Bürgerliches Versprechen - linkes Glück?

Zum Antisemitismus in der Linken

Bei dem folgenden Text handelt es sich um die bearbeitete Fassung eines Referates des Bündnisses gegen Antisemitismus und Antizionismus aus Berlin. Im Kontext der Veranstaltung, auf der dieses Referat gehalten wurde, ging es um die Frage, ob angesichts des Antisemitismus der Linken, Interventionen in die Friedens- oder globalisierungskritische Bewegung zu befürworten sind, oder ob hier schlichtweg reaktionäre und aufklärungsresistente Ideologie am Werke ist.

Im Umgang mit antisemitischen Artikulationen der Linken hat sich bei Teilen dieser selbst als Reaktion seit einiger Zeit eine Absage an bisherige Politik und linke Bewegungen herausgebildet. Diese wird von vielen als Hinwendung zur bürgerlichen Gesellschaft kritisiert. Im Folgenden soll angerissen werden, dass eine linke Solidarität mit Israel als Konsequenz aus Struktur und Geschichte des Antisemitismus nötig ist, dies jedoch keinesfalls zwangsläufig eine Absage an die Linke oder gar ein Reinfallen auf bürgerliche Ideologie bedeutet.

I. Von einem Teil der deutschen Linken wird die Absage an traditionelle linke Politik v.a. an der Forderung nach Solidarität mit Israel festgemacht. Das dümmlich-autonome Geschwätz, „dass die Theorie des Zionismus von einem völkischen Nationalismus geprägt ist“ (nofw: Naher Osten – ferner Westen), ein Partei-Ergreifen für den jüdischen Staat ergo keine linke Position sei, lohnt dabei nicht der weiteren Erörterung. Spannender ist der Einwurf, es habe durch die Israel-Solidarität eine linke Neuorientierung stattgefunden, so dass nun der völkisch-antisemitischen Raserei die vermeintlichen Segnungen der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber gestellt würden.
Gegenüber dieser Konfrontation von antisemitischem Wahn und bürgerlichen Standards gilt festzuhalten: Sicherlich ist es sympathisch, dass Israel im Unterschied zu den arabischen Gesellschaften über bürgerliche Rechtsstandards und eine sehr kontroverse politische Öffentlichkeit verfügt. Dies kann das Solidaritätsverständnis aber nicht im Kern berühren. Hierbei geht es vielmehr um negative Solidarität gegen alle antisemitischen Angriffe auf den jüdischen Staat und seine BürgerInnen. Eine solche weiß zwischen Israel als Refugium vor Antisemitismus, zwischen der institutionellen Verfasstheit der israelischen Gesellschaft und den konkreten israelischen Regierungspolitiken zu unterscheiden.
Die Linke mag von einer ›Scharon-Linken‹ (vgl. Holz et al.: Schuld und Erinnerung, Jungle World 48/02 und unsere Replik Jargon der Differenziertheit unter www.bgaa .net) fabulieren, es hilft nichts umhin: in der momentanen Situation im Nahen Osten ist der Antisemitismus – deutlich abzulesen am Zustand der palästinensischen Nationalbewegung und der Israel umgebenden arabischen Staaten – die dominante Konfliktlogik, weshalb das militärische Agieren Israels nur am dem Maßstab seiner Verteidigungsnotwendigkeit adäquat beurteilt werden kann. Insofern Ariel Scharon quasi als Charaktermaske diese Verteidigungsnotwendigkeit exekutiert, gilt die Solidarität auch seiner Regierung. Etwas anderes ist das Problem der Angemessenheit der Mittel bzw. die Frage, ob eine jede konkrete israelische Regierungsmaßnahme die Verteidigungsnotwendigkeit oder z.B. siedlungsmilitante Tendenzen innerhalb der israelischen Gesellschaft zum Ausdruck bringt. Wäre ›Kritik an Israel‹ nicht der Topos, der den momentanen Antisemitismus in Deutschland organisiert, könnte anhand jener Fragen im besten Sinn Kritik geübt werden. Kritik an bestimmten israelischen Regierungspolitiken wäre dann politisches Medium einer grundsätzlichen, d.h. auf begründeten Prinzipien beruhenden Solidarität mit Israel.

II. Folgt aus einer solchen Position zwangsläufig eine Absage an die Linke? Zweifellos kann festgehalten werden, dass klassische linke Bezugssysteme keinen angemessenen Zugriff auf das Thema Israel ermöglichen. Denn: Realitäten wie der Antisemitismus sind im klassischen linken Weltbild wegen seines Intentionalismus und seinem Hang zu Personalisierungen gar nicht beschreibbar. Zudem stellt sich die Frage, ob dieses Weltbild nicht selbst schon Affinitäten zum Antisemitismus aufweist.
Zur Illustration sei auf die derzeit wieder in Mode kommende Imperialismus-Theorie verwiesen. Hier wird davon ausgegangen, der Kapitalismus trete mit dem Imperialismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts in ein monopolistisches Stadium. Sodann wird meist sogar explizit behauptet, der sozioökonomische Zusammenhang sei nicht mehr durch Konkurrenz, sondern durch personale Herrschaft politisch-ökonomischer Einheiten vermittelt. Die kapitalistische Weltgesellschaft ist dann nicht im Weltmarkt, d.h. seinen ökonomischen Zwängen und politischer Regulation fundiert, sondern in imperialistischen Blöcken, die die Welt unter sich aufteilen. Der weltweite politische und ökonomische Zusammenhang ist in dieser Vorstellung das unmittelbare Produkt von Interessen. Systemische Zwänge, denen – im internationalen Zusammenhang natürlich mit höchst ungleichen Voraussetzungen und Folgen – alle Akteure der herrschenden sozioökonomischen Ordnung unterworfen sind, finden in dieses Weltbild keinen Eingang. Buchstabiert sich der linke Hang zu Personalisierungen in bezug auf den Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Nationalbewegung bzw. den umliegenden arabischen Staaten als Antizionismus aus, bekommt er neben seiner strukturellen eine inhaltliche Affinität zum Antisemitismus.
Für eine Theoretisierung von Antisemitismus scheint daher die Fähigkeit, die systemische Dimension von Herrschaft (und ihrer Konsequenzen für eine Konzeption von Ideologie) zu denken, eine conditio sine qua non. Linke Gesellschaftstheorie muss sich an dieser Fähigkeit messen lassen.
Es stellt sich nun die Frage, wie vor dem Hintergrund des in linken Bewegungen weit verbreiteten Hangs zu Personalisierungen hier emanzipatorische Politik überhaupt möglich ist. Letztlich kann es diesbezüglich nur um ein Hineinwirken mittels Analyse und Kritik gehen. Ob eine solche Intervention stattfinden soll, ist von Fall zu Fall sowie von Kriterien abhängig. Gegenüber einem generellen Kritik-Üben muss gefragt werden, ob eine Kritik aufklären und vielleicht sogar Hegemonieverhältnisse in der Linken verschieben kann. Dafür muss das Hereintragen von adäquater Kapitalismusanalyse und -kritik, d.h. das Schaffen von Voraussetzungen für eine emanzipatorische Bewegung, sich fragen, wann ein personalisierendes Verständnis von Herrschaftsverhältnissen in linken Bewegungen noch ideologisch verkürzt und wann es bereits wahnhaft ist.
Im ersten Fall scheint eine Intervention sinnvoll, wobei es hierfür einer Verständigung über Begriffe bedarf. Dabei wäre zu förderst an die Entwicklung eines Antisemitismus-Begriffs und des Antiamerikanismus-Begriffs zu denken – eine Arbeit, die hier nicht geleistet werden kann, die aber auf jeden Fall die angedeutete Kritik an linken Weltbildern mit berücksichtigen sollte.
Der jüngste Interventionsversuch im Vorfeld der Proteste gegen den EU-Gipfel in Kopenhagen ist hierfür in zweierlei Hinsicht ein Lehrstück. Zunächst, weil die durch ein Positionspapier der Gruppen Avanti, AAB, Autonome Antifa Nordost und Autonome Antifa (M) im Vorfeld der Proteste kritisierten dänischen Gruppen zweifellos in völlig wahnhaft-antisemitischer Manier über Israel sinnieren. Vor diesem Hintergrund ist es also ohnehin fraglich, ob eine kritisch-solidarische Intervention sinnvoll ist. Wenn aber eine solche Intervention stattfindet, ist noch über das Wie zu diskutieren: Die deutschen Gruppen haben zwar versucht zu begründen, warum sie sich nicht an israelfeindlichen Aktionen beteiligen werden. Das vielleicht gut gemeinte Anliegen wurde aber zur Farce, da sich der Antisemitismus auf ein Problem des ›nationalen Sprechorts‹ reduzierte.

III. Was hat eine Positionierung gegen Antisemitismus und für Israel, damit aber zugleich: gegen Teile der Linken, mit der Hinwendung zum bürgerlichen Glücksversprechen zu tun? Kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 haben einige Linke die Hoffnung gehegt, die militärische Beseitigung „islamischer Herrschaft“ beispielsweise in Afghanistan „würde die Bevölkerung dieser Länder dem moslemischen Götzendienst entreißen, um sie, mit allen brutalen Konsequenzen, dem kapitalistischen Warenfetisch direkt zu unterwerfen“ (Bahamas 36, S.33), was letztlich darauf hinausliefe, „den Blick von islamischer Elendsverklärung, Selbstkasteiung und Mordlust fort auf die von der kapitalistischen Vergesellschaftung hervorgebrachten materiellen Potentiale [zu] lenken und den Wunsch nach kommunistischer Aneignung aufkeimen [zu] lassen“ (ebd.). Abgesehen von der Gleichsetzung von Islam und Islamismus: Wer will – und wer die Vorstellung von einem notwendigen Zusammenhang der Existenz kapitalistischer Produktionsweise und dem Wunsch nach Kommunismus teilt – kann dieses Szenario sympathisch finden. Es ist jedoch in erster Linie unrealistisch und illustriert die Notwendigkeit, den internationalen Herrschaftszusammenhang im Auge zu behalten. Wann sind Länder, die kaum industrialisiert oder ohnehin völlig tribalistisch-agrarisch strukturiert sind, in denen ein hohes Maß an Analphabetismus herrscht und in denen die politischen Regime Armutsverwaltung betreiben, durch den kriegerischen Angriff kapitalistischer Metropolen in den Genuss der „materiellen Potentiale“ der kapitalistischen Moderne gekommen?
Ein weiteres Problem besteht in der Argumentation, ein Angriff auf einzelne islamische Länder bringe im Ergebnis einen Fortschritt, weil bürgerliche Verkehrsformen mit sich, wie sie im gesamten Nahen Osten nur in Israel existieren. So richtig es gegenüber einem generellen Pazifismus ist, Kriege auch von ihren Effekten her zu bewerten, muss hier mit Marx an Differenz und Zusammenhang von Produktionsweise und Verkehrsformen festgehalten werden. Zu dieser Unterscheidung gehört die Feststellung, dass bestimmte Bewusstseins- und Verkehrsformen ihre Plausibilität nur unter spezifischen gesellschaftlichen Verhältnissen erhalten. Liegt kein Entsprechungsverhältnis vor, können die bürgerliche Verkehrsformen nur mit Gewalt aufrecht erhalten werden – und sind damit automatisch prekär (so scheinen sich diese Verkehrsformen z.B. in Afghanistan auf Kabul zu beschränken). Dennoch sind sie im Vergleich zu den barbarisch-islamistischen Regimen zweifellos sympathisch, sobald darunter mehr verstanden wird, als die Garantie gewisser Teile des Privatrechts – ein im Endeffekt ideologisches, weil einen notwendigen Zusammenhang von Kapitalismus und bürgerlicher Demokratie konstruierendes Mehr. Doch unabhängig davon: Die Einführung bürgerlicher Verkehrsformen und v.a. ihre konsequente Durchsetzung ist wegen der fehlenden kapitalistischen Produktionsweise schlichtweg wenig wahrscheinlich. In einer Gesellschaft ohne ausdifferenzierte Arbeitsteilung wird das Eigentum der Produzenten an ihren Produktionsmitteln die Basis bestimmter politischer Verhältnisse bleiben. Die Hoffnung also auf einen Fortschritt im Zusammenhang mit bürgerlichen Verkehrsformen zu setzen, ist – gelinde gesagt – naiv.
Noch vor einem anderem Hintergrund wird in der letzten Zeit oftmals das bürgerliche Glücksversprechen aufgerufen: als zu Erstrebendes bezüglich Individualität und materiellem Reichtum. Zweifellos ist die Kritik an den üblen Formen der Vergemeinschaftung in vielen arabischen Staaten und in Deutschland, gegen die sich dieses Erinnern an Versprechen der bürgerlichen Gesellschaft richtet, bitter nötig. Vergemeinschaftung fällt begrifflich und inhaltlich aber nicht mit Kollektivität in eins. Kollektivität resultiert auch aus der Reflexion über gesellschaftliche Verhältnisse und die gegenseitige Abhängigkeit jedes Einzelnen vom gesellschaftlichen Zusammenhang. Wer nun aber gegen Kollektivität die Versprechen von Individualität, Luxus und privatem Glück in Stellung bringt, rekurriert lediglich auf die frei flottierende Warenmonaden und unterschlägt die vernünftige Forderung, mit der eine Marxsche Kritik der bürgerlichen Gedankenformen enden könnte: soziales Glück für alle.

Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus
BgAA Berlin