit der Trikolore ins Land gebracht wurden, und verdrossene Kreolen sich ebenfalls erfreuten, dass Bastilles dem Erdboden gleichgemacht wurden. Das Gleichmachen ist komfortabel, wie wir oft sagen: Gleichmachen, aber nur bevor es um mich geht.« Übersetzt aus Thomas Carlyle, The French Revolution. A History, Vol. II, London 1857, 187 (Hervorh. Hannes Bode). Der Autor nennt die Aufstände in Saint-Domingue eine »Ursache für die große Knappheit an Zucker«, und spricht von Aufrufen zum Verzicht unter revolutionären Eliten in Frankreich. »Doch: ›Wie sollen Männer der Gelehrsamkeit, der Schrift, ohne Kaffee auskommen??‹ Enthaltet Euch mit einem Fluch, das ist das Beste!« Übersetzt aus ebd. (Hervorh. Hannes Bode).

Dieses Kapitel Carlyles, der den letzten Satz aus einem Debattenprotokoll der Jakobiner von 1791 wörtlich zitiert, verweist auf eine zentrale Tatsache: Die Republik der Gelehrten, die Salons, die Kaffeehäuser, sie sind Symptom und Triebkraft der bürgerlichen Gesellschaft. Und diese entstehende Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit, am bekanntesten von Jürgen Habermas im historischen Teil seines »Strukturwandels« angerissen, ist unmittelbar verknüpft mit der Sklavenproduktion in den Kolonien. Denn die BürgerInnen wollen konsumieren. Und die ökonomische Grundlage, die Voraussetzung der bürgerlichen Öffentlichkeit und der bürgerlichen Revolution, ist die Akkumulation, die Anhäufung von Kapital, von Reichtum und »leisure time«. Diese beruht direkt auf der Sklaverei, der unmittelbaren, brutalstmöglichen Aneignung und Ausbeutung fremder Arbeitskraft.

Es ist kein Zufall, dass jeder zehnte Abgeordnete der verfassungsgebenden Nationalversammlung private Wirtschaftsinteressen in den Sklavenkolonien hatte. Bis zu 30 Prozent aller kommerziellen Aktivitäten der französischen Bourgeoisie beruhten auf Produkten aus Sklavenproduktion. Ende des 18. Jahrhunderts wurden in den Sklavenkolonien der atlantischen Wirtschaft mehr als eine Million SklavInnen gehalten, die größte Sklavenwirtschaft befand sich auf Saint Domingue, mit 500.000 SklavInnen. Durch die harte Arbeit und die brutalen Körperstrafen bei »Faulheit« und »schlechtem Benehmen« wurden jährlich zehntausende SklavInnen umgebracht, um die Produktivitätsrate zu halten, importierte allein Saint Domingue jährlich 50.000 neue SklavInnen. Erst Spanien, dann die Niederlande, Frankreich, später vor allem England bauten ihre Handelsökonomie mit riesigen Profiten auf diesem atlantischen Produktions- und Handelssystem auf. Vgl. zu den letzten Absätzen v.a. Susan Buck-Morss, Hegel, Haiti and Universal History, Pittsburgh, Pa 2009, 26 ff., Fn. 41; Paul Cheney, Revolutionary Commerce. Globalization and the French Monarchy, Cambridge, Mass. 2010.

Es war Karl Marx, dem diese Zusammenhänge bewusst waren und der die historischen Menschenrechtsdiskurse kritisch sezierte. Erinnert sei hier an eine seiner frühen Schriften – den gegen Bruno Bauers Antisemitismus gerichteten Text »Zur Judenfrage«. In einem der radikalsten Verfassungstexte, so Marx, mag es heißen, die natürlichen und unabdingbaren Rechte seien Gleichheit, Freiheit, Sicherheit und Eigentum. Doch, so fragt er: »Worin besteht die Gleichheit, die liberté? Artikel 6. ›Freiheit ist das Recht des Menschen, alles tun zu dürfen, was den Rechten eines anderen nicht schadet‹ […]. Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechtes der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums. Worin besteht das Menschenrecht des Privateigentums? Artikel 16. (Verfassung von 1793): ›Das Eigentumsrecht ist das Recht jedes Bürgers, willkürlich seine Güter, seine Einkünfte, die Früchte seiner Arbeit und seines Fleißes zu genießen und darüber zu disponieren.‹« Karl Marx, Zur Judenfrage [1843], in: Marx Engels Werke, Bd. 1, Berlin 1976, 347–377, 363 ff. (Hervorh. i. Original). Diese Freiheit zum Eigennutz lasse »jeden Menschen im andern Menschen nicht die Verwirklichung, sondern vielmehr die Schranke seiner Freiheit finden.« Ebd., 364 (Hervorh. i. Original).

Hier wird auf etwas hingewiesen, das heute kaum mehr Beachtung findet. Die Auseinandersetzung der »Gelehrtenrepublik« mit dem feudal strukturierten Staat und seinen arbiträren Herrschaftsstrukturen war zunächst eine Auseinander­setzung mit dem Ziel rationalerer Organisation und Berechenbarkeit, zum Wohle der Wirtschaft und der Interessen des bürgerlichen Kapitals in der inländischen Produktion, den Sklavenplantagen und dem Handel. Adam Smith – der aufgeklärte schottische Moralphilosoph, vor allem aber auch der sogenannte »Vater der Nationalökonomie« – schrieb 1776 über den Reichtum der Nationen: Es sei aus der Geschichte offensichtlich, dass die Arbeit von Freien am Ende billiger sei als die von SklavInnen, für die man größere Unterhaltskosten aufbringen müsse. Es ist die gleiche Überlegung, wie sie die eingangs erwähnten Quäker zum Wohle ihres Kapitals anstellten. In der idealistischen europäischen Geschichte von Ideen und ihren Wirkungen wird nicht erwähnt, dass selbst Montesquieu auch als »Vater der Lehre von Handel und Kommerz« galt. Im Zentrum seiner Überlegungen stand die Gewährleistung einer vernunftmäßigen Ordnung, die die Mehrung von Gütern und Einkünften ermöglichte, daher auch bei vielen AufklärerInnen der positive Bezug auf Herrscher, die sogenannten aufgeklärten Fürsten oder Könige, und den (jungen) Staat. Und ganz in diesem Sinne findet sich auch in einem Buch der Bundeszentrale für politische Bildung, das »Basiswissen zum Mitreden« zum Thema »Menschenrechte und Demokratie« verspricht, folgende Kernaussage zum »Menschrecht auf Eigentum«: »Natürlich könntet ihr und die Nachbarn euch das Auto teilen. Oder ihr euern Fußballplatz nach Absprache dem Verein des Nachbardorfs zur Verfügung stellen. Trotzdem müssen im einen Fall das Auto, im anderen der Bolzplatz irgendwem gehören – sonst könnte ja jeder daherkommen und Besitz beliebig für sich in Anspruch nehmen. […] Kein Volk kann existieren ohne eigenen Grund und Boden. Das Recht auf Eigentum gehört zu einem sicheren und freien Leben.« Christine Schulz-Reiss, Nachgefragt. Menschenrecht und Demokratie, Basiswissen zum Mitreden, Bonn 2008, 20. Privateigentum und Nationalstaat, historisch entstandene, besondere Phänomene, werden in die Vorgeschichte zurückprojiziert und naturalisiert: »Weit entfernt, daß der Mensch in ihnen als Gattungswesen aufgefaßt wurde, erscheint vielmehr das Gattungsleben selbst, die Gesellschaft, als ein den Individuen äußerlicher Rahmen, als Beschränkung ihrer ursprünglichen Selbständigkeit. Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person.« Marx, Zur Judenfrage, 365 f.

Es verblüfft vor diesem Hintergrund nur auf den ersten Blick, dass bspw. der große Aufklärer Montesquieu die Sklaverei im Allgemeinen verurteilte, die Sklaverei von Schwarzen aber aufgrund rassistischer Grundannahmen rechtfertigte. Wie im Anschluss Kant erklärte er, dass Hautfarbe und Denkfähigkeit korrelierten. Rousseau, der die Menschheit in Ketten sah und sie aus der Sklaverei befreit sehen wollte, erwähnte die alltägliche reale Sklaverei mit keinem Satz. Für den berühmten John Locke war Souveränität die Souveränität der Besitzenden. Als Teilhaber der Royal African Company gehörte er in Carolina dem Rat für Handel und Plantagen an. In der von ihm entworfenen Verfassung heißt es: »Jeder freie Bürger soll absolute Macht und Autorität über seine Negersklaven haben.« The Fundamental Constitutions of Carolina, 1. März 1669, http://0cn.de/p84o. Der Ursprung der Sklaverei erscheint bei ihm ebenso unhinterfragt naturalisiert wie der von Privateigentum und Freiheit. Der auf ihr beruhende Außenhandel war Ende des 18. Jahrhunderts Basis für bis zu 25 Prozent der industriellen Produktion Frankreichs und bis zu sieben Prozent allen wirtschaftlichen Wachstums. Cheney, Revolutionary Commerce.

Solche Seiten unserer aufgeklärten europäischen Zivilität, solche Kontexte unserer Geschichte von »Aufklärung«, »bürgerlicher Gesellschaft« und »Demokratie« sind in den Geschichtsbüchern nicht zu finden. Die Geschichte der Sklaverei wird bestenfalls am Rand als fremde, exotische, vor der Neuzeit zu verortende behandelt, so wie das allgemeine Bewusstsein »Hexenverbrennungen« dem mittelalterlichen, nicht dem neuzeitlichen Europa zuordnet. Noch ein genozidaler Kolonialismus, der Massenmord an den Hereros findet etwa in Deutschland, das die meisten nicht mit der Geschichte des Kolonialismus in Verbindung bringen, kaum Berücksichtigung. Auch sind sowohl die zehntausenden KolonialsoldatInnen, die im Zweiten Weltkrieg in den Verbänden der Alliierten kämpften und starben, ebenso aus dem Gedächtnis gelöscht, wie die Massaker der französischen Armee an algerischen Zivilisten nach Mai 1945, oder die Verweigerung von Asyl für jüdische Flüchtlinge in Großbritannien bei gleichzeitiger militärischer Schließung der Fluchtwege nach Palästina durch die britische Armee während des Holocaust. Noch die brutalen und blutigen (Kolonial-)Kriege Frankreichs und der USA in Vietnam oder die spätere Unterstützung autoritärer und teils faschistischer Regime von Lateinamerika bis zum Nahen Osten durch Staaten des »freien Westens« und »sozialistischen Ostens« finden in der historischen Allgemeinbildung kaum (mehr) einen Platz. Das alles ist auch notwendig, wenn die »zivilisierte« bürgerliche Gesellschaft ihre ideologischen Grundlagen nicht gefährden will.

Besonders für die durchaus umfassend thematisierte Geschichte des Nationalsozialismus und der Vernichtung, im Speziellen in Deutschland, gilt derweil, dass ihre Vorgeschichte und insbesondere ihr Nachwirken tendenziell aus dem historischen Narrativ herausfallen, von diesem abgekoppelt werden. Das »Dritte Reich« bestand von 1933 bis 1945. Auschwitz als Zivilisationsbruch gefährdet die ideologischen Grundlagen einer Erzählung kaum, die Auschwitz aus der Geschichte hinausschreibt, mit Neuzeit, Aufklärung, Moderne, gesellschaftlichen Verhältnissen und Ideengeschichte nicht in Verbindung bringt. Erst eine andere Wahrnehmung würde radikal verunsichern, radikal in Frage stellen. Etwa eine Wahrnehmung der »tiefe[n] Verankerung des Nationalsozialismus, seiner Gewalt und seiner Massenmorde, in der Geschichte des Okzidents, im Europa das industriellen Kapitalismus, des Kolonialismus, des Imperialismus, des Aufschwungs der modernen Wissenschaften und der Technik, im Europa der Eugenik, des Sozialdarwinismus, kurzum, im Europa des langen 19. Jahrhunderts, das auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs zu Ende ging« – als Voraussetzungen, nicht als Ursachen. Enzo Traverso, Moderne und Gewalt. Eine europäische Genealogie des Nazi-Terrors, Köln 2003, 21. Im spezifisch deutschen Kontext ist das, angesichts von Umfang, Ausmaß und Technisierung des Massenmords und der Einbindung nicht nur des Staatsapparats, sondern auch der Bevölkerung als Volksgemeinschaft in das antisemitisch motivierte und vom Antisemitismus legitimierte Vernichtungsprojekt, singulär. Ein Kontext, der bei Traverso, wie auch in Arbeiten etwa Zygmunt Baumans wiederum zu kurz kommt; zudem trifft in Teilen die Kritik zu: »Die Rede von der Moderne und der Gewalt verführt dazu, essentialistisch zu argumentieren und monistische Bewegungskräfte am Werk zu sehen oder gar als Akteure selbst auszumachen.« Vgl. Michael Wildt, Rezension zu: Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914–1945, Berlin 2008, in: H-Soz-Kult, 08.04.2010, http://0cn.de/81we. Wenn »die vollends aufgeklärte Erde […] im Zeichen triumphalen Unheils« strahlt, ist in der Dialektik der Aufklärung gerade kein Zivilisationsbruch gemeint. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1997, 9. Dies gilt für die meisten Verwendungen des Begriffs, die Zivilisation mit moderner Realgeschichte, modernen gesellschaftlichen Verhältnissen assoziieren, und so einen Zivilisationsbruch konstatieren – was nicht unbedingt der begriffsprägenden Annäherung Dan Diners an einen Zivilisationsbruch entspricht. Doch nicht nur dessen Rede von den »Grundfesten unserer Zivilisation« erscheint selbst bereits problematisch. Diner sieht im Verhalten der Nazis ein »Dementi jener anthropologisch qualifizierten Gewissheit, das Begehren des anderen sei auch im schlimmsten aller Fälle auf Triebbefriedigung oder auf die Gewinnung eines materiellen Vorteils und damit auf ein psychisch noch integrierbares traditionelles Böses gerichtet«, die Nazis hätten »in ihrer Vernichtungsabsicht eine Schranke« durchbrochen, »deren Überwindung als undenkbar erachtet und somit auch als kognitiv ausgeschlossen schien«: die »absolut geltende Schranke der Selbsterhaltung – der Selbsterhaltung der Täter«. Dies verkürzt nicht nur einen komplexen Prozess des Mordens, in dem sehr viele an der Vernichtung Beteiligte durchaus Triebbefriedigung oder materielle Vorteile erfuhren oder erhofften, er scheint zudem ebenfalls ein zentrales Ideologem des eliminatorischen Antisemitismus zu übergehen, das Verfolgung und Mord als Akte der Selbstverteidigung erscheinen lässt. Die Rede von »bloßer Vernichtung« droht, über die Ideologie hinwegzugehen. Vgl. Dan Diner, Gegenläufige Gedächtnisse. Über Geltung und Wirkung des Holocaust, Göttingen 2007, 27f. u. ders., Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a.M. 1988, 7–13, hier 8.

Menschenrechtsdiskurse und das »Recht auf Asyl«

In erwähntem Buch der Bundeszentrale für politische Bildung über Menschenrechte heißt es: »Die Menschenrechte gibt es, seit es Menschen gibt. Sie sind ein Naturrecht, weil sie der Natur des Menschen entsprechen. Es gibt sie, weil der Mensch ist, wie er ist – sie machen den Menschen zum Menschen. […] Wie schwer sie zu bekommen und einzuhalten sind, siehst Du daran, dass sie immer noch verletzt werden, indem sich Menschen über Menschen erheben. Kein Staat, kein Gesetzgeber hat sich die Menschenrechte ausgedacht. Sie sind uns angeboren, und keiner kann sie uns nehmen.« Schulz-Reiss, Nachgefragt, 15 (Hervorh. i. Original). Diese jeden konkreten Inhalts entleerte, anachronistische und widersprüchliche Aussage zu den Menschenrechten spricht Bände über die bürgerliche Ideologie und entlarvt die Realität. Denn wenn Menschenrechte »der Natur des Menschen entsprechen«, warum verletzt er sie dann, wenn sie »angeboren« sind, und keiner sie uns nehmen kann, wieso müssen wir sie dann »bekommen« [!] und »einhalten«? In diesen Zeilen vollzieht sich, was sich auch im öffentlichen Diskurs und der politischen Realität vollzieht: Die diskursive, idealistische Rede von Menschenrechten als einem – angeblich – Menschen grundsätzlich zustehenden Rechtsgut vermischt sich mit der Rede von Menschenrechten im Sinne einer behaupteten Faktizität ihrer Geltung und Einklagbarkeit. Man kann der Meinung sein, dass dem Menschen als Mensch Rechte zustehen, sie ihm quasi angeboren sind – auch wenn man beachten müsste, dass das eine spezifische ethische Setzung ist, die so weder in der Vormoderne, noch in der Aufklärungszeit (für Frauen, Schwarze) existierte. Doch wann hat ein Mensch Rechte? In einer national- bzw. territorialstaatlich strukturierten Welt dort, wo ihm ein Souverän diese Rechte garantiert, sie einklagbar macht, ihn als Rechtssubjekt schützt. Und wo ist der Mensch als Mensch in diesem Sinne Rechtssubjekt, wo war er es in der Geschichte?

Wo Faktizität und Geltung von Freiheit, Gleichheit und Menschenrecht behauptet wurden, ging es zumeist um eine ideologische Verschleierung realer Unfreiheit und realer Ungleichheit, oft sogar um die ideologische Legitimierung von Handeln, das Unfreiheit und Ungleichheit forcierte oder perpetuierte. Einzelne Beispiele wurden genannt, ob Frankreichs Kolonialverbrechen in Algerien, Großbritanniens Kolonialverbrechen oder Englands Maßnahmen gegen jüdische Flüchtlinge, ob der Krieg der USA in Vietnam oder, wenn wir ins Heute schauen, das Flüchtlingsabwehrsystem an den europäischen Außengrenzen und im Mittelmeer, das von einem gesamt-

europäischen »Menschenrechts«- und Verantwortungsdiskurs der verantwortlichen Stellen begleitet und gedeckt wird. Nur ein einziges Mal deckten sich Rhetorik und historische Tat vollkommen: Das militärische Agieren der Alliierten gegen das nationalsozialistische Deutschland zur Beendigung seiner historisch einmaligen Mord- und Vernichtungsmaschinerie war ein gerechter Kampf für das Leben und die Freiheit von Millionen Menschen. Auch wenn die beteiligten Staaten nicht aus moralischer Überzeugung von der universellen Geltung von »Freiheit« und »Menschenrecht« in den Krieg zogen, und obwohl beteiligte Staaten gleichzeitig anderswo die Idee von »Freiheit« und »Menschenrecht« negierten, etwa das Regime Stalins in der Sowjetunion und Frankreich oder England in den Kolonien – insbesondere letztere aber wiederum im Namen von »Freiheit« und »Zivilisation«, wenn auch nicht unbedingt von »Menschenrecht«. Das Heranziehen dieses einmaligen historischen Beispiels zur Rechtfertigung aktuellen Agierens und Nichtagierens von Staaten im Namen dieser Ideen ist naiv, absurd und perfide, sei es etwa bezüglich der USA oder anderer »westlicher« Staaten auf der einen Seite, oder in Bezug auf Russland auf der anderen.

Doch wieso lässt sich trotz aller Menschenrechtsrhetorik von Regierungen, NGOs und in der Linken nicht von einer Faktizität, einer Geltung und Einklagbarkeit von Menschenrechten sprechen, weshalb ist der schlichte Apell, die Einforderung von vermeintlich »menschenrechtskonformem« Handeln naiv? Zum einen wäre hier im Anschluss an Hannah Arendt die Paradoxie zu thematisieren, dass, insofern »die Französische Revolution die Menschheit als eine Familie von Nationen begriff«, sich »der Begriff des Menschen, der den Menschenrechten zugrunde lag, nach dem Volk und nicht nach dem Individuum« richtete. Zudem bewahrheitet sich gerade in den letzten Jahren wieder ihr nach dem Zweiten Weltkrieg formulierter zentraler Hinweis, dass es in der Moderne faktisch keine Menschen gibt, nur Staatsbürger und Staatenlose. Momentan fliehen Millionen Menschen vor Verfolgung, Krieg oder Armut. Selbst innerhalb von Europa, innerhalb der »Europäischen Union« bewegen sich hunderttausende auf der Suche nach Schutz, nach Versorgung, nach gesicherter Unterkunft. Es ist das Ergebnis puren Zufalls, ob sie willkürlich an den Grenzen des einen oder des anderen Staates aufgehalten oder durchgelassen werden, ob sie in einem Staat an einem Ort versorgt und medizinisch betreut, oder in einem anderen dem Tod durch Erfrieren überlassen werden, ob der eine oder der andere Staat ein Asylverfahren aufnimmt, und ob sie in diesem anerkannt oder abgelehnt, in Folge aufgenommen oder abgeschoben werden. Gleichzeitig applaudieren wohlmeinende BürgerInnen ankommenden Flüchtlingen, die danach willkürlich in einem Zeltlager, oder einer Wohnung untergebracht werden, willkürlich eine Aufenthaltsgenehmigung oder einen Abschiebebescheid bekommen. Gerade in diesen Tagen steht man angewidert und ohnmächtig vor der »Diskrepanz zwischen den Bemühungen wohlmeinender Idealisten, welche beharrlich Rechte als unabdingbare Menschenrechte hinstellen, deren sich nur die Bürger der blühendsten und zivilisiertesten Länder erfreuen, und der Situation der Entrechteten selbst, die sich ebenso beharrlich verschlechtert hat«. Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1986, 436. D.h. vor der Tatsache, dass die vollmundige Anrufung von Menschenrechten seitens der Politik wie ihrer Kritiker »die wirkliche Situation der Staatenlosigkeit, die Unmöglichkeit, ihnen die Menschenrechte innerhalb des Systems souveräner Staaten zu sichern«, ignoriert. Ebd., 607.

Bürgerliches Denken, bürgerliche Ideologie sieht Menschenrechte begründet in einer Ordnung, in der Menschenrechte eben gerade faktisch unmöglich zugestanden werden können. Deutlich wird das insbesondere an der Person des »Asylsuchenden«. Hannah Arendt stellt fest, es gebe nur Staatsbürger und Staatenlose. Präzise bemerkte sie, dass »in dem Augenblick, in dem Menschen sich nicht mehr des Schutzes einer Regierung erfreuen, keine Staatsbürgerrechte mehr genießen und daher auf das Minimum an Recht verwiesen sind, das ihnen angeblich eingeboren ist, es niemanden gab, der ihnen dieses Recht garantieren konnte, und keine staatliche oder zwischenstaatliche Autorität bereit war, es zu beschützen.« Ebd., 605. Vertriebene, Geflüchtete, »Asylsuchende« – sie sind staatenlos in Permanenz; sie stehen jenseits der Nation, jenseits der (fast) alles organisierenden modernen Trias von Volk, Staat und Territorium. Als Asylsuchende sind sie der Willkür der Staaten ausgesetzt, die nach willkürlichen Kriterien über ihr Schicksal entscheiden, eben, weil es ein Menschenrecht auf Bürgerrechte eines anderen Staates nicht gibt, und nur das Bürgerrecht als Rechtsgut eines Rechtssubjekts innerhalb der überall, ob als Demokratie oder Diktatur existierenden Nationalstaaten zumindest formal einklagbar ist. Hier ist zu beachten, dass soziale »Rechte« (Arbeit, Sozial- und Gesundheitssystem) selbst für Staatsbürger nicht als solche existieren, letztendlich sind die Grundrechte des Bürgers seit der Aufklärungszeit eben nur die basalen Schutzrechte gegenüber dem Staat, darunter der Schutz des Eigentums. Dazu auch Marx, Zur Judenfrage, 370.

Seit dem 20. Jahrhundert herrscht eine noch nie dagewesene Situation – doch noch nie dagewesen ist nicht der Verlust eines Zuhauses, eines Heims, von »Heimat«, sondern die Tatsache, dass es heute grundsätzlich unmöglich ist, aus eigener Kraft ein neues Zuhause und eine neue Heimat zu finden. In der endgültig nationalstaatlich strukturierten Moderne, d.h einer Welt von Staaten mit national definierten »Staatsvölkern« und festgelegten territorialen Grenzen, gibt es auf der Welt keinen Ort, wohin MigrantInnen ohne Beschränkungen, Auflagen und letztlich willkürliche Prüfungen und Entscheidungen über Aufenthaltstitel oder gar Staatsbürgerschaft gehen könnten; kein Land, bzw.: kein Territorium, wo sie sich einfach ansiedeln und »assimilieren« können. Die neuen Zäune, Gräben, die massiven und milliardenschweren Grenzanlagen an EU-Außengrenzen und zwischen EU-Staaten, die in diesem Jahr plötzlich wieder eingesetzten mobilen Grenzkontrollen sind nicht Symbole, sondern Fakten dieser Realität. Die Auslagerung der Grenzen durch Abkommen etwa mit dem AKP-Regime in der Türkei, wie zuvor bereits mit nordafrikanischen Regimen, oder die auch physisch-geographische Exterritorialisierung des staatlichen Kontakts mit Staatenlosen über »hotspots« und Transitlager, erleichtert die Nichtgewährung von Asyl logistisch massiv und verlagert humanitäre Folgen staatlichen Agierens außerhalb der Grenzen seines souveränen Gebiets – was wiederum die Aufrechterhaltung des ideologischen Diskurses von europäischer Zivilität und grundsätzlicher Hilfsbereitschaft wie von »Menschenrechten« erleichtert. Derartige Maßnahmen sind teils historisch »bewährte«, teils neue Strategien und Werkzeuge der Stabilisierung dieses Systems.

Grundsätzlich besitzlos, sind die Staatenlosen grundsätzlich wertlos, kein Rechtssubjekt, als StaatsbürgerInnen ohne Staat entrechtet und jenseits der Rechtssysteme. Deshalb können sie interniert, mit Residenzpflicht belegt, deportiert werden. Das gilt auch und gerade in einer Zeit, in der viele Staaten als Einwanderungsstaaten eine umfangreiche Immigrationsgeschichte vorweisen und in der globale Migrationsbewegungen und Flüchtlingsströme dieses System unterlaufen und in Frage stellen.

Dabei ist die Lage der Staatenlosen, wie schon Arendt betonte, kein Problem von Platzmangel oder Bürokratie, sondern eines der politischen Organisation und der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es ist in diesem Zusammenhang nicht zufällig der Konsens der Mehrheit der Delegierten der nach dem Zweiten Weltkrieg an der Ausarbeitung der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« beteiligten Nationalstaaten gewesen, dass nach Artikel 14 jeder Mensch das Recht hat, »in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen«, und nicht, zu suchen und zu erhalten. Es gibt kein »Menschrecht auf Asyl«, nicht einmal für »Verfolgte«, für die es sowieso formal immer nur galt – es gibt auch völkerrechtlich kein Abkommen, dass die vagen und begrenzten Aussagen der UN-Flüchtlingskonvention von 1951 für unterzeichnende Staaten verbindlich interpretiert und Vorgaben zur Umsetzung macht. Das einzige, was es gibt, sind Staaten, die aus freier Entscheidung und aufgrund bestimmter Interessen, sei es aufgrund eines gewissen Selbstverständnisses, eines bestimmten einflussreichen ethischen öffentlichen Diskurses, aufgrund von wirtschaftlichen und geostrategischen Interessen o.ä., einer willkürlich gesetzten und bestimmten Gruppe Asyl zugestehen, und ihnen die Partizipation an Bürgerrechten in verschiedenen qualitativen Abstufungen zugestehen. So kann also einerseits klar die Lüge von »Menschenrechten« und »Freiheit« entlarvt werden – die Erklärung der Menschenrechte als solche ist unwirksam, allerorten, und war es schon immer. Doch andererseits muss dialektisch die Radikalität der Idee berücksichtigt werden, die, wie eingangs angesprochen, in einem Spannungsverhältnis zu den gesellschaftlichen Verhältnissen steht, die sie in dieser Form erst hervorgebracht haben – in einem Spannungsverhältnis natürlich erst recht zu politischen Strukturen und Akteuren, die die reale Negation von Menschenrechten im Namen von Menschenrechten fortschreiben und forcieren. Diesen Strukturen und Akteuren dient die Anrufung der Menschenrechte und der Freiheit bei der Verschleierung der Perpetuierung von Unfreiheit und Elend im direkten Sinne – oder indirekt, wenn zwar unmenschliches Handeln angegriffen wird, doch dessen mate­rieller Kontext, sein Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und die eigene Rolle in diesen unsichtbar bleiben. Wenn die »abendländische Tradition« oder »unsere Aufklärung« gegen die Anderen gestellt werden, wenn die Zustände in vielen Teilen der Dritten Welt als kulturelles Erbe, und nicht in ihrem eingangs

angerissenen Zusammenhang mit der blutigen europäischen Aufklärungs- und Zivilisationsgeschichte betrachtet werden, wenn man zerfallene Gesellschaften und Gewalt im Nahen Osten ohne IWF, Weltbank, OPAC oder »mediterrane Partnerschaft« verstehen will, wenn man sich auf das »bürgerliche Residuum« zurückzieht, ohne mit Marx oder Arendt die Janusköpfigkeit der bürgerlichen Verhältnisse und ihren Zusammenhang mit der globalen Barbarei zu erfassen. Es ist kein Zufall, dass auch in Deutschland jüngst die »Flüchtlingsfrage« vollkommen losgelöst von der Frage ihrer realen Fluchtursachen thematisiert wurde, dass der Staat – wenn überhaupt – im Namen von Menschenrechten und Moral und mit Verweis auf die doch so gut ausgebildeten Syrer angerufen wird, Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen Asyl zu bieten. Niemand argumentiert, dass er schlicht Verantwortung für seine eigene Politik, sein eigenes Handeln, sein eigenes Wirtschaften zu übernehmen habe. Dass eine der Ursachen für die Eskalation des Konflikts in Syrien im Sozialen zu suchen ist, in der massiven Verarmung ruraler »sunnitischer« Gebiete und »sunnitischer« Landflüchtlinge der Großstadtslums, eine Folge der Reformen im Agrarsektor und in der Industrie im Rahmen von neoliberalen »Strukturanpassungsprogrammen«. Niemand erwähnt die Protegierung der autoritären Regime im Nahen Osten, die Giftgasgeschäfte deutscher Firmen, den Zusammenhang zwischen Armut und Strukturanpassungsprogrammen von IWF- und Weltbank, die Tränengas- und Waffenexporte der USA oder Europas, die euro-mediterrane Partnerschaft »Geld und Waffen gegen Flüchtlingsbekämpfung«, katastrophales Agieren im Irak, katastrophales Nichtagieren in Syrien. Niemand, außer den entsubjektivierten, daher in der Öffentlichkeit ungehörten Flüchtlingen, von denen manche immer wieder verzweifelt rufen: »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört!« Präziser als staatliche und auch linke Debatten und Bezeichnungen ist die Selbstbezeichnung organisierter Flüchtlinge als »Non-Citizens«, die »an dem Zugang zu den Rechten gehindert werden, die die Citizens, die ›BürgerInnen‹, in dieser Gesellschaft haben. Von all den grundlegenden Rechten von Menschen bleibt uns Non-Citizens nur ein Platz zum Schlafen, Essenspakete zum Essen, Albträume von Abschiebungen und ein Leben in Angst und Terror.« Ganz bewusst steht im Zentrum ihrer Erklärung kein Appell an Menschenrechte, sondern das Ziel, »unsere Rechte zu erhalten und zu Citizens zu werden«. Erste Erklärung der Non-Citizens des Münchner Protestzelts. München 2013 (Hervorh. Hannes Bode). Verkürzt, doch präziser als jede relativierende Heuchelei. Die Kulturalisierung, die Biologisierung des Sozialen ist hier die wirkmächtigste Verarbeitungsform gesellschaftlicher Realität, wie auch in Armuts- oder Integrationsdebatten. Die Anrufung von Menschenrechten angesichts von rassistischer, immer mit sozialen Unterschieden verbundener und diese perpetuierender Diskriminierung auf globalem oder nationalem Maßstab etwa, verbleibt im ideologischen Spiel, solange die soziale Frage nicht gestellt wird.

Doch negativ gewendet kann die Idee sehr wohl Wirkmacht entfalten, als Idee dessen, was nicht ist, und dessen Umsetzung die Negation des Bestehenden, den Angriff auf die Verhältnisse voraussetzt. Ihre Wirkmacht entfaltet sie also kritisch, diskursiv, als Diskreditierung und Delegitimierung des Handelns staatlicher und nichtstaatlicher Akteure. Es ist dann auch die eben nicht »rational« begründbare, nicht »angeborene«, von keinem Staat vertretene, subjektive Setzung, wonach kein Mensch »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen« sein soll, die Handeln anleitet, das sich gegen die Logik der Verhältnisse stellt, auch wenn es nicht gesellschaftsverändernd wirkt. Aufklärung in diesem Sinne gibt es nur durch die Negation ihrer Realgeschichte: »›[L]iberté‹ ist ja ein Schlachtruf gewesen, mit dem das Bürgertum gegen den Adel gezogen; sie war Hoffnung und wurde Illusion, doch wenn auch die Hoffnung nicht eingelöst wurde und die Illusion bis zum Selbstbetrug absinkt, erlischt die Sehnsucht nach Freiheit deshalb noch nicht. Werden Surrogate verschmäht, wird sie nur brennender; stumpft sie nicht ab, wächst die Begierde nach ihr ins Paradoxe, und so bei jedem unabgegoltenen Ideal.« Franz Fühmann, Praxis und Dialektik der Abwesenheit, in Ders., Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981, Rostock 1983, 465.

Hannes Bode

Der Autor ist Historiker. Ausgehend von der »Negation« der Aufklärung denkt er im Sammelband Der Widerspruch der Kunst (Berlin 2015) über eine Utopie menschlicher Theorie und Praxis nach – über »Literatur, die Leiden beredt werden lässt«.