Der »Bullenstaat«

Kaum Tote und Schwerverletzte bei Auseinandersetzungen mit der Polizei in Deutschland sind das Ergebnis von Repression und nicht von Toleranz

Was geschah eigentlich im Herbst diesen Jahres, als in einem Park am Stuttgarter Hauptbahnhof die angerückte Polizei mit Wasserwerfern, Pfefferspray und Knüppeln auf Schülerinnen und Schüler, Rentnerinnen und Rentner und ein paar Ökos losging, die einen zum Bau bestimmten Platz in Beschlag genommen hatten? »Das entspannteste Gewaltmonopol, das je auf deutschem Boden existiert hat« (TOP Berlin, …umsGanze!) setzte auftragsgemäß einen Rechtstitel durch und ging dabei nach erprobtem und als bewährt geltendem Schema vor. Aufsehen erregte das nur, weil in Stuttgart offensichtlich schon seit Jahren niemand mehr demonstriert hatte und jetzt zu allem Unglück auch noch die sprichwörtlichen schwäbischen Hausfrauen auf die Straße gingen, um sich dort Sorgen darüber zu machen, Staat und Stadt verschwendeten das Haushaltsgeld. Nur deshalb war das Entsetzen groß, als die staatlichen Gewaltmittel, wie es bei solcherlei Konfrontationen durchaus üblich ist, zum Einsatz kamen und unter den Demonstrierenden etliche Verletzte mit zum Teil bleibenden Schäden zurückließen.

Vielleicht ist Häme die sich aufdrängende Reaktion, wenn das saturierte Bürgertum und seine Brut einmal jenes Schicksal erfährt, das allen längst bekannt ist, die schon mal eine Antifademo gegen den herrschenden Konsens in einem Provinznest durchsetzten, einen Castortransport wirklich verhinderten, beziehungsweise Überwachung oder Deutschland einfach schlecht finden wollten. Vielleicht ist es aber auch die Freude darüber, dass das BRD-System zumindest für die anwesenden Demonstrantinnen und Demonstranten in Stuttgart mal wieder die demokratische Maske von seiner gewalttätigen Fratze gerissen hat und so den jungen, beeinflussbaren Menschen eine gute Gelegenheit und Motivation zur grundsätzlichen Politisierung gegen die Verhältnisse insgesamt bot. Wie dem auch sei, Häme und Freude gehen fehl, denn das »entspannteste Gewaltmonopol« ist zu seiner eigenen Sicherung längst dazu übergegangen weit mehr zu verhindern, als die Ausübung von Gewalt durch Einzelne und Gruppen, die vom Staat nicht ausdrücklich dazu autorisiert wurden.

Die Staatsgewalt ist heute längst nicht mehr von der Logik der Eskalation und des Bürgerkriegs geprägt, sondern von einer immer niedriger werdenden Schwelle, ab der vonseiten des Staates unter Androhung oder Ausübung von Gewalt eingegriffen wird. Kleinste Demonstrationen von wenigen 100 Menschen sehen sich von einem Aufgebot gepanzerter Einheiten umringt, das nur eines zum Ausdruck bringt: »Ihr seid eine potenzielle Gefahr, die wir bei der kleinsten Regelung verprügeln und verhaften werden.« Entsprechend drehen sich die Konflikte bei solchen Veranstaltungen seit Jahren vor allem um die Länge von Transparenten, die vom Staat als gerade noch tolerierbar empfunden wird, die Größe von Sonnenbrillen, ab der das Vermummungsverbot als verletzt angesehen wird, das Tragen von Stiefeln, das als Mitführen einer Waffe gilt, und ähnliche Nichtigkeiten.

Das Ende der Demonstrationsfreiheit oder die Überbleibsel sozialer und kultureller Freiräume

Was aber wird aus jungen Provinzpunks, die in ihrem Alltag von Nazis und Bevölkerung gedemütigt, an der alle Jubeljahr stattfindenden Antifademonstration barfuss teilnehmen müssen, weil ihnen in der polizeilichen Vorkontrolle die Springerstiefel abgenommen wurden? Sobald sie in ihrem Leben die nächste Universitätsstadt erreichen, haben sie mehrheitlich das Gefühl, die Stadtluft habe sie endgültig frei gemacht. Doch mit der Freiheit der Städte sieht es nicht besser aus, als mit der Demonstrationsfreiheit. Was hier an kulturellen und sozialen Freiräumen existiert, sind Überbleibsel aus einer Zeit, als noch nicht jede Besetzung leer stehender Gebäude ohne Betrachtung der näheren Umstände innerhalb von 24 Stunden geräumt wurde.

Diesen Überbleibseln will der Präventivstaat über kurz oder lang auch den Garaus machen. Was die Ökonomie des Immobilienmarktes nicht von selbst erledigt, steht in einem sich seit Jahren stetig verschärfenden Diskurs unter dem Verdacht des Extremismus und der Förderung eines »Linksterrorismus«, der heute da anfängt, wohin die präventive Überwachung und Gewalt, die Angriffe aufs staatliche Gewaltmonopol hingetrieben hat: bei Steinwürfen auf die Polizei, abgefackelten Autos oder der Notwehr gegen Nazis. Wenn in unserer Zeit eine Gruppe von Gymnasiastinnen und Gymnasiasten in einer ostdeutschen Kleinstadt nicht eine demonstrativ-staatstragende »Initiative gegen Extremismus«, sondern eine Antifagruppe gründen will, ruft das die Expertenteams des polizeilichen Staatsschutzes auf den Plan. Ihrer Reaktionen sind offene Observationen, Hausdurchsuchungen und Vorladungen, die Angst und Schrecken verbreiten, bis sich nichts mehr regt.

Die radikale Linke hat diesen alltäglichen Drohungen des Gewaltmonopols schon lange nichts mehr entgegenzusetzen. Die Anschläge auf so genannte Luxuskarossen sind nur noch die Karikatur einer früheren klandestinen politischen Praxis, mit der sich militante Gruppen bemühten, linksradikale Positionen in politischen Auseinandersetzungen zu stärken. Die Sprengung des Gefängnisneubaus in Weiterstadt etwa bezog sich auf den linksradikalen Widerstand gegen die Streichung des Grundrechts auf Asyl und die mit ihm einhergehenden Verschärfungen der staatlichen Repression gegen Flüchtlinge. Heutige Anschläge dagegen wollen entweder fehlenden politischen Widerstand ersetzen oder stellen Bezüge zu den bürgerlichen Bewegungen gegen den Castortransport oder die Umgestaltung des Hamburger Gängeviertels her, denen sie sich aber nur einseitig andienen können, ohne das ein tatsächlicher Bezug entstünde. Bestenfalls werden sie verständlich als Versuch, eine Form der Auseinandersetzung und des zu ihr befähigenden praktischen Vermögens zu bewahren, für die es aber keine politische Entsprechung mehr gibt: »Widerstand wird erkämpft und nicht erbettelt!« – Nur dass die Bedingungen, unter denen linksradikaler Widerstand entwickelt und organisiert werden kann, vom staatlichen Gewaltmonopol immer weiter eingeschränkt werden. Das hält die Anschläge zwar offensichtlich nicht auf, nimmt ihnen aber die gesellschaftliche Orientierung, vereinzelt und zersplittert sie, bis irgendwann – so die staatliche Hoffnung – nur noch verwirrte EinzeltäterInnen übrig bleiben.

Repression als Normalität

Die Durchsuchungen und Beschlagnahmungen aufgrund der Plakate, die dazu aufriefen sich der Nazidemonstration in Dresden im Februar oder dem Castortransport nach Gorleben im November in den Weg zu stellen, sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Bis zur Unerträglichkeit offensichtlich wird die repressive Logik aber durch den Vorstoß der Berliner Staatsanwaltschaft zukünftig die BesitzerInnen der Läden, die Plakate oder Schriften mit inkriminiertem Inhalt vertreiben, strafrechtlich wegen des Aufrufs zu Straftaten oder Ähnlichem zu belangen.

Das staatliche Gewaltmonopol ist folglich alles andere als entspannt. Es spannt sich immer mehr an. Und das, obwohl es sich derzeit keiner realen Bedrohung mehr gegenübersieht. Es wäre fatal darauf mit dem Hinweis zu reagieren, die absolute Sicherheit, das vollständige Abbrechen des politischen Prozesses, worauf es die Sicherheitsbehörden anscheinend abgesehen haben, sei eine Fiktion. Zwar beweisen die immer noch möglichen Großmobilisierungen, bei denen auch die Polizei ihre Konzepte der Einschnürung und vollkommen Kontrolle aufgeben muss, dass weder das Gewaltmonopol vollkommen noch die politischen Prozesse der Linken vollständig zum Erliegen gekommen sind, aber diese wenigen Anlässe funktionieren nur noch, weil sie sich mit staatstragenden Debatten verbinden lassen. Gegen Nazis zu demonstrieren, sollte zu den zivilisatorischen Alltagspraktiken des aufgeklärten Bürgertums gehören, bei den Castortransporten wird ein Kompromiss verteidigt, den die rot-grüne Bundesregierung mit den Energiekonzernen ausgehandelt hatte, bei den Hartz-IV-Protesten sind die kapitalismuskritischen Stimmen nach wie vor marginal und bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Heiligendamm, konnte Angela Merkel gar einen großen Teil des Protestspektrums als zivilgesellschaftlichen Ausdruck ihrer eigenen Anliegen darstellen.

Genuin linksradikalen Gruppen bleibt bei solchen Anlässen damit höchstens die Rolle als gewaltbereite Version des Volkswillens. Die Ursache dafür ist sicher nicht die präventive Repression allein. Doch in dem Maße, in dem es der Staatsmacht gelingt, Räume der Diskussion linksradikaler Positionen zu schließen bzw. durch Verbände und Parteien kontrollieren zu lassen, schafft sie die Bedingungen dafür, dass dieses Elend auf Dauer gestellt wird. Die Repression ist nämlich längst im Kopf angekommen. Sie haust dort als Normalität und als die Fiktion, die Gewalt habe aufgehört, wenn sie von den Bütteln des Staates nicht mehr bis zum Exzess ausgeübt werden muss. Die nicht mehr wahrgenommene Gewalt aber ist die Anpassung des Verhaltens und Denkens im vorauseilend nachvollziehenden Gehorsam.

PHASE 2, BERLIN