Das Projekt Zivilgesellschaft

Ziviles Engament als Leitkultur

Als im Jahre 1992 in ganz Deutschland AsylbewerberInnenheime in Flammen aufgingen und dutzende MigrantInnen vom deutschen Mob ermordet wurden, zeigte die deutsche Gesellschaft Gesicht. In großen Demonstrationen zogen hunderttausende Menschen mit Kerzen bewaffnet durch ihr Heimatland, um dessen bessere Seite, dessen zivile Seite, zu repräsentieren. Ein ähnliches Spektakel wiederholte sich im Jahre 2000 im sogenannten Antifa-Sommer oder auch Aufstand der Anständigen. Wieder zogen Hunderttausende durch die Städte, um für das Bild eines anständigen Deutschlands zu demonstrieren. Anfang des Jahres 2003 wiederum formierte sich aller deutschen Orten eine Protestbewegung gegen den Krieg der Koalition der Willigen gegen den Irak.

Was auf den ersten Blick wie das Agieren einzelner Bewegungen erscheint, die auf bestimmte innenpolitische oder weltpolitische Ereignisse reagieren, ist in Wirklichkeit immer wieder das gleiche Phänomen: die anlassbezogene Mobilisierung der Zivilgesellschaft. Dies zeigt sich an den Mechanismen, die die Proteste in Gang setzten, an ihren Argumentationen und Formen und ebenso an den Personen, die die Proteste vorantreiben und intellektuell begleiten.
 

Zivilgesellschaft als nationale Einheit

Betrachtet man die jeweiligen Proteste genauer, wird klar, dass sie sich relativ stark von sozialen Bewegungen früherer Jahre unterscheiden. Diese Proteste zeichnen sich gerade nicht dadurch aus, dass ihre TrägerInnen einer bestimmten sozialen Bewegung zugehörig sind, sondern dadurch, dass sie anlassbezogen aus der Mitte der Gesellschaft entstehen, von verschiedenen Schichten getragen werden und sich nach Beendigung der Proteste weder die Formen noch das Potential halten können und beides alsbald wieder aus der medialen Öffentlichkeit verschwindet. Wir haben es hier also nicht mit einer bestimmten Bewegung zu tun, sondern mit Teilen einer Gesellschaft, die sich für die Demonstration zivilgesellschaftlichen Engagements immer wieder mobilisieren lassen bzw. sich selbst mobilisieren. Diese Teile repräsentieren eine neue Form der Gesellschaftlichkeit, die als Nachfolgeprojekt der Gesellschaft der alten Bonner Republik initiiert werden soll. Entscheidend bei all diesen Protesten ist tatsächlich bisher immer der Anstoß von oben gewesen. Die beiden letzten großen Manifestationen der Zivilgesellschaft 2000 und 2002/03 bedurften jeweils der Aufforderung Schröders zum Handeln. Im Zentrum der Zivilgesellschaft stehen immer die Präsentation des besseren Deutschlands und die Diskussion deutscher Handlungsfähigkeit. Zivilgesellschaft meint zweierlei: Zuvorderst handelt es sich hierbei um ein politisches Projekt, das originär von verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, wie z.B. der Bundesregierung, politischen Stiftungen, bundesdeutschen Think Tanks, Zeitung und Zeitschriften etc. als Zielvorstellung neuer Gesellschaftlichkeit betrachtet wird. Es beschreibt die Ideen einer neuen Form des Ausgleichs zwischen Wirtschaft, Staat, Individuum und Gesellschaft. Dieses Projekt zielt also nicht auf bestimmte gesellschaftliche Kreise sondern auf die Durchdringung und damit Umgestaltung der gesamten Gesellschaft. Zum anderen ist Zivilgesellschaft als Ideal jedoch noch nicht durchgesetzt. Als Vorbild für das Projekt Zivilgesellschaft hierzulande gelten gesellschaftliche Formen anderer Nationen, besonders die der Vereinigten Staaten. Dort ist Zivilgesellschaft etwas, dass aus der Gesellschaft heraus entstanden ist und der Politik gegenüber tritt. Dass heißt nicht, dass die Interessen grundsätzlich gegen den Staat vertreten werden, sondern dass sie unabhängig vom Staat formuliert und schließlich in Kooperation mit diesem durchgesetzt werden. In Ermangelung einer solchen »Zivilgesellschaft von unten« wird in Deutschland versucht, eine »Zivilgesellschaft von oben« zu initiieren. Hierfür wichtig sind die Förderung zivilen Engagements auf lokaler und regionaler Ebene (Agenda 2000) sowie die Organisation medial wirksamer Großevents. Da die Zivilgesellschaft sich in Deutschland nicht selbst organisiert, bedarf es dazu einer Anzahl von ProtagonistInnen, die in Übereinstimmung mit dem gesellschaftlich Gebotenen zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft rufen. Diese ProtagonistInnen sind Gruppen wie attac oder jüngst resist, KünstlerInnen wie Westernhagen, Lindenberg oder Niedecken, Intellektuelle wie Habermas, Grass, Schorlemmer oder Führer (Leipzig), Zeitungen und Zeitschriften wie Die Zeit oder die TAZ und Junge Gemeinden, StudentInnengruppen etc. Die Formen der Artikulation auf derartigen zivilgesellschaftlichen Großevents sind mittlerweile erprobt, die Personen, die die Proteste nach vorn treiben, wissen von ihrer Rolle und sind bereit, Vorschläge für ein modernes, mächtiges Deutschland zu unterbreiten und zu diskutieren. Wenn der Anlass gegeben ist, kann die Zivilgesellschaft mobilisiert und zur moralischen Legitimation und ideologischen Stütze der je aktuellen Bundespolitik werden.

Zivilgesellschaft als politisches Projekt

Die deutsche Zivilgesellschaft ist also keine Bewegung, die sich selbst hervorgebracht hat, sondern sie bedurfte immer schon der Anleitung von oben. Dies ist nicht verwunderlich, stellt die Zivilgesellschaft doch ein durchaus gewolltes politisches Projekt der rot-grünen Führungsschicht dar. Das Modell der Zivilgesellschaft ist eines, das bereits in den siebziger Jahren entwickelt wurde und nun von SozialdemokratInnen und Grünen adaptiert wird. Im Frühjahr 2000 hatte Bundeskanzler Schröder einen mehrseitigen Aufsatz unter dem Titel Die zivile Bürgergesellschaft. Anregungen zu einer Neubestimmung der Aufgaben von Staat und Gesellschaft veröffentlicht, in dem er die Zivilgesellschaft als zukünftiges Gesellschaftsmodell der Bundesrepublik stark machte. Wenige Wochen später initiierte Schröder den Aufstand der Anständigen, die Verbindung ist offensichtlich. Hinter der Zivilgesellschaft oder auch Bürgergesellschaft steht ein bestimmtes gesellschaftliches Konzept politischer Partizipation. Ihm zugrunde liegt die Analyse, dass der Rheinische Kapitalismus an sein Ende geraten ist. Der Rheinische Kapitalismus steht für die Wirtschafts- und Gesellschaftsform der alten Bonner Republik. Als entscheidend für diesen gilt die soziale Absicherung der BürgerInnen, die garantierte ökonomische und soziale Fürsorge und die sogenannte Sozialpartnerschaft. Diese besagt, dass der Staat, aber auch die Unternehmen für die soziale Absicherung und gesellschaftliche Vermittlung seiner BürgerInnen sorgen. Dieses Modell sozialer Fürsorge sei nun an sein Ende kommen. Schröder beschreibt dies so: »In der vollerwerbsgestützten sozialen Marktwirtschaft sind Arbeit und Kapital durch ein enges Geflecht sozialer und tariflicher Verträge aneinander und an die Gesellschaft gebunden. Dieses Modell einer vertraglich durchkonstruierten Gesellschaft verliert mit der Auflösung der klassischen Wirtschaftsmuster an Bedeutung.« Die derzeit zu beobachtende Auflösung von Tarifverträgen, sicheren Arbeitsverhältnissen und die freie Wahl des Lebensortes etc., Veränderungen, die Schröder also bereits im Frühjahr 2000 angekündigt hat, führt in dieser Einschätzung zu einer Erosion sozialer Beziehungen und Sicherheiten. Hinzu gesellen sich allgemeine Politikmüdigkeit und das Gefühl, nichts verändern zu können. Der derzeitige Sozialabbau wird zur Auflösung der bis jetzt noch vertraglichen Beziehung von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft führen. Diesen neuen sozialen Verhältnissen wird nun das Modell der Zivilgesellschaft entgegengesetzt, welche genau diese verloren gehenden Verbindungen neu konstituieren soll. Schröder weiter: »Unter diesen Bedingungen wird die Zivilgesellschaft zum wichtigsten Ort der sozialen Teilhabe. In ihr muß die Identifikation geschaffen werden, die den einzelnen an die Werte und Ziele der Gesellschaft bindet. Den Bürgern wird in dieser Zivilgesellschaft ein Stück Subsidiarität und Selbstbestimmung zurückgegeben.« Es geht hier wesentlich darum, politische Willensbildungsprozesse, politische Partizipation, soziale und gesellschaftliche Fürsorge vom Staat abzukoppeln und an die Gesellschaft zurückzugeben. Damit sollen die BürgerInnen ihre Beziehungen selbst in die Hand nehmen und den Staat nicht mehr als Garanten sozialer und ökonomischer Sicherheit begreifen. Hinter diesen Überlegungen steht die Vorstellung, dass die BürgerInnen mit der Übertragung gesellschaftspolitischer Kompetenz auch wieder eine gestärkte Beziehung zu ihrer Gesellschaft und ihrem Land entwikkeln, indem sie das Gefühl bekommen, an den Entwicklungen teilzuhaben. Über die politische und soziale Mobilisierung der Gesellschaft soll diese einen neuen Gemeinschaftssinn entwickeln, der zum Wohle des Landes eingesetzt werden kann. Gerhard Schröder betont ebenso wie Thierse (in: Friedrich Ebert Stiftung: Die Bürgergesellschaft in der Diskussion) und andere, dass es mitnichten um weniger Politik, sondern um die Rettung der Politik gehe. Die mobilisierte Zivilgesellschaft soll sich vordergründig lokal organisieren und dort politisch agieren. Hier wird die Auffassung vertreten, dass lokal- und regionalpolitische Aspekte am Besten von den BürgerInnen selbst beurteilt werden können. Dem liegt zugrunde, dass die sogenannte Wissensgesellschaft die Wissensautorität des Staates von sich aus in Frage stellt bzw. auflöst. Die Vorstellungen von Zivilgesellschaft bauen hierauf auf, indem sie proklamieren, dass sich lokale bzw. themenspezifische Bürgerschaften Kompetenzen auf bestimmten Bereichen erarbeiten können und durch politische Partizipation die gesamte Gesellschaft und den Staat damit voranbringen können. Die Zivilgesellschaft soll also nicht nur die gesellschaftliche Identität gewährleisten sondern gleichzeitig Innovationsmotor des Standorts Deutschland sein. Hier unterscheidet sich das deutsche Konzept ebenfalls wesentlich von den Ursprungsgebieten zivilgesellschaftlicher Partizipation, da es z.B. in den amerikanischen communities tatsächlich um die praktische Ausgestaltung des eigenen politischen und sozialen Lebensumfelds geht. In der deutschen Adaption des zivilgesellschaftlichen Konzepts wird nun versucht, das lokale und regionale Konzept wieder an die Konstituierung einer nationalen Einheit rückzubinden. Damit wird die Autorität des Staates im Allgemeinen nicht in Frage gestellt. Vielmehr muss der Staat die Rahmenbedingungen zum Funktionieren der Zivilgesellschaft schaffen. Thierse schreibt: »Die Zivilgesellchaft ist – anders als es mancher Zungenschlag in der Debatte anklingen lässt –, keine Alternative zum demokratischen und sozialen Staat. Beides zusammen sind die entscheidenden Voraussetzungen für eine Entfaltung bürgergesellschaftlicher Subsidiarität.« (S. 23) Schröder ergänzt: »Nicht der omnipräsente Staat ist stark, sondern der aktive und aktivierende Staat« Dieses rot-grüne Projekt zur Mobilisierung der Zivilgesellschaft findet auf verschiedenen Ebenen statt. So wurde jüngst das deutsche Stiftungsrecht verändert, um ehrenamtliches Engagement besser privat fördern zu können, beinahe wöchentlich erscheinen neue Bücher zum Thema, nahezu alle politischen Stiftungen – federführend hierbei vor allem die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung – haben eigene Forschungsprojekte zum Thema und es existiert sogar eine Enquete-Kommission Ehrenamt des Deutschen Bundestags, in welcher die Förderung und Stärkung des Ehrenamts als Stütze der Zivilgesellschaft vorangetrieben wird. Und nicht zuletzt wird zu geeignetem Anlass die Zivilgesellschaft in einer öffentlichen Demonstration ihrer selbst mobilisiert wie im Jahre 2000 im Antifa-Sommer oder im Jahre 2002/03 gegen die Vereinigten Staaten. Das zu adaptierende Modell der Zivilgesellschaft ist im Grunde eines, das eine politische Partizipation auf lokaler und regionaler Ebene meint. Die deutsche Spezifik des Zivilgesellschaftsmodells besteht nun darin, dass versucht wird, die lokale und regionale politische und gesellschaftliche Organisation als nationales Projekt umzuwerten. Die zivilgesellschaftliche Organisierung sei ein entscheidender Faktor zur Garantie nationaler Einheit. Es muss jedoch festgestellt werden, dass sich die lokale Ebene der Zivilgesellschaft in Deutschland kaum durchsetzen lässt. So wurden zwar allerhand Programme angeschoben, die Bürgerarbeit, Ehrenamt, lokale Polit-Partizipation etc. fördern sollten, allerdings sind die meisten dieser Programme eher ein Misserfolg, die Zivilgesellschaft von unten will sich so recht nicht organisieren. Darüberhinaus ist das Zivilgesellschaftsmodell ein deutscher Exportschlager. Im Auswärtigen Amt sowie in den deutschen außenpolitischen Think Tanks wird intensiv die Installierung von Zivilgesellschaften in Osteuropa, dem Nahen Osten und Nordafrika vorangetrieben. Diese sollen die ökonomischen Vorstöße Deutschlands und Europas auf diese Gebiete politisch-kulturell flankieren. Hierzu jedoch mehr in der nächsten Ausgabe.

Die Mobilisierung der Zivilgesellschaft

Von dieser Analyse zivilgesellschaftlicher Modelle ausgehend lohnt es sich, die massenwirksamen Präsentationsformen der letzten 15 Jahre noch einmal zu rekapitulieren. In den Lichterketten der Jahre 1992 und 1993 wurde die Zivilgesellschaft als mobilisierte Gesellschaft jenseits tragender sozialer Bewegungen geboren. In Westeuropa wurde die deutsche Wiedervereinigung vielfach mit Besorgnis betrachtet. Für nicht wenige stand diese für die mögliche Rückkehr deutscher Großmachtsambitionen und die mögliche Rückkehr in vergangen geglaubte Zeiten. Im Jahre 1992 erreichten die Mordaktionen und Pogrome des deutschen Nazi-Mobs ihren Höhepunkt. Die Morde von Mölln und Solingen, sowie das tagelange Pogrom von Rostock-Lichtenhagen stellten ein weltweites Achtungszeichen dar. Die Befürchtungen, die teilweise aufgrund der deutschen Wiedervereinigung im Ausland gehegt wurden, schienen sich nun zu bestätigen. Das Ausland war entsetzt, die Presse berichtete ausführlich vom »neuen Deutschland«, Ralph Giordano kündigte in einem Brief an Bundeskanzler Kohl die Bewaffnung und Selbstverteidigung der von den Deutschen alleingelassenen Jüdinnen und Juden an. Ein akzeptables Bild Deutschlands im Ausland wurde somit erheblich gefährdet. Wollte man es retten, um Deutschland nicht ins weltpolitische Abseits geraten zu lassen, musste reagiert werden. Deutsche Intellektuelle, Regierung, Opposition und Wirtschaft riefen zum gemeinsamen Protest. Allerorten versicherte man sich gegenseitig der Ungeheuerlichkeit der Vorgänge und war sich in einer Einschätzung einig: Die Angriffe der Nazis waren zuallererst ein Angriff auf Deutschland und das deutsche Volk. Die nun initiierte Bewegung hatte dann auch vor allem ein Ziel: Das Image Deutschlands im Ausland zu verbessern, das bessere Deutschland zu repräsentieren. Und so beteiligten sich an den Image-Kampagnen all jene, die Interesse an dem Bild eines modernen, weltoffenen Deutschlands hatten. Dass es um die Opfer der Pogrome nicht ging war spätestens dann klar, als die Manifestation der deutschen Zivilgesellschaft mit der Abschaffung des Asylrechts einherging. Bereits während der Pogrome von Rostock, als die Menschen sich in ihren Häusern noch vor dem deutschen Mob verschanzen und um ihr Leben bangen mussten, wurde in Deutschland die Abschaffung des Asylrechts gefordert, ein Recht, dessen Inanspruchnahme das deutsche Volk zu sehr belasten würde. Im Folgenden wurde die deutsche Zivilgesellschaft organisiert. Hunderttausende Menschen zogen mit Kerzen in der Hand durch Deutschland, Antigewaltprogramme wurden von der Bundesregierung aufgelegt, der DFB organisierte die Mein Freund ist Ausländer-Kampagne, allerorten fanden Gewalt-ätzt-Konzerte statt, die Zeitungen waren voll mit Anzeigen wie die des Innenministeriums Helfen statt Hauen. In dieser ließen sich die Protagonisten der Zivilgesellschaft wie Niedecken, Westernhagen, Lindenberg und Maffay vom Innenministerium gebrauchen. Die Zielrichtung war klar: Für Deutschland, gegen Asyl, gegen Nazis. Die folgenden Monate legten die ganze Scheußlichkeit der mobilisierten Zivilgesellschaft offen. Sie machte klar, dass die Bekämpfung von AsylbewerberInnen keine Sache von Nazis ist, sondern diejenige von demokratischen Institutionen, deren ideologische Legitimation die Zivilgesellschaft selbst darstelle. Die Artikulation der Zivilgesellschaft war also ein nationales Projekt. Es ging um die Präsentation eines besseren Deutschland-Bildes, um die Rückgewinnung politischer Handlungsfähigkeit und um die Besinnung auf ein deutsches Kollektiv, das über sein Verhältnis zu »Ausländern« selbst bestimmen will. Im Herbst 1998 gewann die SPD die Bundestagswahl und startete mit dem grünen Juniorpartner das rot-grüne Reformprojekt. Der Aufbruch in die neue Berliner Republik stand auf dem Programm. Ziel war es, Deutschland aus seinem konservativen Mief zu holen und zum treibenden Motor europäischer Politik und schließlich der Weltpolitik zu machen. Das ramponierte deutsche Image war für diesen Weg jedoch hinderlich. Noch immer galt Deutschland als Hort von dumpfem Rassismus, einer bornierten deutschtümelnden Gemeinschaft, fehlender Innovation, verweigerter Vergangenheitsbewältigung etc. Mit all jenem wollte Rot-Grün aufräumen, die Modernisierung Deutschlands stand auf dem Programm: Homosexuellen-Ehe, die Änderung des Staatsbürgerschaftsrechts hin zum westeuropäischen Standard, Holocaust-Mahnmal, Green-Card etc. waren Eckpfeiler jener Politik. Das Projekt Zivilgesellschaft ist mit dem Antritt von Rot-Grün zur Regierungspolitik geworden. Im Jahre 1999 schließlich hat sich das neue Deutschland samt seiner zivilgesellschaftlichen Elite seine vollständige außenpolitische und militärische Souveränität zurückerobert. Das zivilgesellschaftliche Credo, nachdem mit dem Antritt der rot-grünen Koalition das alte Deutschland überwunden sei, wurde in außenpolitisches Kriegsgetöse umformuliert. Im Kosovo wurden durch Verteidigungsminister Scharping KZs erfunden, Milosevic wurde zum Serben-Hitler erklärt und Deutschland gab vor, zur Verhinderung eines erneuten Auschwitz in den Krieg gegen Jugoslawien zu ziehen. Die ProtagonistInnen der Zivilgesellschaft, diejenigen, die wenige Jahre später den amerikanisch/britischen Krieg gegen den Irak scharf angreifen sollten, formulierten das ideologische Rüstzeug für diese deutsche Aggressions- und Kriegspolitik. Ebenjenes vorgebliche »Lernen aus der Geschichte« wurde zum Garanten neuer deutscher Großmachtspolitik. Weil in Deutschland eine neue Form der Gesellschaftlichkeit zur politischen Macht gekommen sei, die in sich selbst schon die Negation der deutschen Vergangenheit darstelle und weil sich im Kosovo diese negierte deutsche Geschichte wiederholen würde, sei jenes neue Deutschland gezwungen sich am Krieg der Nato gegen Jugoslawien auch ohne UN-Mandat federführend zu beteiligen. Im Sommer 2000 schließlich gab sich diese neue Zivilgesellschaft auch innenpolitisch ein Gesicht. Nach einem rassistischen Bombenanschlag auf (zum Teil jüdische) AussiedlerInnen in Düsseldorf gab Gerhard Schröder mit seiner Aufforderung zum Aufstand der Anständigen den Startschuss für die Antifa-Offensive der Bundesregierung und mit ihr der Zivilgesellschaft. Der von Schröder geforderte Aufstand war Kalkül. Es ging nicht allein darum, von regierungsamtlicher Seite Verordnungen zu erlassen und Parteien wie die NPD zu verbieten, es ging vor allem darum, dass sich die bundesdeutsche Zivilgesellschaft, das personelle und ideologische Fundament der Bundesregierung, formiert und das neue, moderne Deutschland symbolisiert. Der geforderte Aufstand wurde schließlich realisiert: Wieder versammelten sich hunderttausende Menschen zum Gesicht zeigen gegen Rechts, wieder wurden Großkonzerte organisiert, wieder äußerten sich Intellektuelle wie der zivilgesellschaftliche Vorreiter Jürgen Habermas in Zeitschriften, wieder wurden Großanzeigen geschaltet und wieder wurden große Teile der Gesellschaft mobilisiert, die sich in den Protesten ihrer gemeinsamen Ansicht über ein modernen Deutschlands versicherten. Das Schrödersche Signal wurde also aufgegriffen und umgesetzt, die Zivilgesellschaft hat sich scheinbar von unten organisiert. Die Message war deutlich: Das moderne Deutschland duldet keine marodierenden Nazibanden, sondern nur die Legitimität des Rechts, ein Recht, dass den Kampf gegen unerwünschte Ausländer auch nach 1993 ständig verschärft hat. Im Januar 2001 gab Rot-Grün selbstbewusst den Sieg der Zivilgesellschaft bekannt. Die Prügelattacken des deutschen Außenministers Joseph Fischer waren nicht Anlass seiner Entlassung sondern Prüfstein der neuen Regierung und der Zivilgesellschaft. Die tätlichen Angriffe Joseph Fischers auf die bundesdeutsche Staatsmacht der siebziger Jahre wurden nachträglich als für die Hervorbringung der zivilen Gesellschaft gegen den Mief des alten Deutschland notwendig verteidigt. Rezzo Schlauch blökte der Opposition entgegen, dass die Verhältnisse dieser Zeit ein solches Agieren Fischers nahezu erzwungen haben. Die Affäre, die eigentlich nie eine Affäre wurde, endete mit dem triumphalen Sieg der Bundesregierung und ihres zivilgesellschaftlichen Backgrounds. Die Fülle an Intellektuellen, PolitikerInnen und Zeitungen/ Zeitschriften sorgte dafür, dass die Angriffe der Opposition mit Leichtigkeit abgewiesen werden konnten. Die »Affäre« vergrößerte die Popularität Fischers weiter, ein einmaliger Vorgang in der bundesdeutschen Geschichte. In dieser Debatte wurde immer wieder das Ende des alten Deutschlands und der Sieg der Zivilgesellschaft, der Sieg der modernen, weltoffenen, machtbewussten Berliner Republik proklamiert. Nach einer kurzen Flaute und dem Zurückgehen der öffentlichen massiven Artikulation der Zivilgesellschaft wurde sie erneut aktiv, als die Vereinigten Staaten ab Ende 2002 zum Krieg gegen den Irak bliesen. Der lang angekündigte Krieg wurde anfangs lediglich publizistisch begleitet, die deutsche Öffentlichkeit verhielt sich ruhig, da die zukünftige deutsche Rolle in dieser Auseinandersetzung nicht klar war. Dieser Zurückhaltung setzte Schröder im Wahlkampf zur Bundestagswahl 2002 schließlich ein Ende. Mit seinem klaren Nein zu jedweder deutschen Beteiligung an dem kommenden Krieg gegen den Irak gab er auch hier wieder den Startschuss zur Mobilisierung des zivilgesellschaftlichen Apparats. Diese mobilisierte Zivilgesellschaft hat die Dimension der vorherigen Ereignisse noch gesprengt. Bei den Protesten gegen den Irak-Krieg wurde eine Breite der Gesellschaft mobilisiert, die es schließlich auch großen Teile der parlamentarischen Opposition unmöglich machte, die deutschen Realitäten zu ignorieren und weiter den Kriegskurs Amerikas zu unterstützen. Über die deutsche Friedensbewegung ist bereits viel gesagt und geschrieben worden. Wesentlich ist vor allem ihr Standpunkt, von dem aus sie diskutiert und agiert. Dieser Standpunkt ist ein deutscher. Es ging der Friedensbewegung nie wirklich darum, die Bedingungen von Krieg anzugreifen oder eine pazifistische Position einzunehmen, sondern immer nur darum, Deutschland (und teilweise Europa) als Gegenmodell zur amerikanischen Hegemonie zu präsentieren. Die von der Bundesregierung, dem deutschen Feuilleton und deutschen Think Tanks erarbeiteten Modelle zur militärischen und strategischen Stärkung Deutschlands und Europas im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten wurden von der Friedensbewegung im Grunde nicht kritisiert. Dies ist insofern bezeichnend, als dass in den Wochen vor, während und nach dem Krieg von deutscher Seite so militaristisch argumentiert wurde wie selten zuvor. (Umbau der Bundeswehr zur reinen Angriffsarmee, Entwicklung einer gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie, Einrichtung eines europäischen Kommandostabs in Belgien, Forcierung der Bildung europäischer Streitkräfte etc.) Unerwähnt blieb der amerikanische Krieg gegen Afghanistan, an dem Deutschland immerhin mit einer Spezialeinheit und anderer militärischer Unterstützung beteiligt war. Zwar hat sich die bundesdeutsche Publizistik nicht gerade in euphorischer Kriegsbegeisterung ergossen, ein wirklicher Widerspruch war jedoch ebenfalls nicht zu vernehmen. Die Bedingungen für eine Zivilgesellschaft, die tatsächlich eine humanistische ist, zu intervenieren, waren während des Jugoslawien-Kriegs ebenso gegeben wie während des Afghanistan-Kriegs. Allein das deutsche Interesse fehlte, das die Zivilgesellschaft hätte in Stellung bringen können. Und so wurden beide Kriege mit deutscher Beteiligung durchgeführt, der erste von beiden sogar mit der Begeisterung einer erwachsen gewordenen deutschen Nation.

Was bleibt

Die vielbeschworene Zivilgesellschaft ist also ein Projekt, das die gesellschaftliche Identifikation der BürgerInnen mit dem deutschen Staat in einer Zeit garantieren soll, in der gesellschaftliche Umbrüche genau jene Identifikationen gefährden könnten. Das heißt zwar noch nicht, dass somit das Projekt Zivilgesellschaft der Bevölkerung aufoktroyiert wurde, heißt aber, dass es politisch zumindest gewollt und massiv befördert wird. Das Projekt Zivilgesellschaft ist also ein durch und durch nationales Projekt. Die regierungsunabhängigen Organisationen wie attac und Co. sind die zivilgesellschaftliche Speerspitze des modernen Deutschlands, das außenpolitisch vor allem eines ist: Weltmacht. Diese Funktion der Zivilgesellschaft als Kitt des modernen Deutschlands und als Innovationsmotor deutscher Interessen muss den meisten Organisationen und Personen jedoch nicht entgegengehalten werden, da sie sich selbst als solche verstehen. So wurden in den Antiamerika-Protesten Deutschland, deutsche Kultur, deutsche Offenheit und vor allem die aktuelle deutsche Politik immer wieder gegen die Vereinigten Staaten in Stellung gebracht. Die Verteidigung und Stärkung Deutschlands war Ziel und erklärte Absicht des größten Teils der zivilgesellschaftlichen Friedensbewegung. Dennoch gibt es Tendenzen innerhalb der Linken, durchaus progressive Elemente der Zivilgesellschaft aus deren Zusammenhang zu reißen und gegen die anderen abzugrenzen. So gab es nicht Wenige, die in der Verhindert Stoiber-Kampagne tatsächlich die rot-grüne Innenpolitik dem Stoiberschen Rassismus den Vorzug gaben oder die in der Ablehnung des amerikanischen Krieges der Friedensbewegung den Anfang einer allgemeinen Militarismuskritik witterten. Dem ist entgegenzuhalten, dass die partielle Abgrenzung der Zivilgesellschaft gegen sich selbst nicht funktionieren kann. Es ist dringend nötig, sich klar zu machen, wofür die Zivilgesellschaft als Ganzes steht, wofür sie eintritt und was sie stützt und legitimiert. Die Zivilgesellschaft ist nicht trotz sondern wegen ihrer – wenn auch oberflächlichen – Heterogenität die legitimatorische Stütze der aktuellen Bundesregierung und damit des neuen rot-grünen, kriegführenden Deutschlands. Das ernst nehmend, gilt es zu erkennen, dass nicht mit Teilen der Zivilgesellschaft gemeinsame Sache gemacht werden kann, sondern dass das Projekt Zivilgesellschaft wie seine konkreten Manifestationen angegriffen werden müssen, um tatsächlich die deutschen Zustände als Ganzes im Visier zu haben.

Nächste Ausgabe:

Deutscher Exportschlager »Zivilgesellschaft«. Über die Installierung »ziviler Gesellschaften« zur innenpolitischen Ordnung der Staaten an der deutsch-europäischen Peripherie.

BgR Leipzig