»Bündnispartner eines emphatischen Utopiebegriffs«

Ein Gespräch mit Christoph Türcke über die Psychoanalyse im Zeitalter der Neurowissenschaften und das gesellschaftskritische Potential der Freud’schen Triebtheorie

Christoph Türcke ist Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. In seinen Arbeiten widmet er sich der Verknüpfung von materialistischer Gesellschaftstheorie und Psychoanalyse. Zu seinen letzten Veröffentlichungen zählen u. a. Erregte Gesellschaft. Philosophie der Sensation, Philosophie des Traums und der Essay »Jesu Traum. Psychoanalyse des Neuen Testaments«. Im März erscheint sein neues Buch Hyperaktiv! Kritik der Aufmerksamkeitsdefizitkultur.

Phase 2: Herr Türcke, in Ihrem Werk spielte Sigmund Freud ja nicht von Anfang an eine so herausragende Rolle wie heute. Daher würde uns interessieren, wie Sie zu Freud gekommen sind, welche Rolle er in Ihrer intellektuellen Biographie gespielt hat und welche Fragen sich Ihnen durch die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse neu oder anders erschlossen haben?

Christoph Türcke: Zu Freud bin ich über die Religionskritik gekommen. Während meines Theologiestudiums in Zürich sagten mir kritische Kommilitonen: »Du musst Freud lesen, daran kommen wir als Theologen nicht vorbei.« Das war noch in studentenbewegten Zeiten. Da habe ich die Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse aufgeschlagen, war vollkommen fasziniert und vergaß alles um mich herum. Freud hatte wie Amor seinen Pfeil auf mich abgeschossen. Die Wunde war da und musste erst einmal etwas schwären. Ihre Langzeitwirkung war damals natürlich noch nicht absehbar. Für meine Umgangsweise mit dem Neuen Testament in meiner Dissertation war Freud aber bereits eine zentrale Figur. Auch danach habe ich noch einiges zu seiner Religionstheorie geschrieben, Texte mit Titeln wie Totemmahlzeit und Abendmahl. Aber dann trat Freud etwas in den Hintergrund gegenüber zwei anderen Religionskritikern, nämlich Karl Marx und Friedrich Nietzsche. Erst in den neunziger Jahren, als ich an eine Neubesichtigung der Kritischen Gesellschaftstheorie unter den veränderten Verhältnissen nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ging, drängte Freud sich zunehmend in den Vordergrund. Dabei spielte auch eine Lehrerfahrung eine Rolle: Ich merkte, dass die Studierenden hier an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst wie elektrisiert auf Freud reagierten. Dann muss was dran sein, sagte ich mir. Kunststudierende sind immer Seismographen. Also musste ich mir das genauer anschauen und noch einmal richtig nachsitzen. So habe ich allmählich einen nicht nur religionstheoretischen, sondern umfassend kulturtheoretischen Zugang zur Psychoanalyse gewonnen. Für diesen Zugang ist Freuds Formulierung aus der Traumdeutung, dass der Traum eine »primitive Denktätigkeit« sei, eine Schlüsselformulierung geworden. Von ihr aus habe ich später meine ganze Philosophie des Traums entwickelt. Sie enthält eine Kulturtheorie, die sowohl Gesellschaftstheorie als auch Religionstheorie sein will. Darin soll all das, was bei Marx unter der Überschrift »Fetischcharakter der Ware« verhandelt worden ist, noch einmal aus einer neuen Perspektive betrachtet werden. Der Fetischbegriff muss psychoanalytisch durchdrungen werden. So hat mich also gerade Marx, der eine gewisse Zeit lang den klaren Vorrang als Theoretiker hatte, wieder zu Freud hingeführt. Inzwischen sehe ich durchaus die Möglichkeit, von der Psychoanalyse aus einen gesellschafts- und kulturtheoretischen Gesamtzugriff zu entwickeln. In dessen Fahrwasser habe ich mich in den letzten Jahren bewegt.

Phase 2: Der Begriff des Fetischs hat tatsächlich zahlreiche weitere Konnotationen, die bei Marx keine Rolle spielen. Können Sie etwas genauer erklären, warum der Fetischbegriff bei Marx unzureichend ist?

Christoph Türcke: Der Fetischbegriff enthält ungleich mehr als die wenigen Andeutungen über die Verkehrung der Verhältnisse, die Marx damit verknüpft. Insofern ist die Formulierung vom »Fetischcharakter der Ware« gleichsam klüger als ihr Autor. Um Fetischbildung zu verstehen, muss man verstehen, was Projektion ist, und das geht nicht ohne Psychoanalyse. Wir projizieren, wenn wir Anteile unserer eigenen psychischen Konstitution, vor allem Ängste und Wünsche, auf ein äußeres Objekt verlagern. Im therapeutischen Alltag konstatieren die Analytiker dabei eine realitätstrübende Verschiebung von innen nach außen. Aber es passiert ja viel mehr. Projektion ist eine mentale Urleistung. Etwas, das tief trifft und erschüttert, wahrnehmen, als wäre es außen, das ist der Anfang der Imagination. Unerträgliches Inneres nach außen kehren, eine erste Distanz dazu gewinnen, indem man es sich buchstäblich vor-stellt, als höhere Gewalt, mit der man sich arrangieren muss, aber auch kann. Das ist die ungeheure altsteinzeitliche Leistung der Triebumkehrung, mit der die mentale Arbeit der Imagination, der Vorstellung, begonnen hat, also die »primitive Denktätigkeit«, deren Rückstände Freud am Traum analysiert hat. Es gibt keine Vorstellung ohne projektives Moment. Und Projektion ist nicht nur etwas Individuelles, sondern ein menschenspezifischer Mechanismus, der die ganze Spezies einschließt.

Das Gleiche gilt für die anderen Schlüsselkategorien der Psychoanalyse. Insofern hätte ich sogar einen gewissen Versöhnungsvorschlag für Freud und seinen Schüler und späteren Erzrivalen Carl Gustav Jung. Ich zögere überhaupt nicht, mit Jung von einem »kollektiven Unbewussten« zu sprechen. Man darf es bloß nicht wie Jung ontologisieren, also unterstellen, dass sich irgendwann einmal am Menschheitsanfang ursprüngliche Bewusstseinsinhalte in Form von »Archetypen« oder Mythen in die Tiefenschicht der Psyche eingesenkt hätten oder darin immer schon vorhanden gewesen seien und seither immun gegen jeglichen geschichtlichen Wandel darin fortexistierten. Gelegentlich kokettiert Jung mit Kant und sagt, das kollektive Unbewusste sei genauso strukturiert wie bei Kant das transzendentale Subjekt. Das stimmt natürlich nicht. Kants »reine Verstandesbegriffe« sind strikt als reine Formen gedacht, Jungs »Archetypen« als bildhafte, mythische Inhalte. Aber eines ist richtig: Beide, sowohl das transzendentale Subjekt Kants als auch das »kollektive Unbewusste« Jungs, sind ahistorisch konzipiert als immer schon da seiend. Wie sie entstanden sind, dass sie als Niederschlag von Naturgewalt als Resultate der kollektiven Auseinandersetzung mit Natur zu begreifen sind, wird ausgeblendet. Dabei muss man gar nicht leugnen, dass es unbewusste Strukturen gibt, die in allen Mitgliedern der Spezies Homo sapiens gleichartig angelegt sind. Dazu gehören das Projektionsvermögen und das, was Freud den »Primärvorgang« genannt hat: die für die Traumbildung zentralen psychischen Mechanismen der Verdichtung, Verschiebung und Umkehrung. Ich erachte diese nicht nur für den Traum, sondern für jegliche Denkaktivität als konstitutiv. Aber sie sind nicht vom Himmel gefallen, sondern beim Versuch der Bewältigung traumatischer Erfahrung entstanden. Wenn Freud nicht in allen Individuen ein solches kollektives Grundvermögen voraussetzen würde, wäre er nicht in der Lage auch nur einen einzigen Traum zu deuten. So gesehen, ist das Wort vom »kollektiven Unbewussten« gar keine Fehlkategorie. Genauso wie man sagen kann, dass die Strukturen der Qualität, der Quantität, der Modalität und Relation, auf die Kant das kategoriale Erkenntnisvermögen gründet, »kollektiv« sind, weil sie sich in allen Menschen finden.

Phase 2: Wie schon Freud übertragen Sie Begriffe und Kategorien, die an der Analyse einzelner Individuen gewonnen wurden, aufs Kollektiv oder versuchen damit gar die Anfänge der Menschheitsgeschichte einzuholen. Beide Ebenen scheint jedoch ein kaum zu überwindender Graben zu trennen. Wie kann man diese Gedankenbewegung von der Ontogenese zur Phylogenese, von der individuellen Entwicklung zur Gattungsentwicklung überzeugend und jenseits reiner Spekulation vollziehen?

Christoph Türcke: Dazu behelfe ich mich mit dem kantischen Begriff der Bedingung der Möglichkeit. Das ist die Denkweise des »Nicht ohne«. Man wird die Menschwerdung nie vollständig erklären können. Aber man kann feststellen, dass sie »nicht ohne« gewisse Faktoren möglich war. Es gibt Kultur »nicht ohne« Opfer. Und Opfer nicht ohne einen Mechanismus, der bei Freud »traumatischer Wiederholungszwang« heißt. Ohne diesen Zwang, von außen einbrechende traumatische Erlebnisse eigeninitiativ zu wiederholen, sie immer wieder in Eigenregie zu veranstalten, um nicht zu sagen, zu zelebrieren, um so deren Schreckgewalt allmählich abzuarbeiten, damit umgehen und leben zu lernen, hätte es zum Opfer schlechterdings nicht kommen können. Anders gesagt: Der traumatische Wiederholungszwang ist Bedingung der Möglichkeit des Opfers. Er muss etwas Kulturstiftendes haben. Und so arbeite ich seine kulturstiftenden Momente heraus. Dazu historisiere ich in gewisser Weise den Begriff der Bedingung der Möglichkeit, der bei Kant ahistorisch, transzendental gedacht worden ist, und übersetze ihn in genealogisches Denken. Über den Versuch über die Genealogie, das heißt die Entstehungslogik, an die Dinge heranzukommen, habe ich viel bei Nietzsche gelernt, vor allem aus seiner Genealogie der Moral. Auch Freud hat einen genealogischen Zugang. Nur hat er bestimmte, daraus resultierende Erkenntnisse gleichsam unter Wert verkauft, vor allem den Primärprozess, der seine wirklich große Entdeckung ist. Bezeichnenderweise nennt Freud selbst den Primärprozess – und nicht etwa den Ödipuskomplex – »unsere bisher tiefste Einsicht in das nervöse Geschehen«. Ich knüpfe an diese Einsicht an und sage, dass Freud im Grunde viel mehr daraus hätte machen können, nämlich eine ganze Kulturtheorie. In seinen eigenen kulturtheoretischen Schriften, in Totem und Tabu etwa oder dem Unbehagen in der Kultur, kommt der Primärprozess kaum vor. Sein Erkenntnispotential wird dort bei weitem nicht ausgeschöpft. Es gibt dafür natürlich Gründe. Freud verstand sich in erster Linie als Arzt. Auch ökonomisch war er zeitlebens von der Arztpraxis abhängig. Wenn er angefangen hätte, frei zu philosophieren, dann hätte er seine Praxis nicht weiter betreiben können. Aber seine Theorie geht eben über die Praxis, von der sie abhängt, weit hinaus. Sie ragt in die Philosophie, die sie nicht sein will, weit hinein. Diesen Zwiespalt bekommt man nicht weg. Vielmehr ist er geradezu ein Lebenselixier der Psychoanalyse. 

Phase 2: Sie haben eben das komplexe Verhältnis von psychoanalytischer Theoriebildung und klinischer Praxis angesprochen. Wie würden Sie die Psychoanalyse vor allem vor dem Hintergrund der neueren Entwicklungen in den Neurowissenschaften insgesamt charakterisieren? Ist das überhaupt eine Wissenschaft im engeren Sinne?

Christoph Türcke: Neben dem eben erwähnten Zwiespalt halte ich noch einen anderen für ein Lebenselixier der Psychoanalyse: Sie ist so etwas wie eine über sich selbst hinausgewachsene Neurologie. Diesen Charakter löst man nicht auf, indem man sagt, eigentlich sei sie eine streng klinische Praxis mit einem streng wissenschaftlichen Setting, nur dass Freud gelegentlich schwach geworden sei und dann kulturtheoretisch herumschwadroniert hätte. Das ist die eine Form von Vereinseitigung der Psychoanalyse. Die Rede vom »szientistischen Selbstmissverständnis« ist die andere. So wurde – zum Beispiel von Jürgen Habermas – gesagt, eigentlich sei die Psychoanalyse doch eine Hermeneutik; sie habe sich bloß selbst als klinische Naturwissenschaft missverstanden. Das sind Vereindeutigungsversuche, die aus dieser über sich selbst hinausgewachsenen Neurologie die vitale Spannung herausnehmen. Freud hat nie ganz aufgehört Neurologe zu sein. Auch in späteren Schriften kommt er immer wieder auf neurologische Einsichten aus seiner Frühzeit zurück. Man tut der Psychoanalyse keinen Gefallen, wenn man sie auf reine Psychologie reduziert, die mit »diesen Neurowissenschaften« nichts mehr zu tun haben soll. Solche Reaktionen sind jetzt häufig. Sie sind zwar verständlich, wenn in Betracht gezogen wird, dass überall an den Universitäten die Lehrstühle für Psychoanalyse durch solche für Neurobiologie ersetzt werden. Zudem kann Neurobiologie allein natürlich diesen ganzen Bereich des Primärprozesses nicht wirklich erreichen. Aber mit dem Zugriff von Leuten wie Mark Solms, die eine Synthese von Neurologie und Psychoanalyse anstreben und sagen, dass sie »Neuro-Psychoanalyse« machen, bin ich ein ganzes Stück weit d‘accord. Zumal sich dabei zeigt, dass viele neuere Erkenntnisse der Neurologie die Psychoanalyse gerade bestätigen und nicht widerlegen. Nur wenn »Neuro-Psychoanalyse« jetzt als der neueste Knüller ausgegeben wird, dann ist meine Entgegnung immer, dass das so ein Wort wie »Volksdemokratie« ist. Jede gescheite Psychoanalyse ist »Neuro«. Der Kronzeuge dafür ist Freud selbst.

Damit sind wir bei den Konfrontationen angekommen, in denen sich die Psychoanalyse gegenwärtig befindet. Die Abschottung gegen die Neurowissenschaften und das Bestehen auf einen rein psychologischen Zugriff kann sich zwar auf einige isolierte Freud-Zitate beziehen. Aber genau an diesen Stellen ist Freud meines Erachtens nicht ganz auf seiner eigenen Höhe und sein Gesamtwerk weist eindeutig in die Gegenrichtung. Zudem hat es die Psychoanalyse auch gar nicht nötig, sich gegen die Neurobiologie abzuschotten. Bestimmte psychische Vorgänge – nämlich genau die, die den Primärprozess ausmachen – sind schlechterdings nicht messbar. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sie mit neurophysiologischen Messmethoden demnächst doch noch messbar werden. Davon kann man mit ähnlicher Gewissheit ausgehen, wie man sagen kann, dass keine Naturwissenschaft je die erste Kantische Antinomie auflösen können wird – also eine Antwort auf die Frage finden wird, ob die Welt einen Anfang hat oder ewig ist.

Phase 2: Es ist interessant zu beobachten, dass es in den letzten Jahren bedingt durch den Aufstieg der Neurowissenschaften tatsächlich eine Art Comeback der Natur im wissenschaftlichen Diskurs gibt. Nachdem lange eine poststrukturalistische Kritik an jeglichem Naturbegriff en vogue war, gibt es offensichtlich nun durch die Entwicklungen in den Neurowissenschaften eine Rückkehr zu einem Begriff von Natur, der relativ unhinterfragt gesetzt wird. Auch Sie machen in ihren Texten den Naturbegriff in einem materialistischen Sinn stark und greifen dafür auf die Psychoanalyse zurück. Was für ein Naturverständnis würde eine solche, materialistische Herangehensweise nahe legen und inwiefern würde es sich von einem naiven Naturbegriff unterscheiden, wie er teilweise von den Neurowissenschaften verwendet wird?

Christoph Türcke: Die Formulierung der »über sich selbst hinausgewachsenen Neurologie« würde meine materialistische Position enthalten. Einerseits gilt: Neurologie genügt nicht. Deshalb muss sie über sich hinauswachsen. Andererseits gilt die neurologische Tatsache, dass wir in einem ganz elementaren, aber auch mehrfachen Sinne »Nervenbündel« sind. Genau das aber hat der Strukturalismus ausgeblendet. Dass Kultur aus der Notwehr von Nervenbündeln hervorgegangen ist,  kommt bei ihm schlicht nicht vor. Der Strukturalismus ist unfähig, genealogisch zu denken. Das ist meine Grundsatzkritik. Er ist außerdem eine ontologisch-platonisierende Theorie und setzt Strukturen als immer schon Vorhandenes, also genauso wie die Platoniker Ideen gesetzt haben. Was die Psychoanalyse betrifft, so gibt es eine bekannte, an den Arbeiten Jacques Lacans orientierte Richtung, die den ganzen Seelenhaushalt in immer schon existierende Sprachstrukturen, in ein Spiel von Signifikanten und Signifikaten auflöst und die Naturbasis all dessen weitgehend verdampfen lässt. Von der Position der »über sich selbst hinausgewachsenen Neurologie« aus gehe ich gerade umgekehrt vor. Ich möchte das Natursubstrat zentraler philosophischer oder erkenntnistheoretischer Begriffe wiedergewinnen. Betrachten wir einmal den Primärvorgang und seine drei zentralen Mechanismen der Verdichtung, Verschiebung und Umkehrung: Verdichtung ist eigentlich ein materialistisches Wort für Synthesis. Da werden Dinge ineinandergeschoben, zusammengeschoben, verdichtet, synthetisiert. Verschiebung ist für mich ein anderes – wiederum materialistisches – Wort für Abstraktion. Da wird etwas von einer bestimmten Sphäre abgezogen und in eine andere, in eine mentale Sphäre verschoben. Und Umkehrung ist schließlich ein anderes Wort für Reflexion, für eine Zurückbiegung auf das, wo man herkommt. Nun haben diese drei psychoanalytischen Begriffe für mich einen unschätzbaren Vorteil. Die Philosophie hat ihre Begriffe – Synthesis, Abstraktion, Reflexion – als Ursprungskategorien behandelt. Sie sind da, haben aber keine Herkunft. Bei Kant ist die Synthesis spontan; mehr kann darüber nicht gesagt werden. Der Freud’sche Begriff der Verdichtung lässt hingegen eine Art Motiv für die von ihm bezeichnete Funktion erkennen: Verdichtung hat als Naturbewältigungs- und Schutzmaßnahme angefangen. Etwas Ähnliches lässt sich auch über Verschiebung und Umkehrung sagen. Den Spieß umkehren heißt immer zugleich sich gegen etwas wehren. Die Ur-Umkehrung ist für mich der traumatische Wiederholungszwang, die Bejahung des Schreckens um der Überwindung des Schreckens willen. Meine These ist, dass der traumatische Wiederholungszwang die urdialektische Kategorie ist. Damit ist weder reines Spielen eines absoluten Geistes mit sich selbst gemeint, eine »Bewegung von Nichts zu Nichts durch sich selbst zurück« wie das bei Hegel heißt, noch die Engels‘sche Version einer ewig in sich spielenden Naturdialektik. Dialektik ist vielmehr eine Notmaßnahme gegen den Schrecken der Natur. Sie ist nichts Selbstgenügsames, sie findet statt, damit sie irgendwann einmal aufhören kann. Das wäre für mich eigentlich erst ein materialistischer Dialektikbegriff. Wendet man schließlich den Begriff von Verschiebung entsprechend materialistisch, so macht er deutlich, dass Abstraktion zunächst ein Abziehen äußerlicher Begebenheiten in einen inneren mentalen Raum gewesen ist. Innerhalb dieses Schonraums können sie dann in Eigenregie weiterbearbeitet werden. Und diese Eigenregie, so meine These, ist eine erste Form von Freiheit, der innere Schonraum, der mentale Raum ist also der erste Freiraum. Seine äußere Entsprechung ist der Schonraum des Tempels, der heilige beziehungsweise rituelle Raum. Das lässt sich am später institutionalisierten Asylrecht ablesen. Das Asyl im Tempel ist eine Elementarform von physischer Freiheit. So sähe ein materialistischer Zugriff auf die zentralen psychoanalytischen Kategorien aus, durch den man zeigen kann, dass sie auch für Erkenntnistheorie konstitutiv sind.

Phase 2: Wir würden gerne noch einmal auf das »Comeback der Natur« zurückkommen. Dieser naive Zugriff auf Natur im Allgemeinen und auf das Gehirn im Besonderen ist nicht nur ein Wissenschaftsphänomen. Er zeigt sich auch an den zahllosen Angeboten für »Gehirnjogging«, die auf die optimale Ausnutzung unseres Gehirns abzielen. Wie würden Sie solche Phänomene und die Debatten um »Neuro-Enhancement« zu besagtem naiven Naturbegriff ins Verhältnis setzten und wie lassen sie sich politisch einordnen? 

Christoph Türcke: Wir erleben zurzeit tatsächlich einen vollkommen ungerechtfertigten Autoritätsbonus für alle psychologischen oder pädagogischen Thesen, die irgend hirnwissenschaftlich unterlegt daherkommen. Es gibt neben der seriösen Neurobiologie alle möglichen unseriösen Anleihen bei ihr. Die neue Empfänglichkeit der Öffentlichkeit für »Neuro« ist gewiss nicht nur auf die großen biowissenschaftlichen Fortschritte der letzten Jahre zurückzuführen. Da findet wohl auch eine Gegenbewegung gegen einen gewissen Machbarkeitswahn statt, der im sozialwissenschaftlichen Diskurs im Zuge des Strukturalismus und Poststrukturalismus eine Zeit lang die Oberhand hatte. Es wurde davon ausgegangen, dass Strukturen einfach gemacht seien und man sie daher auch beliebig anders setzen könne. Gesellschaft wurde, im Fahrwasser von Habermas wie von Foucault, auf einen Diskurs verdünnt und dabei wird suggeriert, wir müssten bloß einen anderen Diskurs etablieren, dann hätten wir auch schon eine andere Gesellschaft eingerichtet. Hierbei ist schlicht ignoriert worden, dass die Machbarkeit von Gesellschaft Naturschranken hat, die in unserer physischen Konstitution als Triebwesen liegen. Insofern scheint mir die Rückkehr zur Naturwissenschaft und der Aufstieg der Hirnphysiologie zunächst einmal ein Stück Wiedergewinnung von Realitätstüchtigkeit zu sein. Die Kehrseite dabei ist, dass diese Wissenschaft sehr unpolitisch agiert; kritische Gesellschaftstheorie liegt ihr fern. Ihre interne Forschung wird dadurch nicht getrübt. Sie kann trotzdem seriös sein und ist es größtenteils auch. Unseriös sind dagegen die neuen, konformistischen Machbarkeitspropheten. Einige behaupten, dass das Gehirn erst zu 10 Prozent ausgelastet sei und die anderen 90 Prozent brach lägen. Also machen wir die 90 Prozent nutzbar. Das ist natürlich Unsinn. Umgekehrt: Nur solange unser Gehirn ein Backoffice von unbeanspruchten oder weniger beanspruchten Hirnarealen hat, gelangt es überhaupt zu vernünftigen, nachhaltigen Gedanken. Die Vorstellung, dass man es wie ein Großraumbüro vollständig funktionalisieren könnte, ist kontraproduktiv. Wenn Hirnphysiologen propagieren, dass wir die brachliegenden Teile mehr nutzen müssten, zum Beispiel durch Multitasking, dann glaube ich, dass sie ihre eigenen empirischen Untersuchungen völlig missverstehen. Das Problem innerhalb der Hirnphysiologie ist immer die Interpretation der eigenen Forschungsergebnisse. So wird bisweilen ungeschützt davon geredet, »das Gehirn« tue dies und das. Es besetzt damit die Stelle, die früher in der Philosophie das Ich eingenommen hat. Ich habe ein Gehirn, aber mein Gehirn ist nicht mein Ich. Das wird verwechselt. Auch in der Hirnphysiologie wird gelegentlich gedankenlos mit den eigenen fachspezifischen Einsichten umgegangen. Da darf, ja, da muss der Philosoph einhaken und »Moment mal« sagen, auch wenn er selbst nicht in der Lage ist, im Labor neurologische Fachresultate zu erzielen. Aber er kann zeigen, dass »Neuro-Enhancement« das Paradebeispiel einer naturwissenschaftlich verbrämten, konformistischen Machbarkeitsideologie darstellt. Das Gehirn durch alle möglichen Aufputschmittel funktionsfähiger zu machen, heißt schlicht und einfach es maschinenmäßiger zu machen und dem Betrieb anzugleichen. Wenn die Neurophysiologie dafür eingesetzt wird und Fachleute kritiklos daran mitarbeiten, dann muss ihnen tatsächlich ein szientistisches Selbstmissverständnis ihres eigenen Fachgebiets attestiert werden. Dann ist ein rotes Warnsignal dringend an der Zeit. Aber die Besonnenen, zu denen ich Leute wie Gerald Hüther oder Gerhard Roth zähle, tun das nicht.

Phase 2: In gegenwärtigen Diskussionen wird von konstruktivistischen oder dekonstruktivistischen Positionen zum Beispiel im Hinblick auf die soziale Konstitution von Geschlecht eine ziemlich große Gestaltungsfreiheit propagiert. Wenn man wie Sie eine Naturschranke stark macht, schränkt man damit solche Vorstellungen ein. Schon Freud hat die Einsichten der Psychoanalyse als Dritte unter die großen, von wissenschaftlicher Erkenntnis verursachten Kränkungen der Menschheit gerechnet. Man könnte das so verstehen, dass damit auch dem größten narzisstischen Traum der Menschheit, nämlich Erlösung, Befreiung oder Kommunismus, eine Absage erteilt wird. Lässt sich mit Freud Versöhnung überhaupt denken und bedeutet Ihre Hinwendung zu Freud zugleich eine Entfernung von Marx und utopischem Denken überhaupt, was Ihnen ja auch vorgeworfen wurde?

Christoph Türcke: In gewisser Weise führt der Freud’sche Triebbegriff, so wie ich ihn verstehe, auf utopische Gehalte in ihrer emphatischsten Form hin. Ich bestimme den Trieb nicht primär libidinös, das Libidinöse ist ja schon die zweite Schicht. Es gibt darunter etwas »Triebhafteres«, wie Freud an einer denkwürdigen Stelle in Jenseits des Lustprinzips sagt. Er meint damit den traumatischen Wiederholungszwang. Aber er verwendet den Komparativ »triebhafter« nie wieder. Er ahnt, das würde seine ganze Libido-Triebtheorie untergraben. Und auf die baut doch seine ganze ärztliche Praxis. Aber genau bei diesem »Triebhafteren« setze ich an. Trieb ist »Reizflucht« (auch ein Freud’scher Begriff). Entweder Flucht vor dem Reiz oder, wie im traumatischen Wiederholungszwang, Umkehrung der Triebrichtung, Flucht nach vorn, die den Reiz durch seine permanente Wiederholung fliehen lässt, ihm eine Abfuhr erteilt. Freud wollte an seine große Einsicht, dass der traumatische Wiederholungszwang der reflexiv gewordene, spezifisch menschliche Trieb ist, nicht heran. Deshalb führt er den Todestrieb ein. Der ist eigentlich nur eine Chiffre des traumatischen Wiederholungszwangs. Er versucht den Todestrieb durch sein Spannungstheorem plausibel zu machen. Trieb ist Spannung und stets auf seine eigene Abspannung aus, auf Spannungsabbau, wie er das nennt. So weit, so gut. Freuds Missverständnis beginnt dort, wo er suggeriert, dass der Trieb den vollständigen Spannungsabbau, also den Tod wolle. Ich halte dagegen, dass der Trieb selbst auf etwas Utopisches zielt, denn er will vollständigen Spannungsabbau erleben. Solches Erleben findet sich zum Beispiel bei Augustinus formuliert, wenn er die ewige Seligkeit als den Zustand ungetrübter Glücksempfindung beschreibt, der kein Ekel folgt. Dieses glückliche ewige Gesättigtsein kommt im realen Leben nicht vor. Es ist ein Unding, ein Utopos. Es gibt Glücksmomente, die fühlen sich so an. Aber sie sind nie vollständiger Spannungsabbau, denn da würde gar nichts mehr gefühlt; das wäre der Tod. Eigentlich, so meine These, trägt der Trieb in sich selbst eine utopische Vision und will auf Versöhnung hinaus. Aggression und Gewalt, die Freud fälschlich mit dem Todestrieb zu erklären versucht, haben dagegen eigentlich Enttäuschungscharakter und stehen dafür, dass der Abbau der Triebspannung nicht erfolgreich war.

So gesehen sind der Freud’sche Triebbegriff und die Psychoanalyse insgesamt durchaus Bündnispartner eines emphatischen Utopiebegriffs. Nun die Kehrseite: Was lässt sich unter gegenwärtigen Verhältnissen davon realisieren? Da ist Freud höchst skeptisch gewesen. Im Hinblick auf das Geschlechterverhältnis finde ich das übrigens gar nicht gravierend. Es funktioniert nicht nur nicht, das Geschlecht in eine soziale »Konstruktion« aufzulösen, sozusagen in gender ohne sex; es ist auch nicht schlimm, dass es nicht funktioniert. Es kann doch nicht um die Auflösung der Geschlechter gehen, sondern nur um ihre Befriedung. Wer sagt denn, dass die Geschlechter sich bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag immer nur befehden müssen und dass es keine Versöhnungsperspektive gibt, solange eigene, nicht austauschbare Natursubstrate des Mann- oder Frauseins fortbestehen. Ohne Differenz keine Versöhnung, würde ich umgekehrt sagen. Viel gravierender ist die Frage, wie weit eine Gesellschaft machbar ist, in der jeder nach seinen Fähigkeiten tut und jedem nach seinen Bedürfnissen gegeben wird. Wie weit spielt die menschliche Triebnatur da mit? Einerseits hat sie den besagten utopischen Charakter, andererseits, und das ist das große Problem, artikuliert sie sich auf eine asoziale Weise; Triebe sind rücksichtslos. Diese Eigenschaft werden sie nicht abstreifen können. So gießt die Rückbesinnung auf die Natur im Subjekt doch einiges Wasser in den utopischen Wein und relativiert überschwängliche Machbarkeitsvorstellungen. Ich würde gegenwärtig gar keine Prognosen in Bezug auf die Realisierbarkeit von Befreiung wagen, sondern sagen, dass nach wie vor ausprobiert werden muss, wie weit die so genannte condition humaine reicht. Wo die Naturschranken liegen, erfährt man nur durch Ausprobieren. Zudem haben Naturschranken selbst einen historischen Index und liegen nicht von vornherein fest. Dass Arbeit nie einfach Lust werden wird, Gesellschaft nicht ohne Frustration auskommen kann und der Trieb, der diesen utopischen Charakter hat, sein asoziales Moment nie verlieren wird, das allerdings kann man jetzt schon sagen. Ich denke, dass damit auch die Grenzen der Marx´schen Utopie bezeichnet sind. Zugleich würde ich gern die drei von Freud genannten narzisstischen Kränkungen um eine vierte ergänzen. Auch Marx hat uns, mit dem Verblassen des von ihm projektierten Sozialismus, eine große Menschheitskränkung hinterlassen. Diese besteht darin, dass die kapitalistische Gesellschaft mit ihrer Produktion von allem möglichen unnötigen Elend, von unnötigen Versagungen und Frustrationen hartnäckig fortdauert, und dass ihre Aufhebung, die sie selbst verheißt, von ihr – und damit in gewisser Weise auch von uns als ihren Angehörigen, wenn auch nicht von uns allen gleichermaßen – durchkreuzt und verhindert wird. Auch die Gesellschaftskritiker tragen zum Fortbestand der Gesellschaft bei. Auf diese Kränkung hatte Marx es nicht abgesehen. Sie hat sich überhaupt erst im Nachhinein herausgestellt. Es handelt sich um eine posthume Kränkung, die aber sehr gut in Freuds Kränkungskonzept passt. An dieser Stelle ist Freud durchaus ein großer Geschichtsphilosoph und ich sehe hier erneutes Verbindungspotenzial mit Marx, über das weiter nachzudenken zu meinen angelegentlichsten Aufgaben gehört.

Phase 2: Die Kränkung besteht also darin, dass in dem Moment, in dem die Mittel dafür bereitstünden, keine befreite Gesellschaft hergestellt wird?

Christoph Türcke: Ja. Oder in den Worten von Schillers Ästhetischer Erziehung: Der »große Augenblick« – womit ich nicht wie Schiller die Französische Revolution meine, sondern eine gesellschaftliche Gesamtlage mit enormem Befreiungspotenzial – findet ein Menschengeschlecht vor, das ihm nicht gewachsen ist. Nach Schiller gibt es dafür nur eine Lösung: nachsitzen, nacharbeiten und dann einen zweiten Anlauf probieren. Ästhetische Erziehung, wie er sie versteht, hat übrigens viel mit Triebkultivierung zu tun. Auch wir sind in einer Phase des Nachsitzens und Nacharbeitens und müssen schauen, was wir dabei an Möglichkeiten entdecken können. Das ist aber nur dann aussichtsreich, wenn wir die emphatische und das heißt die teleologische Seite des Utopischen als etwas in der menschlichen Triebstruktur Verankertes zur Kenntnis nehmen. Aber auch die Kehrseite. Der Trieb will die Utopie, die ewige Seligkeit für sich; er bleibt rücksichtsloser Egoist. Die Triebzähmung, die Erziehung, die Notwendigkeit über die eigene Triebstruktur hinauszuwachsen, wird sich wohl nie erübrigen. Das besagt aber nichts gegen den utopischen Fluchtpunkt. Als Maß für bereits Realisiertes und für noch Ausstehendes ist er unverzichtbar. Er ermöglicht unverkürztes Denken. Er stellt all den Selbstzufriedenen, die nichts Höheres mehr kennen als Menschenrechte oder Demokratie, ein Armutszeugnis aus. Man muss die Utopie niemandem von außen aufdrücken, sondern sich nur auf die menschliche Triebstruktur besinnen, in der sie schon angelegt ist. Die Rede vom Ende der Utopie ist Schwachsinn und führt nur dazu, dass sie verdrängt wird und dann als rückwärtsgewandte Utopie wiederkehrt, zum Beispiel in Form von Fundamentalismus. Wir werden die Utopie nicht los, nur weil ein bestimmtes Sozialismuskonzept nicht mehr sehr vielversprechend oder glaubwürdig ist. Die Psychoanalyse kann helfen, das in Erinnerung zu behalten, und ist nicht einfach nur eine Bremserin utopischen Denkens – ganz im Gegenteil.

Phase 2: Herr Türcke, wir danken Ihnen für das Gespräch.