Den Krieg erklären

Interview mit Michael Heinrich und Jost Müller

Im Januar veranstaltete die Antifaschistische Aktion Berlin (AAB) eine Veranstaltung mit dem Titel „Sag mir, wo du stehst“, auf der linke Analysekonzepte und ihre Erklärungskraft angesichts des bevorstehenden Irak-Krieges im Zentrum der Diskussion standen. Da die Veranstaltung nicht mitgeschnitten werden konnte, erklärten sich mit Michael Heinrich und Jost Müller zwei der Referenten bereit, zu den wesentlichen Streitfragen in einem kurzen Interview erneut Stellung zu nehmen.
 

In einem Artikel in der Wochenzeitung Jungle World und jetzt wieder bei der Diskussionsveranstaltung über Krieg und Imperialismus in Berlin hast Du Lenins Imperialismustheorie, nach der sich die imperialistischen Mächte einen Kampf um die Neuaufteilung der Welt liefern, um Absatz- und Anlagesphären für ihre jeweiligen Konzerne zu schaffen, als nicht mehr zeitgemäß bezeichnet. Ist es aber nicht doch so, dass ökonomische Interessen nach wie vor ausschlaggebend für die Kriege der neunzigerer Jahre und auch für den bevor stehenden Krieg gegen den Irak sind?

Heinrich: Zunächst mal habe ich nicht davon gesprochen, dass die Imperialismustheorie „nicht mehr“ zeitgemäß sei, so als ob sie früher mal gestimmt hätte und nur heute nicht mehr richtig sei. Ich habe vielmehr versucht deutlich zu machen, dass die Imperialismustheorie noch nie besonders zutreffend war. Dabei muss man allerdings den theoretischen Ansatz Lenins und anderer von der weit verbreiteten Etikettierung der Tatsache, dass Staaten ihren Einflussbereich vergrößern wollen, unterscheiden. Bezeichnet man allein diesen Sachverhalt als „imperialistisch“ habe ich noch nichts gewonnen außer einem Wort. Lenin bemühte sich immerhin um eine Erklärung: der Kapitalismus sei in eine neue Phase getreten, denn Monopolkapitalismus, Monopole und Finanzkapital beherrschen die Wirtschaft, und weil deren Profitproduktion im Inland an Grenzen stoße, müsse ihnen der Staat neue Absatz- und Anlagesphären im Ausland sichern. Diese Theorie beruht aber auf einer schiefen Kapitalismusanalyse und fällt weit hinter Marx zurück. Lenins wichtigste theoretische Quelle für seine Imperialismustheorie war auch nicht Marx, sondern der linksliberale Autor John A. Hobson. Statt der Vergesellschaftung über den Wert und den Warenfetisch, dem alle Mitglieder der Gesellschaft unterliegen, sollen nun die „Monopolherren“ Wirtschaft und Gesellschaft direkt beherrschen und den Staat zum ausführenden Organ ihrer Interessendurchsetzung machen. Das ist nicht nur eine schiefe Kapitalismusanalyse, sondern auch eine schiefe Staatstheorie, da die zentrale Aufgabe des Staates gerade in der Durchsetzung (und Legitimierung!) nicht des einzelkapitalistischen sondern des gesamtkapitalistischen Interesses besteht. Dieses gesamtkapitalistische Interesse muss aber überhaupt erst ermittelt werden, es ist nicht einfach da. „Demokratie“ und „Öffentlichkeit“ sind nun genau die Instanzen, mit denen dieses Interesse ermittelt, durchgesetzt und gegenüber den subalternen Klassen legitimiert wird.
 

Du würdest also nicht die Einschätzung teilen, dass es vor allem die Interessen amerikanischer Konzerne am irakischen Öl sind, die hinter dem Kriegskurs der USA stehen?

Heinrich: Wenn die USA tatsächlich Krieg gegen den Irak führen und eine ihnen genehme Regierung installieren, dann werden mit Sicherheit amerikanische Ölfirmen dort auch eine Reihe lukrativer Geschäfte machen. Nur: Dass diese Firmen später einmal von diesem Krieg profitieren werden, ist noch kein überzeugendes Argument dafür, dass dieser Krieg vor allem wegen dieser Profite geplant wird. Tatsächlich sind die erwarteten Kriegskosten um ein Vielfaches höher als die möglicherweise realisierten Profite. Selbst bei einem kurzen Krieg werden die unmittelbaren Kosten mit ca. 40 Mrd. Dollar veranschlagt, einschließlich der Folgekosten geht man über einen Zeitraum von zehn Jahren von mindestens 100 Mrd. Dollar aus - dies ist allerdings die „optimistische“ Variante. Auf der anderen Seite exportiert der Irak im Moment nur Öl im Gesamtwert von ca. 13 Mrd. Dollar, und um diese Menge zu steigern, sind erst noch erhebliche Investitionen nötig.
 

Lässt sich der bevorstehende Krieg gegen den Irak denn überhaupt noch in nationalstaatlichen Kategorien verstehen? Innerhalb der linken Debatte ist in den letzten Jahren nicht ohne Plausibilität häufig von der stetig fortschreitenden Transformation nationalstaatlicher Souveränität die Rede gewesen. Vor allem die transnationale Kapitalvernetzung würde auch eine Politik der multilateralen, „gesamtimperialistischen“ Interessensdurchsetzung hervorbringen.

Heinrich: Dass die Bedingungen, unter denen Nationalstaaten agieren in den letzten 20, 30 Jahren erhebliche Veränderungen erfahren haben, ist ganz offensichtlich. Und da die Nationalstaaten heute über bestimmte, vor allem wirtschaftspolitische Möglichkeiten, etwa bei der Regulierung des inländischen Zinsniveaus oder des Wechselkurses ihrer Währung, nicht mehr in der gleichen Weise verfügen wie früher, wird häufig von einem Souveränitäts- und Bedeutungsverlust der Nationalstaaten gesprochen. So auch Hardt und Negri in „Empire“: Sie erklären die klassische Imperialismustheorie ja nicht deshalb für überholt, weil sie irgendeine inhaltliche Kritik an ihr hatten, sondern weil sie glauben, dass die Nationalstaaten heute bereits so weit an Bedeutung verloren haben, dass eine „imperialistische“ Politik einfach nicht mehr möglich sei. Stattdessen soll ein umfassendes „Empire“ existieren, das kein Außen mehr kennt, in dem die Macht überall und nirgends existiert und Kriege eher den Charakter von Polizeieinsätzen zur Durchsetzung einer universellen Rechtsordnung hätten. Mir scheint, da wurde eine schiefe Theorie nur durch eine andere, genauso schiefe Theorie ersetzt. Nach wie vor spielen einige, längst nicht alle Nationalstaaten eine entscheidende Rolle. Die Internationalisierung der Finanzmärkte, wie auch der Wertschöpfungsketten des produzierenden Kapitals führen aber dazu, dass die Nationalstaaten auf ganz unterschiedlichen Ebenen miteinander zu tun haben. Um Handel, Investitionen, Kapitalverkehr, den Transfer der Profite etc. zu gewährleisten, müssen eine Vielzahl von internationalen Regelungen getroffen werden, die keineswegs nur technischen Charakter haben, sondern immer auch bestimmte Interessen begünstigen oder hemmen. Insofern stehen die Staaten teils direkt, teils vermittelt über internationale Organisationen in einem Verhältnis von gleichzeitiger Konkurrenz und Kooperation. Je nach Problemfeld kann es dabei ganz unterschiedliche Interessen- und Bündniskonstellationen geben, wobei auch die einzelnen Nationalstaaten keineswegs einheitlich auftreten. Ein „gesamtimperialistisches“ Interesse, ich würde eher von einem globalen gesamtkapitalistischen Interesse sprechen, existiert nur insoweit, als alle Länder an einer möglichst reibungslosen Kapitalakkumulation ein Interesse haben. Wie dies dann aber im Einzelnen aussehen soll, da gehen die Interessen erheblich auseinander, so dass es eben immer Kooperation und Konkurrenz der Staaten gibt.
 

Und was heißt das dann für den Aufmarsch gegenüber dem Irak? Um welche Interessen und um welche Ziele geht es hier?

Heinrich: Für die USA geht es offensichtlich zunächst einmal um eine verstärkte Kontrolle der gesamten Region. Von den drei großen Ölstaaten des Mittleren Ostens kann sich die USA nur auf Saudi-Arabien stützen und hier wurden die Bande in letzter Zeit immer brüchiger. Könnten die USA im Irak eine „freundliche“ Regierung installieren, dann wäre nicht nur ihre Abhängigkeit von Saudi-Arabien geringer, es könnte dann auch der Druck auf den dritten wichtigen Ölstaat, den Iran, der von Bush ja auch schon zur „Achse des Bösen“ gezählt wurde, enorm gesteigert werden; der östliche Nachbar des Iran, Afghanistan, wurde ja schon vereinnahmt. Bei der angestrebten Kontrolle des Mittleren Ostens geht es für die USA aber nicht nur um eine Sicherung der eigenen Ölversorgung, zugleich würden auch alle wichtigen Konkurrenten, die großen EU-Staaten Frankreich und Deutschland, Russland sowie China in ihre Schranken verwiesen. Die Region zwischen dem Persischen Golf und Zentralasien ist nicht nur enorm rohstoffreich, sondern auch politisch äußerst instabil. Nach dem Afghanistankrieg hat die USA bereits großen Einfluss in den ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken. Zusammengenommen mit einer Kontrolle des Irak und eventuell auch des Iran würde dies bedeuten, dass die USA auf die künftige Entwicklung dieser Region einen entscheidenden Einfluss haben werden: nicht um den eigenen Konzernen unmittelbar zu höheren Profiten zu verhelfen, das wird auch geschehen, ist aber zweitrangig, sondern um über die Regeln zu entscheiden, nach denen mit dieser Region und ihren Rohstoffen zukünftig umgegangen wird. Regeln, an denen sich dann auch alle konkurrierenden Staaten orientieren müssten: Wer zu welchen Bedingungen Zugang zu den Ressourcen hat, wie hoch der Ölpreis ist und nicht zuletzt, in welcher Währung das Öl abgerechnet wird, was in der Währungskonkurrenz mitentscheidend dafür ist, welche Währung zum Weltgeld wird. Machtpolitischen Konkurrenzunternehmungen, egal ob sie aus der EU, Russland oder China kommen, wäre so schon präventiv entgegen getreten. Den möglichen Konkurrenten bleibt nur noch, wie sich das bereits jetzt in der UNO andeutet, das Mitspielen zu US-amerikanischen Bedingungen. Andererseits sollte für die Linke aber auch deutlich werden, dass die momentane Friedensbegeisterung einiger EU-Länder, allen voran Deutschland und Frankreich weniger mit einer (im Vergleich zur USA) friedlicheren Politikorientierung zu tun hat (siehe Kosovo), als vielmehr mit anderen Interessen und eingeschränkteren Möglichkeiten, diese Interessen durchzusetzen.
 

Lenins Imperialismus-Ansatz sei auf die heutigen Verhältnisse nicht mehr anwendbar. Aber auch aktuelleren Theorien schlägt starke Kritik entgegen. So heißt es u.a. das Empire-Modell von Negri/Hardt, beruhe auf einer falschen Verallgemeinerung der weltpolitischen Situation, wie sie während des zweiten Golfkrieges (1991) vorzufinden war: Die dort zu beobachtende kooperative Kriegspolitik gegen der Irak, würde durch eher konkurrierende Interessenpolitik der Großmächte während des Jugoslawienkrieges und vor allem angesichts des jetzt drohenden Irakkrieges konterkariert. Wie lässt sich das, was die NATO in Ex-Jugoslawien, GI`s und KSK in Afghanistan, US-amerikanische und britische Flugzeugträger im Persischen Golf sowie im Mittelmeer treiben, als polizeiliche Weltinnenpolitik innerhalb eines „Empire“ erklären?

Müller: Die linke Debatte über den Krieg gegen den Irak – wie bereits über den zweiten Golfkrieg, über die Balkankriege oder den Krieg in Afghanistan – hat sich schnell in den eingefahrenen Bahnen der traditionellen Imperialismustheorie bewegt. Und auch die Polarisierung innerhalb der Linken wiederholt sich in gewisser Hinsicht. Auf der einen Seite machen sich die linken Kriegsbefürworter erneut zu Fürsprechern einer Zivilisation, die ihre Destruktivkräfte immer wieder gegen die versprochene Zivilität ausschlagen lässt und den zivilen Gesellschaften eine Militarisierung ihrer Potenziale auferlegt. Auf der anderen Seite stehen jene, die anhand politökonomischer Kategorien und der Analysen geostrategischer Interessenslagen die Kriegsbedingungen glauben hinreichend erfassen zu können und dann eine imperialistische Konkurrenzsituation mit unterschiedlichen Kriegszielen diagnostizieren. Die Argumente für westliche Demokratien im Unterschied zu diktatorischen Regimes sind ebenso bekannt wie die geostrategischen Ziele in der Golfregion.
Zweifelhaft ist allerdings, ob sich die gegenwärtige Form der internationalen Kriegsführung mit solchen Argumenten genauer bestimmen lässt. Sie klingen auf beiden Seiten wie der Widerhall der von der Bush-II-Administration vorgegebenen Rhetorik. Die kritische Linke muss dagegen den Selbstlauf dieser Kriegsführung im Auge behalten, auch wenn ihr dabei vorerst nur die Waffen der Kritik kapitalistischer Vergesellschaftung zur Verfügung stehen sollten.
Die klassischen Imperialismustheorien etwa von Lenin und Luxemburg definieren bei aller Unterschiedlichkeit den imperialistischen Krieg als Raubkrieg, der auf der Basis konkurrierender nationalstaatlicher Organisationen in den kapitalistischen Metropolen Ressourcen und Territorien, etwa als neue Märkte oder Rohstoffreserven, aneignen soll, um damit die Kapitalverwertung sicherzustellen. Weltpolitik, einer der zentralen Begriffe der Imperialismustheorie vor 1914, fungiert hier als die auf eine äußere Welt ausgreifende, letztlich aber im Interesse nationaler Kartelle und Trusts durchgeführte Intervention des Staats. Nach der Analyse, die Michael Hardt und Antonio Negri in Empire vornehmen, besitzt dagegen das Wiederaufleben der Vorstellung vom „gerechten Krieg“ eine zentrale Bedeutung, um die neue Form der Kriege in der Gegenwart zu erläutern. Heute, so sagen Hardt und Negri, ist der säkularisierte „gerechte Krieg“ zu einem Moment der Weltpolitik geworden, das seine Rechtfertigung in sich selbst trägt. Zwei Elemente sind im Unterschied zu den „low intensity conflicts“ nach 1945 in diesem Konzept des gerechten Kriegs kombiniert: erstens die Legitimität des militärischen Apparats als ethisches Instrument von Weltordnung, etwa im Diskurs über die Durchsetzung der Menschenrechte, über das Vorgehen gegen verbrecherische Regimes etc., zweitens die Legitimität qua Effektivität der militärischen Aktion, um die gewünschte Ordnung und den vermeintlichen Frieden herzustellen. In diesem Sinn wird der Krieg, wie auch der Feind, zugleich banalisiert und verabsolutiert. Zum einen wird er auf ein „Objekt polizeilicher Routine“ reduziert, zum anderen als absolute Bedrohung der ethischen Ordnung dargestellt.
Die Synthese dieser beiden Elemente ist zweifellos ein entscheidender Faktor, von dem die Grundlagen und die Tradition des Empire abhängen werden. Die säkularisierte Form des gerechten Kriegs mündet in eine diffuse permanente Kriegsordnung, wie sie sich im „langandauernden Krieg gegen der Terrorismus“ nun auch propagandistisch angekündigt hat. Es handelt sich um einen Krieg ohne Beginn und ohne Ende. Der Irak-Krieg stellt in diesem Rahmen lediglich eine Zwischenstation zur Etablierung einer globalen Kontrollgesellschaft dar, in der die Überbleibsel der West-Ost-Blockkonfrontation sukzessive bereinigt werden, zumal wenn die bestehenden Kriegsökonomien, wie im Fall von Jugoslawien, Afghanistan und Irak, der kapitalistischen Akkumulation wie der politischen Integration in die Weltordnung hinderlich sind. Es geht um eine Kotrollgesellschaft, in die sich die einzelnen politischen Regimes quasi automatisch eingliedern, um den Prozess der kapitalistischen Globalisierung, die Formen der internationalen Vergesellschaftung von Kapital, Arbeitsteilung und Wissensproduktion, die Hardt und Negri als reelle Subsumtion der gesamten Gesellschaft unter das Kapital bezeichnen, gegen die Risiken und Krisen abzusichern, die dieser Prozess fortlaufend produziert.
Nichts anderes meint die von Hardt und Negri angesprochene Synthese aus Banalisierung und Verabsolutierung. Die Regierungen bereiten durch entsprechende Sicherheitsgesetze ihre Gesellschaften auf diese Kriegsordnung vor: Sie organisieren keine Massenmobilisierung für den Krieg wie in den Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts mehr, formieren jedoch die staatliche Apparate umso gründlicher, wie etwa die Vorbereitungen zum innenpolitischen Einsatz der Armee in der Bundesrepublik zeigen. Gott und Vaterland dienen dabei lediglich als säkularisierte Galionsfiguren. Denn vor allem die soziale Panik, die der universelle Kampf gegen den Terror schürt, fördert die Muster autoritärer Kollektivbildung, die den Verlust nationalstaatlicher Souveränität kaschieren und die kriegführenden Gesellschaften in die katastrophische, ja manichäische Alternative „wir“, die Guten, oder „sie“, die Bösen, zwingen helfen. An dieser Formierung der staatlichen Apparate kann die Opposition gegen das Empire ansetzen, um die autoritären Muster der Kriegsordnung wirkungsvoll zu unterlaufen.

 

Innerhalb der linken Debatte ist den letzten Jahren nicht ohne Plausibilität häufig von der stetig fortschreitenden Transformation nationalstaatlicher Souveränität zu hören gewesen. Auch der Empire-Ansatz beruht in großem Maße auf der Einschätzung, dass zunehmend nationale Integrität außer Kraft gesetzt und Macht immer stärker horizontal vernetzt wird. Angesichts der gegenwärtigen Weltpolitik konkurrierender Machtblöcke sehen Kritiker des Ansatzes ein Nebeneinander von vertikal durchgesetzter Hegemonie, von partikularen Interessenidentitäten bei gleichzeitiger nationalstaatlicher Interessenkonkurrenz und von Souveränitätsverlusten machtpolitisch unterprivilegierter Staaten. Was ist im Bezug auf die aktuellen Geschehnisse erklärungskräftiger? Und warum?

Müller: Die Brisanz der Analyse von Hardt und Negri liegt darin, dass sie den Niedergang der nationalstaatlichen Regulierung und Krise der nationalstaatlichen Institutionen diagnostizieren. Der Nationalstaat ist nicht länger der wichtigste Akteur internationaler Politik. Imperiale Weltordnung meint ein stratifiziertes, aber in Netzen organisiertes Herrschaftssystem, das kein Äußeres mehr kennt. Staatliche Organisation und nationale Form entkoppeln sich und die völkerrechtliche Definition nationaler Souveränität besitzt de facto keine Gültigkeit mehr. Doch dieser Niedergang ist kein sang- und klangloses Verschwinden des Nationalstaats, sondern die Ablösung seiner paradigmatischen Funktion, wie sie vor allem auf dem europäischen Kontinent entstand und sich über Kolonialismus und Imperialismus verallgemeinerte. Waren übernationale politische Gebilde noch im 20. Jahrhundert – etwa Kolonialmächte und ihre Kolonien oder der West- und Ostblock – jeweils um eine Dominanz- oder Supermacht konzentriert, die nationale Souveränität expansiv auf dominierte koloniale oder nationale Gesellschaftsformationen übertrug, so besteht die neue imperiale Ordnung in einer horizontal zu den Nationalstaaten organisierten Form von Herrschaft. Die Nationalstaaten finden sich nach Hardt und Negri auf verschiedenen Ebenen einer „imperialen Pyramide“ reintegriert, dort treten sie mit anderen gleichgewichtigen Akteuren in Konkurrenz:
- auf der ersten Ebene des imperialen Kommandos mit internationalen Institutionen, die ehemalige Supermacht USA mit dem UN Sicherheitsrat, G 8, WTO, IWF, etc.,
- dann auf der Ebene der Verknüpfung des Kommandos und der netzförmigen Ausdehnung der imperialen Macht, auf der etwa auch die multinationalen Konzerne angesiedelt sind,
- und auch auf der unteren Ebene der Subalternität: kleinere Nationalstaaten, verschiedene gesellschaftliche Akteure, NGO etc.
Allerdings lösen Imperialismus und Empire einander nicht im Sinne einer definitiven Epochenfolge ab. Dem Zeitalter des Imperialismus folgt nicht einfach die Ära des Empire. Offensichtlich versuchen die USA unter der Bush-II-Administration in unmittelbarer Anknüpfung an die Reagan- und Bush-I-Administration erneut eine imperialistische Politik zu treiben. Hardt und Negri haben ausdrücklich darauf verwiesen, dass der Imperialismus die permanente Versuchung der USA ist. Sie haben aber auch gezeigt, dass und wie sich die Politik der USA historisch als Staat „weißer Dekolonisation“ von Anfang an vom Imperialismus der europäischen Nationalstaaten unterscheidet. Negri spricht denn auch mit Bezug auf die Bush-II-Administration von einem imperialistischen Backlash. Allerdings sollte man die strategischen Optionen einer Administration und ihrer think tanks, die heute das „American Empire“ und das „New American Century“ proklamieren, nicht mit den strukturellen Bedingungen von Weltpolitik verwechseln. Statt von einer imperialen Pyramide wäre wohl besser von einem imperialen Archipel zu sprechen, das keine monokratische Spitze mehr kennt, aber Konkurrenzbeziehungen untereinander, deren Ausagieren an den politischen Erfordernissen globaler Kapitalakkumulation ihre Schranke findet. Auf- und Ausbau der Europäischen Union ist in diesem Sinn kein imperialistisches, sondern ein imperiales Herrschaftsprojekt.
So sehr die Bush-II-Administration im Krieg gegen den Irak ein nationales Interesse herausstreicht, so sehr entäußert sie sich zugleich der Kontrollmechanismen der Weltordnung, daher der Zickzack-Kurs zwischen multinationalem Konsens und nationalem Alleingang mit unilateralen Bündnispartnern, der die Politik der Kriegsvorbereitung in den vergangenen Monaten kennzeichnete. Der politischen Option, Kontrolle militärisch zu restaurieren, fehlt angesichts der Internationalisierung des Kapitalverhältnisses unter der US-Hegemonie nach dem Zweiten Weltkrieg und mit ihrer Krise in den achtziger Jahren letztlich ein ökonomisches Pendant, das auf nationaler Basis organisierte Kapital oder – im Blick auf die Klassenfraktionierung ausgedrückt – eine nationale Bourgeoisie, die wie einst die englische Bourgeoisie den Vorreiter einer globalen Dynamik abgeben könnte. Die Konzerne der Ölindustrie sind dieser Vorreiter mit Sicherheit nicht.
Eine kritische antimilitaristische Opposition gegen die militärische Option darf sich allerdings nicht in die imperialen Konkurrenzbeziehungen hineinziehen lassen. Sie hat nicht zwischen imperialen oder imperialistischen Strategien zu wählen, sondern deren jeweilige militärische Logik offen zu legen und beides zurückzuweisen: Wie man die sich konstituierende Weltordnung als kapitalistische Herrschaftsordnung angreift, ist für sie von entscheidendem Interesse. Mit Hardt und Negri teilen wir die Auffassung, dass die Orientierung auf den nationalen Staat hier nicht weiterhilft. Mit anderen Worten, man muss also wirklich durchs Empire hindurch, um eine Orientierung auf eine nicht mehr nur internationale, sondern vielmehr transnationale Perspektive der Befreiung zu finden.



Michael Heinrich ist Mitglied der Redaktion von PROKLA, Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft und Autor von „Die Wissenschaft vom Wert“, Münster 1999.

Jost Müller ist Mitherausgeber der „Subtropen“, dem monatlichen Supplement der Wochenzeitung Jungle World. Demnächst erscheint das von ihm und Tomas Atzert herausgegebene Buch „Kritik der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire“ im ID-Verlag.


Phase 2