Das unmögliche Schreiben

Juden und Judentum in der Literatur der DDR

Kaum ein Thema verursachte in der offiziellen Selbstdarstellung der DDR, zu der auch der staatlich kontrollierte Literaturbetrieb gehörte, eine ähnliche Verlegenheit, ein ähnliches Bedürfnis nach Vermeiden, Verschleiern und Umgehen, wie die Darstellung von Juden, Judentum, jüdischer Geschichte, jüdischer Religion und Tradition, kurzum allem, was mit Juden und Jüdischsein zu tun hatte.

Die DDR war von Anbeginn ein Satellit der Sowjetunion, ihre Staatlichkeit ein Abbild der Siegermacht. Die ostdeutschen Kommunisten wurden darauf verpflichtet, sowohl die Ideologie, Herrschaftsstrukturen und Lebensformen ihrer sowjetischen Genossen zu übernehmen, als auch ihre Haltung zu anderen Ländern und Völkern, ihre Außenpolitik. Als sich die Sowjetunion Anfang der fünfziger Jahre dafür entschied, eine Allianz mit den Israel-feindlichen arabischen Staaten einzugehen, mussten ihr die ostdeutschen Genossen folgen und sich gleichfalls feindselig zu Israel stellen.

 Für die folgenden Jahrzehnte, bis zum Ende der Sowjetunion, wurde die Feindschaft gegenüber dem Staat Israel einer der Eckpfeiler der Beziehungen zwischen dem kommunistischen Block und dem jüdischen Volk. Das Wort »Zionismus« war in allen osteuropäischen Staaten ein Pejorativ, eine schwere, rufschädigende Beschuldigung, zu bestimmten Zeiten ein Straftatbestand. Jeder Jude konnte, einfach aufgrund seines Judeseins, zu irgendeinem Zeitpunkt dieses Delikts verdächtigt werden. In den frühen fünfziger Jahren war »Zionismus« ein offizieller Anklagepunkt in politischen Prozessen. Beispielsweise im 1952 in Prag inszenierten Schauprozess gegen Rudolf Slansky und andere Funktionäre jüdischer Herkunft, die zum Tode verurteilt und hingerichtet wurden.

Der zweite Eckpunkt in der kommunistischen Haltung zu Juden und Judentum war der traditionelle Antisemitismus des sowjetischen Imperiums. In großen Zügen war dieser Judenhass alt-russische Tradition. Russland ist das Land, in dem das Wort Pogrom geprägt wurde, stammgleich mit ogromnyi, schrecklich, vernichtend. Die blutigen Judenverfolgungen im zaristischen Russland waren einer der Gründe, aus dem sich zahlreiche junge Juden der kommunistischen Bewegung anschlossen und dort in einflussreiche Positionen aufstiegen. Das Zentralkomitee der Bolsheviki, zumindest in der frühen Zeit unter Lenin, hatte viele jüdische Mitglieder. Zugleich waren Juden unter den entschlossensten Gegnern der Bolsheviki, etwa die Lenin-Attentäterin Fanja Kaplan oder der Petersburger Kadett Leonid Kannegiesser, der 1918 den (gleichfalls jüdischen) Chef des sowjetischen Geheimdienstes Urizki erschoss – Ereignisse, die den Vorwand zur ersten großen Terror-Welle der Bolsheviki unter Lenin gaben.

Juden wurden in allen Perioden der Sowjetherrschaft verfolgt, besonders in den stalinistischen »Säuberungen«; Sogar Juden, die sich zum Kommunismus bekannten und dem Regime in hohen Funktionen dienten, wie Trotzkij, Radek, Bucharin, Sinowjew, Kamenjew, der Theaterregisseur Meyerhold, der bekannte General Mechlis oder der Schauspieler Michoels. Auch prominente jüdische Schriftsteller kamen in den Jahren des stalinistischen Terrors ums Leben, Isaak Babel, Moishe Kulbak, Perez Markish oder Ossip Mandelstam – ihre Namen mögen symbolisch für die Hunderttausende namenloser Juden stehen, die in der Zeit des Stalinismus ihr Leben ließen. In Stalins späten Lebensjahren wurde der Judenhass zu einer Obsession des Diktators, die Partei begann zu Beginn der 50er Jahre noch einmal, die Juden im kommunistischen Machtbereich systematisch zu verfolgen, etwa in der Kampagne nach der sogenannten »Ärzteverschwörung« oder in der gegen »Kosmopolitismus« und »Zionismus«.

Stalins Tod im Jahre 1953 brachte eine gewisse Erleichterung, veränderte aber die Situation der sowjetischen Juden nicht wirklich zum Besseren. Ihre Lage blieb verzweifelt genug, dass ihre Mehrheit das Land verließ, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab. Nach Jahren des Kampfes um Ausreise-Genehmigungen – tatkräftig unterstützt von internationalen Organisationen – konnten Hunderttausende Juden aus den verschiedenen Republiken des sowjetischen Imperiums in andere Länder emigrieren, zumeist nach Israel, in die USA, nach Kanada oder Deutschland. Nichts könnte die desperate Situation der sowjetischen Judenheit klarer zeigen als die Tatsache, dass zehntausende russische, ukrainische, belorussische, moldawische, baltische, kaukasische Juden seit den siebziger Jahren eine Emigration in die Bundesrepublik anstrebten, obwohl Deutschland unter den Juden Osteuropas in Erinnerung an die unvergesslichen Grausamkeiten der Shoa annähernd den Status eines verbotenen Landes hatte.

Die Attitüde der DDR gegenüber den Juden war zum einen von der antijüdischen Haltung der Sowjetunion bestimmt, wie die aller Ostblock-Staaten. Auf der anderen Seite bildete die DDR einen Sonderfall innerhalb des Sowjetimperiums, da sie als Teil des früheren Nazi-Deutschlands im Sinne »antifaschistischer« Überwindung des Gestern ein tolerantes und freundliches Verhältnis gegenüber den auf ihrem Staatsgebiet lebenden Juden zu demonstrieren hatte.

Eines der Hauptargumente ostdeutscher Propaganda gegenüber der Bundesrepublik war die neuerliche Verwendung nazistisch Vorbelasteter im westdeutschen Staats- und Justizapparat. Vor diesem Hintergrund profilierte sich die DDR gegenüber ihren eigenen Bürgern und der Welt als »der antifaschistische deutsche Staat«. Dazu war es unerlässlich, die wenigen in der DDR überlebenden oder dorthin zurückgekehrten Juden besser zu behandeln als in anderen sozialistischen Staaten üblich. Verfolgungswellen gegen jüdische Funktionäre wie in Polen und der Tschechoslovakei wurden in der DDR zumindest abgedämpft. Parteichef Ulbricht ließ aus westlichen Exilländern zurückgekehrte Emigranten (sogenannte »Westemigration«), darunter jüdische Intellektuelle, bespitzeln und verfolgen, es kam zu Partei-Tribunalen gegen Funktionäre jüdischer Herkunft (Rudolf Herrnstadt) oder zur Abstrafung solcher, die sich zu nachdrücklich für die Rechte der Juden in der DDR einsetzten (Paul Merker), zu Parteiausschlüssen und Haftstrafen, doch es gab keine Schauprozesse sowjetischen Stils mit Todesurteilen und anschließender Vollstreckung. Ostentativ wurden einige hohe Funktionen im Parteiapparat, besonders auf den Gebieten Ideologie und Kultur, mit Funktionären jüdischer Herkunft besetzt.

 Dessen ungeachtet blieb die allgemeine Situation der jüdischen Gemeinden in der DDR ein »Schattendasein«: die Juden waren in der Rolle als Vehikel und Schaustück taktischer Parteiarbeit, mal als »Zionisten« beargwöhnt, mal als »Antifaschisten« privilegiert – die Linie wechselte abrupt. Gegen die Unberechenbarkeit der Parteilinie war man in keiner der überlieferten Anpassungsformen, Diaspora oder Assimilation, gefeit. Siehe dazu: Chaim Noll, Früchte des Schweigens. Jüdische Selbstverleugnung und Antisemitismus in der DDR, DeutschlandArchiv, Juli 1989. Das tragische Schicksal der ostdeutschen Juden kommt auch in ihrer Zahl zum Ausdruck: 1956 hatten die fünf jüdischen Gemeinden rund 7500 Mitglieder, 1990, bei Ende der DDR, waren es noch 450.

Die Verfolgung »zionistischer Verbindungen« und »Aktivitäten« während der frühen Jahre der DDR hatte einschüchternde Wirkung auf viele jüdische Intellektuelle und brachte sie dahin, ihre jüdischen Wurzeln fürderhin zu verschweigen oder zu verleugnen. Die DDR-offizielle Verurteilung des »Zionismus« dauerte bis 1989 und hing wie ein Damoklesschwert über den dort lebenden Juden. Beziehungen nach Israel wurden unterdrückt oder ganz unterbunden. Seit 1975 war auch der Postverkehr mit Israel nicht mehr erlaubt.

Unter den jüdischen Intellektuellen, die aus dem Exil nach Ostdeutschland zurückkehrten, waren bekannte Schriftsteller wie Anna Seghers (aus Mexico), Arnold Zweig, Rudolf Hirsch (aus Haifa), Wieland Herzfelde, Stefan Heym, F.C.Weiskopf (aus den USA), Friedrich Wolf, Hedda Zinner (aus Moskau) und viele andere. Hinzu kamen Schriftsteller jüdischer Herkunft, die auf die eine oder andere Weise in Deutschland überlebt hatten. Obwohl solche Schriftsteller durchaus eine Rolle im literarischen und kulturellen Leben der DDR spielten, erwähnten die meisten dieser Autoren ihre jüdische Herkunft möglichst nicht und lehnten es ab, als jüdische Schriftsteller angesehen zu werden.

Die grundsätzliche Bedingung, um im offiziellen Literaturbetrieb der DDR akzeptiert zu werden, war die Selbstpräsentation als Sozialist, strikter Atheist, dem Fortschritt zugewandt, folglich über alles religiöse und traditionelle Denken hinaus. Texte anderer Tendenz wären – mit Ausnahme von ein, zwei christlichen Verlagen – von keinem der strikt kontrollierten ostdeutschen Buchlektorate akzeptiert worden. Ein gesellschaftlich anerkannter DDR-Schriftsteller konnte daher unmöglich Jude im eigentlichen Sinne des Wortes sein, das heißt mit den zum Judesein gehörenden traditionellen und kulturellen Observanzen. Ohnehin konnte man in der DDR nicht wirklich Jude sein, denn es gab kein jüdisches Leben. Nicht einmal die Grundfunktionen des Judentums waren gegeben, es gab in der DDR bis 1987 keinen Rabbiner und keinen mohel, unerlässliche jüdische Rituale wie Beschneidung und Bar Mitzvah wurden verhindert. Falls es zu einer jüdischen Hochzeit kam – mir ist nur ein einziger Fall bekannt – wurde ein Rabbiner aus dem Ausland geholt. Jüdisches Schrifttum im eigentlichen Sinn existierte nicht, vor allem nichts hebräisch Geschriebenes, diese Sprache war in der Sowjetunion gänzlich verboten, in anderen Ostblockländern wenigstens unterdrückt. Unter solchen Bedingungen war es so gut wie unmöglich, Kenntnisse über Judentum zu erlangen, sogar für Wissenschaftler und Schriftsteller. Daher gab es fast niemanden, der sich damit wissenschaftlich oder literarisch beschäftigte.

Auch hier gab es eine Handvoll Ausnahmen. Etwa Stefan Heym, der in seinen Romanen Der König David Bericht oder Ahasver Stoffe aus der jüdischen Geschichte behandelte. Fast unvermeidlich geriet der Autor dieser Bücher in Konflikte mit der Partei und wurde zunehmend wie ein Dissident behandelt, trotz aller Treueschwüre zum Sozialismus als solchem, die Heym bis an sein Lebensende nicht müde wurde zu bekunden. Ähnliches geschah Jurek Becker, einem der wenigen ostdeutschen Autoren jüdischer Herkunft, die jüdische Themen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen wagten. Beide Autoren waren weit entfernt von jüdischem Glauben oder jüdischer Tradition, beide bekannten sich zum Sozialismus, dennoch galt ihnen das Misstrauen des Parteiapparats. Becker wurde später aus der Partei ausgeschlossen und ging in den Westen. Heym blieb in Ost-Berlin und bis zum Ende der SED-Herrschaft unter Überwachung durch die Staatssicherheit.

Andererseits gab es Autoren jüdischer Herkunft, die sich der Partei besonders anzubiedern versuchten, etwa Louis Fürnberg, Verfasser des berühmten Liedes Die Partei hat immer recht. Auch wer nicht so weit ging, sich aber treu an die Parteilinie hielt wie Anna Seghers, Friedrich Wolf, Hermlin, Peter Edel, der ostdeutsche PEN-Präsident Kamnitzer und andere, vermied die literarische Behandlung jüdischer Topoi.

 Der in der DDR politisch korrekte Weg, über Juden zu schreiben, war ihre Darstellung als Opfer während der NS-Zeit. Früh verbreitete man in hohen Auflagen Das Tagebuch der Anne Frank oder dessen polnisches Pendant, die Aufzeichnungen des jungen David Rubinowicz. Als positive jüdische Charaktere galten Juden, die im kommunistischen Widerstand gekämpft hatten, etwa die Kämpfer des Warschauer Ghetto-Aufstands 1943, der als kommunistische Aktion reklamiert wurde. So bemühte sich etwa Eberhard Rebling, ein Partei-konformer Musikwissenschaftler jüdischer Herkunft, im Vorwort des Bandes Es brennt, Brüder, es brennt, Veröffentlicht 1966 in Ost-Berlin. die Ähnlichkeit zwischen Melodien jiddischer Lieder und kommunistischer Parteigesänge nachzuweisen, als Beweis dafür, dass die jüdische Widerstandsbewegung in Polen Bestandteil der kommunistischen gewesen sei. Als in den kommunistisch geführten Widerstand integriert erscheinen auch die jüdischen Figuren in Bruno Apitz' berühmtem Buchenwald-Roman Nackt unter Wölfen, einer erschütternden Erzählung vom Widerstand gegen die Unmenschlichkeit.

 Während aber die Kommunisten als Sieger aus den Verfolgungen hervorgingen, blieb das Bild des Juden in der parteilichen Darstellung grundsätzlich das eines Opfers. In den wenigen Fällen, in denen überhaupt jüdische Literatur in der DDR veröffentlicht wurde, etwa in der Anthologie Der Fiedler vom Ghetto, Leipzig 1968. versuchten die Herausgeber zu suggerieren, jüdische Literatur sei ein Phänomen der Vergangenheit, wie bereits der Titel des Vorworts zu verstehen gab: Dichtung eines ermordeten Volkes. Das Bild vom Juden als dem ewigen Opfer der Geschichte war unvereinbar mit lebenden Juden, die nicht ins Opfer-Stereotyp passten, womöglich siegreich oder erfolgreich waren, zum Beispiel Juden im heutigen Israel oder in den USA. Sie wurden, falls überhaupt, nur in negativen Zusammenhängen erwähnt. Mir persönlich z.B. gelangte der Umstand, dass es in den USA Juden gibt, über den Umweg eines Buches zur Kenntnis, das amerikanischen Antisemitismus darstellte: Arthur Millers Roman Focus, 1968 in Ost-Berlin unter dem Titel Im Brennpunkt veröffentlicht. Wieder fungierten die jüdischen Figuren nur als Objekte des gegen sie bestehenden Hasses. Das Buch vermittelte in seinem isolierten, durch nichts relativierten Erscheinen den irrigen Eindruck, die amerikanische Gesellschaft sei überwiegend judenfeindlich. Über das Leben in Israel war in der DDR so gut wie nichts zu erfahren, die Werke israelischer Autoren wurden nicht veröffentlicht. Einzige Ausnahme, an die ich mich erinnere, war eine kurze Humoreske von Ephraim Kishon, Spitalsbelagerung, die in der Anthologie Welthumor des Eulenspiegel Verlags in Ost-Berlin erschien, eine sorgfältig ausgesuchte Geschichte, aus der weder hervorging, dass die Protagonisten Juden waren noch der Ort der Handlung Israel war.

Auf die erste Generation der DDR-Literatur, die alten »antifaschistischen« Autoren, von denen einige, vornehmlich Juden, aus dem Exil nach Ostdeutschland zurück gekehrt waren, folgte eine zweite Generation von DDR-Schriftstellern, geboren in den späten Zwanzigern und Dreißigern, folglich im Gründungsjahr der DDR noch jung, die bereits von Anbeginn ihres Schreibens unter Aufsicht des DDR-Kulturbetriebs standen. Sie waren als Jugendliche von der Nazi-Ideologie beeinflusst, nicht wenige von ihnen Kinder-Soldaten in den letzten Schlachten des untergehenden Nazi-Reiches, oder auf andere Art Zeugen der Katastrophe. Als erste Zöglinge der Nachwuchsförderung des DDR-Kulturbetriebs wurden sie zu Vorzeigeautoren des Systems, nicht selten verbunden mit Funktionen in Partei-und Staatsapparat. Auch unter ihnen gab es Autoren jüdischer Herkunft, meist sogenannte »Mischlinge«, die auf die eine oder andere Weise die NS-Zeit überlebt hatten, etwa Günter Kunert (Jahrgang 1929), mein Vater Dieter Noll (1927) oder der als Autor propagandistischer Fernsehserien bekannte Benito Wogatzki (1932). Diese Generation repräsentativer DDR-Autoren, ob jüdischer Herkunft oder nicht, vermied den Topos Judentum vollständig.

Einzig der 1922 geborene Franz Fühmann versuchte 1962 mit der Erzählung Das Judenauto einen Vorstoß zum Thema. Die Juden in diesem literarisch interessanten Prosatext sind allerdings nur Projektionsfläche für die antijüdischen Gefühle des jugendlichen Ich-Erzählers, den die NS-Propaganda in eine judenfeindliche Hysterie getrieben hat, in der auch dort er Juden wittert, wo es keine gibt. Die Geschichte wurde nicht geschrieben, um Juden darzustellen (es tritt auch kein einziger Jude darin auf), sondern um die Erziehung des Autors im NS-System aufzuzeigen, in der Judenhass eine gemeinschaftstiftende, massenhysterische Stimmungen erzeugende Komponente war.

 Insgesamt gilt die Darstellung von Juden in Texten der DDR-Literatur – so selten, wie Juden überhaupt dargestellt wurden – eher der Reflexion eigener deutscher Probleme als den Juden selbst. Einige Jahrzehnte schien niemand in der DDR am Thema Juden und Judentum interessiert, der Topos wurde nur nominell am Leben gehalten als Beweisstück für die »antifaschistische« Haltung der SED. Das änderte sich erst in den späten Sechziger, frühen Siebziger Jahren, als einige Anthologien mit jüdischen Gedichten und anderen Texten erschienen, die Einblick in jüdisches Leben in Ost-Europa vor der Shoah erlaubten. Etwa der bereits erwähnte Band Es brennt, Brüder, es brennt, die Gedichtsammlung Welch Wort in die Kälte gerufen oder der von Hubert Witt, einem der ersten Herausgeber auf diesem Gebiet, edierte Band Meine jüdischen Augen. In die selbe Zeit fällt die Veröffentlichung einiger jüdischer Autoren aus dem Ausland oder aus der Vergangenheit. Auch hier ist strikte Selektion spürbar, die festlegt, was zur Kenntnis der DDR-Leser gelangen durfte und was nicht. Das Kriterium war wie immer die politische Linie der Sowjetunion und ihrer Satelliten. Da Israel im gesamten kommunistischen Imperium bis zum Ende ein feindlicher Staat blieb, wurden aus den Buchausgaben der DDR alle Texte mit pro-zionistischer Tendenz verbannt. Das betraf auch nicht-jüdische Autoren. So wurden beispielsweise pro-zionistische Aufsätze Thomas Manns, entstanden unter dem Eindruck seines Besuches in Tel Aviv und anderen jüdischen Siedlungen anlässlich der Nahost-Reise 1930, nicht in die Gesamtausgabe des Aufbau-Verlags aufgenommen.

 Die DDR-Selektion bevorzugte jüdische Autoren mit eher pessimistischer und anti-zionistischer Tendenz wie Stephan Zweig oder Joseph Roth. Zweigs Roman Ungeduld des Herzens und ein Erzählungsband mit dem Titel Leporella wurden bereits in den siebziger Jahren zugelassen. Joseph Roth's Hiob erschien 1967 im christlichen St.Benno Verlag in Leipzig, der Kapitalismus-kritische Roman Hotel Savoy 1966 sogar in der populären Taschenbuchreihe des Reclam Verlages, vorangegangen war bereits 1957 eine Ausgabe von Radetzkymarsch im Ost-Berliner Aufbau Verlag, wenngleich in kleiner Auflage. Im selben Verlag erschien 1966 ein Band mit Erzählungen des Autors unter dem Titel Der blinde Spiegel. Sein Roman Kapuzinergruft wurde 1984 im Ost-Berliner Verlag der Nation veröffentlicht. Auch der satirische Schriftsteller Sandor Friedrich Rosenfeld, genannt Roda Roda, der 1945 im New Yorker Exil gestorben war, konnte in der DDR erscheinen: er galt wie Roth als Zeuge für die Dekadenz der österreichischen Monarchie.

Wo sich Werke jüdischer Autoren als Beleg für das Unrecht der Klassengesellschaft eigneten, die durch den Sozialismus beseitigt werden sollte, galten sie unter Umständen als geeignetes Bildungsgut für DDR-Bürger. Wegen ihres Status als ewige Opfer der Geschichte hielt man Juden für besonders glaubwürdige und sensible Zeugen, was Ausbeutung, Verweigerung persönlicher Rechte und Verfolgung betraf. In diesem Sinne wurden etwa die Romane und Erzählungen des jüdischen Schriftstellers Karl Emil Franzos rezipiert, die ab 1970 im Verlag der Nation erschienen: neben seiner deprimierenden Schilderung der Situation der osteuropäischen Juden beschrieb er zugleich die elende Lage der ostpreußischen Bauern und Landarbeiter. Auch der Roman Kaiserwetter von Karl Jakob Hirsch erschien in der DDR, auch er galt als literarischer Beleg für die Dekadenz der bürgerlichen Gesellschaft. Selbstredend wurde in den Lebensläufen des Autors nicht erwähnt, dass Hirsch ein Enkel des berühmten Frankfurter Rabbiners Samson Rafael Hirsch war, des Begründers der Neo-Orthodoxie, einer pro-zionistischen Strömung im modernen Judentum.

Solche Weglassungen fallen in den meisten Ausgaben jüdischer Autoren ins Auge. Als man sich 1980 in der DDR dazu durchrang, einen Auswahlband mit Erzählungen des jüdischen Literatur-Nobelpreisträgers Isaac Bashevis Singer zu veröffentlichen, achtete man sorgfältig darauf, weder Texte aufzunehmen, in denen Singers Abscheu gegen den Stalin-Terror und das Sowjetsystem zum Ausdruck kam, noch solche, in denen er das Leben in Israel schilderte. Aus anderen Gründen heikel war die Herausgabe von Kafka, auch diese erfolgte relativ spät, Ende der Siebziger Jahre, und nur in schmalen Auszügen.

Andererseits kannte der Kulturapparat keine Skrupel, Juden und jüdische Stoffe für seine Propaganda-Zwecke zu benutzen. Als Beispiel sei das Jugendbuch Janusz K. oder Viele Worte haben einen doppelten Sinn erwähnt, die von einer Parteijournalistin verfasste Biographie des Kinderarztes Janusz Korczak, der 1942 die jüdischen Kinder seines Waisenhauses zu beschützen versuchte und mit ihnen in Treblinka in die Gaskammer ging. Nachwortautor Pit Sander nimmt Korczaks Schicksal zum Vorwand, die jugendlichen Leser zur sozialistischen Revolution aufzurufen, da der Kapitalismus der Nährboden des »Faschismus« sei und zerstört werden müsse.

Das Bild von Juden und Judentum im Schrifttum der DDR – sowohl in der eigentlichen DDR-Literatur inklusive wissenschaftliche und Sekundärliteratur als auch in den zensierten Ausgaben ausländischer oder früherer Autoren – bleibt schattenhaft und vage. Wichtigster Grund dafür ist die schizophrene Haltung der SED zum Thema Judentum: einerseits an die Israel- und Judenfeindliche Politik der Sowjetunion gebunden, andererseits als deutscher Nachkriegsstaat um Abgrenzung vom Judenhass der Nazis bemüht. Das Thema bedeutete ein Risiko für jeden Autor, der sich ihm zu nähern wagte, sei es belletristisch oder wissenschaftlich. Nur wenige DDR-Schriftsteller haben in ihren Büchern Juden darzustellen versucht. Diese wenigen Autoren waren selbst jüdisch, mehr noch Überlebende des Holocaust, was ihnen eine gewisse Unangreifbarkeit verlieh, wenigstens zeitweise. Fred Wander, geboren 1917, ein Überlebender von Auschwitz, studierte 1955 am Leipziger Literaturinstitut und lebte seit 1958 in Ost-Berlin. 1971 veröffentlichte er seinen Roman Der Siebente Brunnen, in dem er Menschen, Opfer wie Täter, auftreten ließ, denen er auf seiner Odyssee durch dreizehn Konzentrationslager begegnet war. Die Arbeit an diesem Roman war nicht nur Befreiung von der drückenden Last seiner Erlebnisse, sie erlöste den Autor auch von den engen Denkmustern der marxistischen Ideologie, mit der er aufgewachsen war. Bald darauf begann sich der österreichische Staatsbürger Wander in Ost-Berlin unbehaglich zu fühlen und kehrte 1982, nach dem frühen Tod seiner Frau, nach Wien zurück. In einem Interview sprach er wenig später über seine Abwendung vom Kommunismus und seine lebenslange Nähe zur geistigen Welt des Judentums: »Das Alte Testament hat mich mein ganzes Leben lang beeinflusst.«

Auch Jurek Becker, Überlebender von Ghetto und Konzentrationslagern, zeigt beeindruckende jüdische Charaktere in seinem berühmten Roman Jakob der Lügner, erschienen zuerst 1969 in Ost-Berlin. Sein Protagonist Jakob Heym, zu Beginn der Geschichte eine geduckte Opfergestalt, wächst über sich hinaus und verbreitet Hoffnung und Zuversicht unter den entmutigten Ghetto-Bewohnern. Obwohl der Roman mit seinem unvermeidlichen Tod in der Vernichtungsmaschinerie der Nazis endet, hat er die seelischen Qualitäten zum Überleben demonstriert. Der Leser spürt, dass Becker seine jüdischen Protagonisten liebt, weil sie selbst angesichts totaler Entrechtung und drohender physischer Vernichtung die Kraft finden, an eine Zukunft zu glauben. In der Figur des Hershel Shtamm zeichnet Becker einen religiösen Juden, vermutlich den einzigen, der je von einem ostdeutschen Autor dargestellt wurde. Wie Wander verließ auch Jurek Becker die DDR nur wenige Jahre nach Erscheinen seines Romans. Offenbar hatte der Prozess des Schreibens über die Jahre der Verfolgung Denkstrukturen und Persönlichkeit beider Autoren soweit befreit, dass ihnen die Hinnahme weiterer Repressionen, diesmal durch einen kommunistischen Staat, unmöglich wurde. Becker emigrierte 1977 nach West-Berlin.

Die Geschichte jüdischen Schreibens und der Darstellung von Juden und Judentum in der Literatur der DDR ist bisher weitgehend in Dunkel gehüllt: einmal wegen der Desinformation durch die offizielle DDR-Kulturpolitik, zum anderen wegen des Mangels an Kenntnis bei den Literaturwissenschaftlern im Westen, der mit allmählichem Aussterben der Zeugen endgültig zu werden droht. Es geht darum, die komplizierte Situation einer staatlich kontrollierten Literaturszene zu verstehen, die gefangen blieb in der Schizophrenie zwischen strikter anti-zionistischer Vorgabe und Verdächtigung aller Juden als potentieller Instrumente des »Gegners« und, auf der anderen Seite, der Notwendigkeit, aus politischen Gründen einige Vorzeige-Juden, zum Teil privilegiert und in hohen Positionen, zu unterhalten. In der DDR finden wir eine besondere Art von Antisemitismus, der um keinen Preis offen eingestanden werden durfte, sodass seine Träger oft nicht einmal ahnten, dass die Denkstereotype, denen sie im Umgang mit Juden oder in der Rezeption jüdischer Literatur folgten, die traditionellen antijüdischen Haltungen der angeblich überwundenen »Ausbeuterordnung« waren. Am Thema Juden zeigte sich wie kaum irgendwo sonst die Unfähigkeit des Staatssozialismus, überkommene gesellschaftliche Probleme zu lösen, worin ja eigentlich der Anspruch dieses Experiments bestanden hatte – ein weiterer Grund, das ganze Thema zu unterdrücken. In einer derart absurden Atmosphäre war es fast unmöglich, als Jude zu leben, erst recht als jüdischer Schriftsteller.

~Von Chaim Noll. Der Autor wurde 1954 in Ostberlin geboren und lebt seit 1995 in Israel. Zuletzt erschien sein Roman Der Kitharaspieler im Verbrecher Verlag.