Bürgerwehr mal anders

Die Selbstverteidigungskräfte in Mexiko zwischen Autonomie und staatlicher Vereinnahmung

Seit zwei Jahren machen in Mexiko zunehmend bewaffnete Selbstverteidigungskräfte von sich reden. Angesichts der Tatenlosigkeit der Sicherheitskräfte organisieren sich Bürgerinnen und Bürger, um der Gewalt der Mafia zu widerstehen. Vor allem die Bundesstaaten Guerrero und Michoacán haben durch die Präsenz dieser Bürgermilizen auf sich aufmerksam gemacht. Zwar agieren auch in weiteren der 31 Bundesstaaten Mexikos autonome Selbstverteidigungskräfte, doch bislang haben sie nur in den beiden genannten Regionen dauerhaft Bedeutung erlangt. Guerrero und Michoacán haben einiges gemein. Sie sind ein traditionelles Anbaugebiet für Marihuana und Opium, zählen zu den ärmsten Regionen Mexikos und haben einen großen Anteil indigener Bevölkerung. Zudem liegen sie am pazifischen Ozean im Süden des Landes und somit auf einer wichtigen Transportroute für kolumbianisches Kokain in die USA. Schon lange agieren in diesen Gebieten Mafiaorganisationen. Und wie fast überall in Mexiko arbeiten auch hier viele PolizistInnen, Soldat-Innen, Beamte und hohe PolitikerInnen eng mit den Kartellen zusammen.

Ein führender Vertreter der Landesregierung von Guerrero, der seinen Namen nicht nennen will, bestätigte im Gespräch mit dem Autor, dass praktisch jedes Rathaus – und damit auch jeder Polizist – in dem Bundesstaat von der Mafia kontrolliert sei. Der Milizensprecher Estanislao Beltrán bezeichnet die lokalen Sicherheitskräfte in Michoacán als bewaffneten Arm des Mafiakartells der Tempelritter. Anfang Mai 2014 wurden der Bürgermeister sowie der Schatzmeister der strategisch wichtigen Hafenstadt Lázaro Cárdenas verhaftet, weil sie für die Templarios gearbeitet haben sollen. Abel Barrera vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan spricht angesichts solcher Verhältnisse von einer tiefgreifenden Zersetzung des Justiz- und Sicherheitssystems. »Einerseits haben die Menschen kein Vertrauen in die Institutionen, andererseits stellen sie fest, dass immer mehr einst vom Staat kontrollierte Räume von der Mafia besetzt werden.« Diese Situation sei für die Leute nicht mehr zu ertragen gewesen, erklärt Barrera das Erstarken der Bürgermilizen.

Die polícia comunaria aus Guerrero

Doch trotz der ähnlichen Ausgangslage unterscheiden sich die GemeindepolizistInnen (polícia comunitaria) aus Guerrero und die Selbstverteidigungskräfte (Autodefensas) aus Michoacán erheblich. Das spielt bei der Einordnung dieser Bewegungen eine wichtige Rolle. Bereits 1995 haben indigene Gemeinden in Guerrero ein auf ihre Traditionen bauendes Selbstverwaltungssystem geschaffen. Inspiriert von den Zapatisten, die 1994 mit einem Aufstand im südöstlichen Bundesstaat Chiapas von sich hören machten, kämpften auch hier Indigene gegen Diskriminierung, Armut und soziale Ausgrenzung sowie für mehr Autonomie. Sie konnten auf eine lange Widerstandsgeschichte zurückgreifen: Seit den sechziger Jahren agieren in den Bergen von Guerrero Guerrillaorganisationen. Besonders berühmt geworden ist der Lehrer Lucio Cabañas, der zwischen 1967 und 1974 eine bewaffnete Gruppe zur Verteidigung der Bäuerinnen und Bauern anführte. Folglich war der Bundesstaat besonders vom »Schmutzigen Krieg« des Staates betroffen. In den siebziger Jahren verschwanden hunderte Oppositionelle, viele wurden gefoltert oder hingerichtet.

Im Rahmen der autonomen Verwaltung ihrer Kommunen (Coordinadora Regional de Autoridades Comunitarias, CRAC) schufen die Indigenen im Jahre 1995 die Gemeindepolizei und ein eigenes Justizsystem, das in erster Linie auf Resozialisierung und Wiedereingliederung von StraftäterInnen in die dörfliche Gemeinschaft orientiert ist. Die Polizisten der CRAC werden von den Gemeinden gestellt und dienen zwei Jahre lang. Sie werden jährlich gewählt, bekommen kein Sold und werden von den Gemeinden ernährt. In vielem gleicht ihre Struktur dem Sicherheitssystem der Zapatisten: Sie tragen Uniformen, patrouillieren mit Jagdgewehren und unterhalten eigene Gefängnisse. Nach Angaben des Milizensprechers Eliseo Villar waren letztes Jahr 1500 Mitglieder aus 77 Dörfern in diese polícia comunitaria einbezogen.

Zwar versuchten staatliche Organe seit der Entstehung der CRAC immer wieder, gegen die selbsternannten PolizistInnen vorzugehen. Zugleich gab es aber auch Vereinbarungen auf bundesstaatlicher Ebene, die der Gemeindepolizei ein ungestörtes Agieren ermöglichten, solange es um Verbrechen wie Raub oder? Vergewaltigungen ging. Die CRAC kann sich auf internationale Abkommen und Mexikos Gesetzgebung stützen. Die UN-Resolution über die Rechte indigener Völker, die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) sowie die mexikanische Verfassung räumen Indigenen ein Selbstbestimmungsrecht ein. Auch das Landesgesetz von Guerrero sieht vor, dass diese Bevölkerungsgruppe in den von ihr bewohnten Gemeinden nach eigenen Prinzipien das soziale, kulturelle und ökonomische Leben entwickeln kann. Sie dürfen demnach selbst darüber entscheiden, wie sie mit internen Konflikten umgehen. Diese Vorgaben werden natürlich je nach politischem oder wirtschaftlichem Interesse unterschiedlich interpretiert.

Trotzdem existierte lange Zeit eine friedliche Koexistenz zwischen Bundesregierung und autonomer Polizei. Doch im letzten Jahrzehnt spitzte sich die Sicherheitslage zu. Der Krieg der Kartelle um Transportrouten und Einflusszonen verschärfte sich, zugleich rückten unbeteiligte Bürgerinnen und Bürger mehr ins Blickfeld der Mafia. Während die Kriminellen vorher ihre Kämpfe vor allem untereinander ausfochten, richten sich ihre Angriffe nun immer mehr gegen die einfache Bevölkerung. ArbeiterInnen oder Bäuerinnen und Bauern werden entführt, um Lösegeld zu erpressen, KleinhändlerInnen müssen Schutzgelder zahlen, Menschen verschwinden. Wer aufmuckt, wird gefoltert und hingerichtet. Mehrere Oppositionelle, die sich gegen den Terror der Mafia wehrten, wurden bereits umgebracht.

Zeitgleich sorgte der vom damaligen Präsidenten Felipe Calderón 2006 ausgerufene Krieg gegen die Mafia für eine Militarisierung, die in Guerrero schwerwiegende Konsequenzen hatte. Insgesamt wurden im Mexiko seit dieser Mobilmachung über 100.000 Menschen getötet, 26.000 verschwanden, hunderttausende mussten ihre Heimat verlassen. In Guerrero nahmen die Morde zwischen 2005 und 2011 nach staatlichen Angaben um 310 Prozent zu. Im Großraum Acapulco, dem touristischen und wirtschaftlichen Zentrum des Bundesstaats, starben 2012 durchschnittlich 142 von 100.000 EinwohnerInnen eines gewaltsamen Todes – etwa acht Mal so viel wie im Rest Mexikos und 200 Mal so viel wie in Deutschland. Korruption sorgte zudem dafür, dass über 90 Prozent der Verbrechen straflos blieben. »Es gibt keine Institutionen, die die Fähigkeiten, finanziellen Ressourcen und Entschlossenheit besitzen, die organisierte Kriminalität zu stoppen«, erklärt Ernesto López Portillo vom Institut für Sicherheit und De-mokratie (Insyde). Das habe zur Folge, dass sich die Kriminellen Schritt für Schritt konsolidierten. Die Mobilisierung von Calderóns SoldatInnen konn- te diese Entwicklung nicht aufhalten. Im Gegenteil, sie heizte den Krieg noch an.

In dieser Situation begannen immer mehr

indigene und nicht-indigene Gemeinden, sich selbst gegen die Kartelle zu organisieren. In den letzten zwei Jahren entstanden in vielen Städten und Dörfern polícias comunitarias, die sich dem Konzept der CRAC anschlossen. In ihrer politischen Ausrichtung unterschieden sie sich jedoch voneinander. Während zum Beispiel die Gemeindepo-lizeien in den Kleinstädten Tixtla oder Olinalá auf ihre Autonomie bestanden und die staatlichen Organe wegen deren korrupter Strukturen als Teil des Problems ansehen, setzen andere auf Kooperation mit der Landesregierung. »Unsere Bewegung ist nicht gegen den mexikanischen Staat und will dazu beitragen, dass in Guerrero wieder rechtsstaatliche Verhältnisse herrschen«, erklärt Bruno Plácido, der Anführer der Organisation OPUEG, die auf Kooperation mit den Institutionen hinarbeitet.

Bei der Regierung in der Landeshauptstadt Chilpancingo stößt das Angebot auf Interesse. »Die alten Lokalpolizeien sind ein Auslaufmodell, weil sie von der organisierten Kriminalität unterwandert sind«, sagt der Staatssekretär Misael Medrano. Zudem haben sie sich von der Bevölkerung entfernt. Deshalb sei eine Bürgerbeteiligung durchaus denkbar. Indigene und andere autonome PolizistInnen könnten in den Sicherheitsapparat integriert werden. Die Überlegung ist nachvollziehbar: Die Mitglieder der in dörflichen Gemeinschaften verankerten policía comunitaria wissen ganz genau, welcher Nachbar mit welchen Kriminellen welche Geschäfte macht. Nicht zufällig sind die GemeindepolizistInnen weitaus erfolgreicher als ihr offizielles Gegenüber.

Doch degradiert sich das System der CRAC auf diese Weise nicht zu einer Hilfspolizei staatlicher Autoritäten? Die Behörden reagieren jedenfalls auf diejenigen Milizen, die auf Eigenständigkeit bestehen, wesentlich unversöhnlicher als auf die »Integrationswilligen«. Derzeit sitzen drei ihrer AnführerInnen wegen schwerwiegender Vorwürfe wie Geiselnahme und dem Tragen von Waffen, die dem Militär vorbehalten sind, im Gefängnis. Immer wieder demonstrieren Linke, StudentInnen, LehrerInnen und soziale AktivistInnen für ihre Freilassung. Die Frage nach dem Verhältnis zu den staatlichen Kräften spaltet seit etwa einem Jahr die autonomen PolizistInnen in der Region. Und damit auch die Linke, denn die CRAC ist

ein in die sozialen und indigenen Bewegungen, die Kämpfe gegen ungezügelten Bergbau oder für bessere Lehrbedingungen eingebettetes Projekt. Derzeit ist deshalb vollkommen offen, welche Rolle die GemeindepolizistInnen in Zukunft spielen werden. Zu befürchten ist, dass die einen tatsächlich in den staatlichen Apparat integriert werden, während die anderen mit weiteren Repressionen rechnen werden müssen.

Weitgehend unkritisch betrachten viele Linke Mexikos das auf »traditionelle Gewohnheiten und Sitten« aufbauende Justiz- und Sicherheitssystem, das der CRAC zugrunde liegt. Das Konzept stellt zwar das Prinzip des Strafens in Frage und Resozialisierung sowie Wiedergutmachung in den Vordergrund, gleichzeitig wird aber die Gewaltenteilung über Bord geworfen. »Man kann nicht zugleich die  Aufgaben der Staatsanwaltschaft, der Polizei, des Richters und des Gefängniswarts übernehmen«, kritisiert auch Staatsekretär Medrano. Die Milizen agieren so gesehen jenseits der Gesetze des bürgerlichen Staates. Das ist zwar auch für jede revolutionäre Bewegung selbstverständlich, entfesselt aber bei einer halblegal agierenden Polizeitruppe eine gefährliche Dynamik. Mindestens zwei Menschen starben an den Kontrollpunkten der polícia comunitaria, weil die Milizen sie für Kriminelle hielten und auf sie schossen.

Gefangene werden von RichterInnen verurteilt, die von der Gemeinde ernannt werden und oft nicht über eine entsprechende Ausbildung verfügen. Häufig wird auch auf Versammlungen über die Strafe für Kiffer oder Diebinnen entschieden. Auch wenn hier am Ende als Urteil oft eine Therapie oder gemeinschaftliche Arbeit steht, ist diese Rechtsprechung extrem beeinflusst von örtlichen Kräfteverhältnissen und – gewolltermaßen – traditionellen Denk- und Handlungsstrukturen. Unabhängige Justiz sieht anders aus. Die Referenz auf Gewohnheiten und Sitten ist aus historischen Gründen zu Recht im Rahmen des Selbstbestimmungsrechts indigener Völker international festgeschrieben. Emanzipativen Charakter kann sie aber bestenfalls entwickeln, wenn die Tradition als Ausgangspunkt eines Prozesse genommen und durch Erfahrungen moderner Gesellschaften weiterentwickelt wird. Dies trifft besonders auf das Justizsystem und die Gewaltenteilung zu.

Für viele indigene und andere oppositionelle Gruppen Mexikos, auch für die ZapatistInnen, hat der affirmative Bezug auf »Gebräuche und Gewohnheiten« eine sehr große Bedeutung. So auch für Abel Barrera vom Menschenrechtszentrum Tlachinollan in Guerrero. Angesichts der basisdemokratischen Reflexion sei die policía comunitaria eine von der Bevölkerung getragene Struktur und deshalb weniger anfällig für Korruption. Den Vorwurf der Selbstjustiz will er nicht gelten lassen. »Jede Bank und jeder teure Laden in Mexiko Stadt wird von bewaffneten Sicherheitsmännern bewacht, aber die Menschen in Guerrero sollen nicht das Recht haben, sich vor Kriminellen zu schützen?«, fragt er.

Zweifellos greift die Kritik an der Selbstjustiz zu kurz. Sie ignoriert die Verhältnisse in der Region ebenso wie linke Geschichte im Allgemeinen. Jede Guerillaorganisation in Lateinamerika, aber auch jede soziale Bewegung, die in Deutschland aktiv etwa gegen Abschiebung interveniert, betreibt in gewisser Weise Selbstjustiz. Wer sich gegen ein Konglomerat von Kriminellen, korrupten PolitikerInnen und ein von der Mafia durchsetztes Justizsystem verteidigen muss, wird kaum auf Gesetze Rücksicht nehmen können. Bestenfalls drei Prozent aller Verbrechen in Mexiko werden strafrechtlich verfolgt. In der Hoffnung auf Verurteilung übergaben auch die autonomen Polizist-Innen in den ersten zwei Jahren ihrer Existenz ihre Gefangenen der Staatsanwaltschaft. Doch immer wurden die TäterInnen später wieder freigelassen. Daraufhin habe man angefangen, so erklärt Aktivist Ángeles Gama, »vorzubeugen, die Menschen zu schützen und die Delikte selbst zu sanktionieren«. Und das mit Erfolg. »In den Regionen, in denen die Gemeindepolizei agiert, ist sie eine reale und effiziente Kraft. Sie konnte die gewöhnliche Krimina-lität um 90 Prozent senken«, resümiert der Autor Luis Hernández Navarro in seinem Buch Hermanos en armas (Brüder in Waffen), das sich mit den Milizen beschäftigt. Schwere Verbrechen wie Morde sind in diese Rechnung wohl nicht einbezogen.

Die Autodefensas aus Michoacán

Auch die Selbstverteidigungskräfte im Bundesstaat Michoacán sind auf den ersten Blick eine Erfolgsgeschichte. Im Frühjahr 2013 sagten dort die ersten Bürgermilizen den Tempelrittern den Kampf an. Innerhalb kürzester Zeit eroberten sie eine Hochburg der Kriminellen nach der anderen. Mit ihren Fahrzeugen zogen sie von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf, entwaffneten die Mitglieder der Mafia, verjagten Bürgermeister und übernahmen die Kontrolle. Nach eigenen Angaben haben sich 20.000 KämpferInnen (meist Männer) den Gruppen angeschlossen, unterstützt von großen Teilen der Bevölkerung. Häufig kam es zu heftigen Schusswechseln, bei denen auf beiden Seiten Menschen starben. Teilweise alleine, teilweise mit Hilfe von föderalen Sicherheitskräften konnten sie fast alle bedeutenden Mafiabosse töten oder festnehmen. Im Gegensatz zu ihren KollegInnen in Guerrero begannen die autonomen PolizistInnen von Michoacán gezielt, die Mafia anzugreifen, um deren Macht zu zerschlagen. Sie orientierten sich nicht an einem übergeordneten politischen Konzept, wie es die CRAC tut. »Wir wollen weder Polizisten noch Kommandanten sein«, erklärt Anführer Estanislao Beltrán. »Unser Interesse ist es, unsere Familien zu schützen und dem organisierten Verbrechen ein Ende zu setzen.«

Wer aber sind diese Selbstverteidigungskräfte, die mit modernen Sturmgewehren und neuen Pickups den Tempelrittern den Krieg erklärten? Um die komplexe Gemengelage zu verstehen, muss man einen kleinen Blick auf die Geschichte der letzten Jahre werfen. Schon lange kämpfen Mexikos Kartelle um die Kontrolle des Bundesstaates Michoacán, weil er strategisch von großer Bedeutung ist. Anfang des vergangenen Jahrzehnts setzten sich die für ihre besondere Brutalität bekannten Zetas in Michoacán durch. Als eine »von außerhalb« kommende Mafia erpressten sie lokale Geschäftsleute, kontrollierten den Drogenmarkt sowie den Obstexport. Zugleich bekam die Kontrolle des Eisenerzabbaus und des Hafens von Lázaro Cárdenas für die Kriminellen eine immer größere Bedeutung. Die Zetas konkurrierten damit gegen lokale Gruppen, die im Marihuana-, Opium- und Amphetamingeschäft oder anderen illegalen Geschäften tätig waren.

Gegen die »Fremden« konstituierte sich die Familia Michoacana, ein Kartell, das einen skurrilen patriotisch-religiösen Diskurs pflegte und sich die Interessen der lokalen Wirtschaft und der Einheimischen auf die Fahnen schrieb. »Die Familie killt nicht für Geld und mordet keine Frauen oder Unschuldige«, erklärte die Bande und sprach von »heiliger Gerechtigkeit«. Im Jahr 2010 ging nach internen Streitigkeiten aus der Familia Michoacana das Kartell der Tempelritter hervor. Auch dieses Kartell inszenierte sich in der Öffentlichkeit als gesellschaftliche Initiative zur Verteidigung der Bevölkerung Michoacáns gegen die Barbarei fremder Mafiaorganisationen, also quasi als Selbstverteidigungskraft. »Ein Kartell des Todes zeigte sich als soziales Kartell«, erklärt der Pfarrer und Autodefensa-Aktivist Gregorio López. Aus dieser Position heraus entwickelten die Tempelritter enge Beziehungen zur Wirtschaft, Politik, Justiz und zu den Sicherheitsapparaten. Wie ihre Vorgänger, die Familie von Michoacán, konnten sie lange Zeit auf den Rückhalt der Bevölkerung zählen. Erst als sie sich gegen die Interessen lokaler Unternehmer-Innen und die einfache Bevölkerung richteten, änderte sich die Situation. Als die HändlerInnen und KleinbäuerInnen und Bauern für jede Avocado Steuern entrichten mussten und die Kriminellen begannen, die weibliche Bevölkerung anzugreifen, begannen die Menschen sich zu wehren. »Alles wurde anders, als sie anfingen, Frauen und Mädchen zu vergewaltigen«, erklärt José Manuel Mireles, einer der Gründer der Milizen in Michoacán. Von nun an, ab Februar 2013, organisierten sich die ersten Selbstverteidigungskräfte gegen die Tempelritter. Mit dabei waren mittelständische Geschäftsleute, AgrarunternehmerInnen, Kleinbäuerinnen und Bauern, aber auch zahlreiche Personen, die selbst in kriminelle Geschäfte verwickelt waren. Allein die hochkarätige Ausrüstung rief den Verdacht hervor, dass viele von ihnen für konkurrierende Mafiaorganisationen tätig waren. Der mexikanische Generalstaatsanwalt Jesus Murillo spricht von »eindeutigen Beweisen«, dass das im Nachbarstaat Jalisco agierende Kartell Nueva Generación (Neue Generation) die Selbstverteidigungskräfte mit Waffen ausgestattet habe. Aber auch Anführer Estanislao Beltrán leugnet nicht, dass es in seinen Reihen Gruppen gibt, die mit kriminellen Organisationen kooperieren.

Angesichts der Korruption und der komplexen Sozialstruktur, in der sich zahlreiche Menschen mit informeller Arbeit durchschlagen müssen, ist es schwierig, zwischen Legalität und Illegalität zu unterscheiden. Viele sind gezwungen, für die Mafia zu arbeiten, andere kooperieren freiwillig mit den Kartellen. Da auch ein guter Teil der Beamten und PolitikerInnen auf der Gehaltsliste der Kriminellen steht, dürften selbst Äußerungen wie die von Strafverfolger Murillo interessengeleitet sein. Auch den Anführern Hipolita Mota und José Manuel Mireles, die als erste zu den Waffen griffen, wird vorgeworfen, für die Neue Generation zu arbeiten. Ähnlich undurchsichtig wie die Rolle der Mafia ist auch die Einbindung staatlicher Kräfte. Zahlreiche Hinweise bestätigen, dass bereits bei der Gründung der Gruppen hohe Armeeangehörige und VertreterInnen der Regierung ihre Hände im Spiel hatten. »Die Koordination zwischen Militärs und Selbstverteidigungskräften ist in mehreren Momenten sehr deutlich gewesen«, schreibt Autor Luis Hernández.

Hinter dieser Kooperation dürfte eine durchaus nachvollziehbare Strategie der Regierung stecken. Lange Zeit bekamen die Regierenden in Mexiko Stadt die Mafia in Michoacán nicht in den Griff. Als der damalige Präsident Calderón im Dezember 2006 den Kartellen den Krieg erklärte, schickte er zuerst zehntausend SoldatInnen in diese Region – allerdings ohne Erfolg. Im Gegenteil konnten die Familia Michoacana und später die Caballeros Templarios ihre Macht stabilisieren. Die Bürgermilizen tauchten in einer Zeit auf, in der Mexikos neuer Präsident Enrique Peña Nieto gerade sein Amt übernommen hatte.

Der Politiker zeigte sich zunächst zurückhaltend gegenüber den Autodefensas. Möglich-erweise wollte er aufgrund des großen Rückhalts der Gruppen in der Bevölkerung keine Eskalation provozieren, möglicherweise kamen ihm die autonomen PolizistInnen aber auch sehr gelegen. Schließlich erledigten sie erfolgreich die Drecksarbeit, zu der die Regierung nicht fähig war, und sie mussten sich nicht an Gesetze halten. Erst später, als auch international Kritik an den bürgerkriegsähnlichen Zuständen laut wurde, ging Peña Nieto mit föderalen Polizeibeamten und SoldatInnen gegen die Milizen vor. Doch trotz einiger Gefechte bemühte sich die Zentralregierung um Kooperation. Im Januar 2014 ernannte der Präsident mit Alfredo Castillo einen engen Vertrauten zum Bundesbeauftragten für die Sicherheit in Michoacán. In der Folge vereinbarte ein Teil der Milizen mit der Regierung, ihre Waffen registrieren zu lassen und sich im Rahmen einer »Landpolizei« in die staatlichen Sicherheitsorgane zu integrieren. Unter ihnen auch Hipólito Mora, der im Frühjahr 2014 zwei Monate im Gefängnis saß, weil er für den Tod von zwei Personen verantwortlich gewesen sein sollte. Nach seiner Freilassung schloss sich der Milizen-Anführer der Landpolizei an, um gemeinsam mit einer neu geschaffenen föderalen Spezialeinheit – der so genannten Gendarmerie – gegen die Tempelritter vorzugehen.  Wie in Guerrero bestehen auch hier andere Gruppen weiterhin auf ihre Autonomie und werden kriminalisiert. So zum Beispiel Gründer Mireles, der wohl auch deshalb Ende Juni 2014 samt 69 MitstreiterInnen verhaftet wurde. Die

Gemengelage von Verbindungen, Interessen und Machtstrukturen zeigt, dass eine einfache politische Einordnung der Autodefensas von Michoacán nicht möglich ist. Wie in Guerrero gibt es auch hier indigene Gemeinden wie etwa das Dorf Cherán, dessen BewohnerInnen sich als emanzipatorische Kraft verstehen, die sich gegen illegalen Holzschlag und damit die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage durch die Mafia zur Wehr setzt. Ebenso organisieren sich Bäuerinnen und Bauern, HändlerInnen oder LandarbeiterInnen unabhängig, um die Angriffe der Killer der Kartelle zu stoppen. Zugleich aber entstand in Michoacán ein Netz paramilitärischer Gruppen, die im Dienste agrarischer und andere Unternehmen, für die Mafia oder die Regierung agieren. Das erinnert an Kolumbien. Dort vertrieben Paramilitärs jahrelang und häufig unter dem Schutz regionaler Regierungen Kleinbauern und -bäuerinnen aus ihren Dörfern, um Platz für landwirtschaftliche Großprojekte wie Palmöl- oder Bananenplantagen zu schaffen. Auch wenn inzwischen die größte dieser Organisationen, die Vereinten Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AUC) offiziell aufgelöst ist, terrorisieren paramilitärische Gruppen noch heute die Bevölkerung, um wirtschaftliche oder politische Interessen durchzusetzen.

Weitermachen

Hilfstruppen der Regierung, paramilitärische Einheiten oder doch Nachfahren der lateinamerikanischen Guerilla? Es fällt schwer, die autonomen Milizen in Mexiko eindeutig einzuordnen. Je nach dem politischen, kulturellen und sozialen Umfeld, in dem sie sich bewegen, können sie einen sinnvollen, emanzipatorischen oder einen gefährlichen, auch gegen linke Bewegungen gerichteten Charakter haben. Ohne Zweifel sind sie jedoch das Ergebnis eines Staates, der zwar zu den 15 wirtschaftlich stärksten weltweit zählt, in dem aber zugleich in viele Regionen Verhältnisse wie in failed states herrschen. Wo ein Konglomerat aus korrupten PolitikerInnen, PolizistInnen und Justizbeamten, unkontrolliert agierenden UnternehmerInnen und kriminellen Kartellen regiert, bleibt den Bürgerinnen und Bürgern keine Alternative zur Selbstorganisation. Wo keine rechtsstaatlichen Verhältnisse existieren und Verbrechen nicht verfolgt werden, wird sich Selbstjustiz notwendigerweise immer mehr durchsetzen. Ein Ende dieser Entwicklung ist nicht absehbar. Opfer ist in erster Linie die prekarisierte Landbevölkerung, zunehmend trifft es aber auch die Mittelschichten.

Es grenzt an ein Wunder, dass angesichts dieser Lebensbedingungen bislang nur in zwei Bundesstaaten starke Selbstverteidigungskräfte entstanden sind. Im Mai 2014 gab es in Mexiko Stadt ein Treffen von VertreterInnen von Gruppen aus Guerrero und Michoacán sowie linker und christlicher Organisationen. Man diskutierte darüber, die Milizen auf bundesweiter Ebene zu koordinieren. Es gehe nicht darum, eine bewaffnete Revolution zu machen, sondern als Mexikaner Verantwortung zu übernehmen, meinte der befreiungstheologisch inspirierte Bischof Raúl Vera. Milizenchef Mireles sagte, mittlerweile seien in 16 Bundesstaaten Auto-

defensas aktiv. Trotz der Integrationsbemühungen des Sicherheitsbeauftragten Castillo gebe es auch in Michoacán weiterhin in 36 von 113 Munizipien autonome PolizistInnen, erklärte er. »Niemand legt sich mit Michoacán an, nicht einmal diese verdammte Regierung.« Es gebe kein Zurück: »Wir müssen weitermachen.«

Wolf-Dieter Vogel

Der Autor ist Journalist und lebt in Berlin.