Der neue Griff nach der Weltmacht

Detlef Hartmann gehörte in den 70er Jahren zur undogmatischen Linken (Proletarische Front, Arbeiterkampf etc.) und bewegte sich im Stadtteilkampf, in der Antipsychiatriebewegung etc. Autor von "Leben als Sabotage", Tübingen 1981, Veröffentlichungen u.a. in der Zeitschrift "Autonomie", dann in der Gruppe "Materialien für einen neuen Antiimperialismus". Er arbeitet in der Kampagne "Kein Mensch ist Illegal" mit und ist Rechtsanwalt in Köln.

Irgendwie scheint diese Message an uns vorbei gegangen zu sein: Rezzo Schlauch, seit 1980 Partei-Grüner, seit Oktober 1998 Vorsitzender der Fraktion und Mitbetreiber des Einstiegs in den Kosovo-Krieg gab uns in der Zeit vom 22. Nov. 2001 "vier Lehren für Afghanistan". Eine von diesen Lehren liest sich so:

"Der 28. Juni 1914: An diesem Tag hat ein einzelner Terrorist, der gleichzeitig Teil eines Netzwerks war, den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand erschossen und damit eine Kettenreaktion losgetreten, die schließlich den 1. Weltkrieg auslöste. Die europäische Öffentlichkeit war von dem Terroranschlag schockiert. Praktisch alle Kabinette waren der Auffassung, dass Serbien der K.-u.-k. (Kaiserlichen und königlichen)-Monarchie Genugtuung schuldete. Denn eines schien für sie außer Frage zu stehen: Weil Serbiens Regierung ein Netz großserbischer Geheimorganisationen duldete, trug sie für den Anschlag indirekte Verantwortung. Das deutsche Reich stellte sich hinter eine österreichische Militäraktion und ließ Kaiser Joseph zusichern, dass der deutsche Kaiser "im Einklang mit seinen Bündnisverpflichtungen und seiner alten Freundschaft treu an der Seite Österreich-Ungarns stehen werde. Die Folge: Österreich-Ungarn erklärte Serbien am 28. Juni 1914 den Krieg. Damit wurde ein Räderwerk wechselseitiger Bündnisverpflichtungen, Mobilmachungen und Kriegserklärungen in Gang gesetzt."

Die Botschaft: Deutschland steht gegen den Terrorismus zu seinen Bündnisverpflichtungen. Im Juni 1914 ebenso wie im September 2001. Die Lehre: wir brauchen heute eine multilaterale antiterroristische Front. Das ist damals schiefgegangen. Sollen wir lachen? Kurz und militärisch? Ein Witz zwo, drei aus der kaiserlichen und k.u.k. Offiziersmesse?

Das Lachen könnte uns in der Kehle stecken bleiben. Schlauch fordert uns nicht nur zu einer Revision des deutschen Geschichtsbilds auf, gegen die die Bemühungen von Nolte, Prinz, Walser und dergleichen Gelichter Peanuts waren. Er fordert uns auf, den Krieg in Afghanistan als neuen "Griff nach der Weltmacht" zu begreifen und zu unterstützen. Wir wissen ja seit den bahnbrechenden Arbeiten des Historikers Fritz Fischer seit den 60er Jahren, dass Deutschland im 1. Weltkrieg den "Griff nach der Weltmacht" (so der Titel seines Buchs) im Auge hatte. Inzwischen ist jenseits jeglicher Zweifel belegt, wie sehr die Ermordung des österreichischen Thronfolgers als Gelegenheit ergriffen wurde, die gesamte Bündnismechanik in Gang zu setzen, um das produktive Kern-Europa bis nach Frankreich hinein zu überrennen und ein neues Europa als einheitlichen Markt für eine neue Dynamik der modernen Unternehmen und ihrer Skalenökonomie zu lancieren mit der Reichsmark als Leitwährung.

Das kriegsökonomische Management übertrug die modernsten Managementformen aus den innovativsten Großunternehmen auf den Betrieb der gesamten Kriegsmaschinerie und brachte sich dadurch selbst aus den Trümmern des Kaiserreichs an die Hebel der Macht. Eine ihrer herausragenden Gestalten war Gustav Stresemann (dazu unten), Industrieführer und schon in jungen Jahren Mitglied des protofaschistischen "Alldeutschen Verbands". In diesem Krieg profilierten sich zum ersten Mal die späteren Vorkämpfer für einen deutschen Nationalsozialismus, die Vergesellschaftung der Kriegsmaschinerie brachte die schon vor dem Krieg angelegte völkische Mentalität zu rassistischer und auch antisemitischer Zuspitzung. All das ist inzwischen gesichertes historisches Wissen.

Der Blick auf die Attentäter enthüllt eine weitere Parallele im "Griff nach der Weltmacht". Zweifellos gehörten die Attentäter zu einem terroristischen Netzwerk. Dieses Netzwerk bestand (ähnlich wie heute) aus ehrgeizigen Kadern machtgieriger Formationen: neue Gewaltunternehmer, Unteroffiziere, Studenten, Gymnasiasten, allesamt Nationalisten des damals modernen Typs. Wie ihre metropolitanen Brüder sahen sie in der Entfesselung des Krieges die Chance, selbst an die Hebel der Macht zu gelangen. Über und gegen eine überwiegend agrarische Bevölkerung, die in traditionalen, durch die Steuerschraube unter Druck geratenen kommunitären Dorfgemeinschaften lebte und sich unter diesem Druck zu völlig neuen Widerstandsformen gegen die Ausbeuter zu radikalisieren begann. Sicher gaben sich die jungen rechten Avantgarden mitunter auch "antiimperialistisch". Ihr Antiimperialismus war jedoch (wie heute) nur das Vehikel, sich selbst völlig neue nationalstaatliche Kommandopositionen zu schaffen, zeitweise im Konflikt mit den Metropolenmächten, jedoch letztlich kooperationsbereit, aber immer gegen ihre eigenen Unterklassen. Das deutsche Reich hatte nicht die geringsten Probleme, solche Avantgarden vor dem Krieg und auch während des Krieges zu fördern. Im Gegenteil. Sie waren die modernen Eliten, die sie für die Zerstörung der sozialen Strukturen und ihre Unterwerfung unter ein neues, renditeträchtigeres Verwertungsregime brauchten, um sie dann in ein neuartiges imperialistisches System einzubinden. Dabei fanden auch ursprünglich gegnerische Avantgarden durchaus ihren Posten unter den Deutschen, wenn die Kriegsfront über ihr Land hinweg gegangen war. In diesem Krieg schon betrieben die Deutschen eine systematische Rekrutierung von Zwangsarbeitern aus den unterworfenen Gesellschaften. Ihre Mittel- und Südosteuropapolitik kann man als Vorgriff des erneuten Aufmarsches im zweiten Weltkrieg und im Kosovokrieg begreifen.

Auch das amerikanische Kapital spielte im Griff nach der Weltmacht mit. Als Kredit- und Kriegsmateriallieferanten der Alliierten holte es das Weltfinanzzentrum von London nach New York und beerbte das britische Empire. Auch die USA unterstützten die nationalistischen mexikanischen Eliten im blutigen Krieg gegen die zapatistische Revolution. Die hegemoniale Allianz zwischen den USA und seinem Juniorpartner Deutschland als modernsten aus dem Krieg hervorgegangenen Industriemächten im Versailler System war logische Folge des Kriegs und Stresemann ihr Politiker. Seine europafreundliche Propaganda verstand er auch nach dem Krieg bei aller völkerverständigenden Tünche als Griff nach der ökonomisch-politischen Macht im europäischen Großraum, er förderte die zukünftige Erweiterung Deutschlands und insgeheim die Rüstung. Die Verdienste Stresemanns für die Grundlagen der nazistischen Großraumpolitik sind unbestritten.

Ausgerechnet Stresemann erhob Außenminister Fischer in einem von rechten Kreisen gelobten "Zeit"-Artikel bei aller eher beschönigend gehaltenen Kritik schon im Jahre 2000 zur Orientierungsfigur für die historische Kontinuität. Aber dabei blieb es nicht. Wenige Monate vor dem Afghanistankrieg machte er eine Rundreise durch die zentralasiatischen Republiken und lässt sie durch seinen Planungsamtsleiter Schmillen öffentlich in der FAZ mit einer Propaganda für einen "geopolitischen" Griff nach Zentralasien in einem neuen "Großen Spiel" ("great game") unterfüttern. Was daraus hervorsticht, ist das "geopolitische" Vokabular. Der Begriff "Geopolitik" ist in Deutschland tiefbraun eingefärbt. Von Hitlers geopolitischem Privatlehrer Haushofer aufbereitet, stand er für das imperialistische Programm nationalsozialistischer Großraumpolitik. Im zweiten Weltkrieg verstand die amerikanische Publizistik "the Geopolitikers" gleichbedeutend mit Nazis. Nach 1945 wurde der Begriff "Geopolitik" als nazistisch belastet aus dem deutschen Sprachgebrauch verbannt. Plötzlich durchbricht er die politischen Schamgrenzen und beherrscht bei Minister Fischer wieder die strategischen Vorstellungen. Das alles muss man wissen, um zu begreifen, was Rezzo Schlauchs "Lehren" bedeuten: Die radikale Erneuerung der Angriffsziele in der Tradition des "Griffs nach der Weltmacht".

Für einen neuen Antiimperialismus

Was heißt "Griff nach der Weltmacht"? Zwei Dinge zunächst nicht: Antiamerikanismus und territoriale Eroberung. Schon die Kriegszielpolitik Bethmann-Hollwegs von 1914 richtete sich nicht auf Überwindung der USA. Sie verfolgte das Ziel, die Plattform Europa zu beherrschen und einen ausreichenden Binnenmarkt zu schaffen, um mit ihnen überhaupt gleichziehen zu können (wie heute). Die modernsten Kapitalfraktionen der Elektro- und Chemieindustrie zielten auch 1914 nicht auf territoriale Einverleibung, sondern auf technologische Führung und ökonomische Durchdringung. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Auch die Amerikaner haben die Traditionslinien deutscher Politik im Auge, wenn sie auf seine Juniorführerschaft in der atlantischen Partnerschaft setzen ("partners in leadership"). Die heutigen Hegemonialstrategien ökonomisch-technologischer Weltdurchdringung (Globalisierung) erneuern grundsätzliche strategische Linien des alten Griffs nach der Weltmacht auf neuer Stufenleiter.

Grundzüge dieser Kapitalstrategie sollen in den folgenden Absätzen skizziert werden.

1. Der Imperialismus der Durchdringung folgt dem Prinzip der "schöpferischen Zerstörung". Dies ist ein Begriff, den der mit Keynes als im vergangenen Jahrhundert bedeutendster Vertreter der politischen Ökonomie des Kapitals angesehene Joseph Schumpeter geprägt hat - unter Berufung auf Marx übrigens (1). Er analysiert die kapitalistische Dynamik als Ausdruck der aggressiven Triebkräfte produktiver Innovationen. Sie zerstören in großen historischen Zyklen die alten Verhältnisse und Sozialstrukturen unter dem Diktat ihrer technisch-ökonomischen Strategien bis zur "Vernichtung der mit hoffnungslos Unangepaßtem verbundenen Existenz" (2), um sie "schöpferisch" zu "neuen Kombinationen" zu reorganisieren. Im Kern ist dies eine radikale Theorie innovativer Gewalt und Aggressivität (auch wenn sie dies in bourgeoisem Wohllaut zu verbergen sucht), die sie im Unternehmer verkörpert sieht: in seinem Durchsetzungsvermögen als "Führer" und "Feldherr", im "Kraftüberschuß" seines "Siegerwillens" (3). Letztlich sagt er die Überwindung des Kapitalismus durch durch den Prozeß der "schöpferischen Zerstörung" hervorgerufene "wachsende Feindseligkeit" voraus (4). Schumpeters Verdienst liegt darin, dass er den Übergang zur "intensiven" Inwertsetzung von Arbeitskraft und Gesellschaft zu "Human-" und "Sozialkapital" in ihrer Gewaltsamkeit früh auf den Begriff gebracht hat. Die "schöpferische Zerstörung" ist seit 15 Jahren, vor allem aber in den letzten drei bis vier Jahren rasant zur politisch-ökonomischen Leitvorstellung des gegenwärtigen Umbruchs geworden. Sogar die normalerweise zurückhaltenden Finanztechnokraten wie Issing (Europäische Zentralbank) und Greenspan (US-Notenbank) gehören zu ihren ausdrücklichen Propagandisten (5). Von Bedeutung ist sie daher als wirkungsmächtige Leitvorstellung der politischen Ökonomie des Kapitals und seiner Inwertsetzungsstrategien. Als solche verkürzt sie natürlich den historischen Prozess um die entscheidenden Triebkräfte der Befreiung und Revolution, aber das gilt ja auch von Smith, Malthus und Ricardo, an denen Marx seine Theorien entwickelt hat.(6)

Zu Beginn des fordistischen Zyklus waren es elektrotechnische und chemische Leitindustrien, die den Kern der damaligen "Globalisierung" bildeten und deren Management in der deutschen und amerikanischen Kriegsökonomie eine maßgebliche Rolle spielte. Die heutigen Leitinnovationen haben ihren Kern vor allem in den Informations- und Netzwerktechnologien und dynamisieren ihrerseits Bio-, Verkehrs-, Überwachungs-, Rüstungstechnologien etc. Auch sie operieren von metropolitanen Kernen aus, den sogenannten "Clustern" und diktieren von hier aus den Globalisierungsprozess, das heißt die zerstörerische Durchdringung sogenannter "zurückgebliebener" Gesellschaften.

2. In den Umfeldern und in den Randterritorien der "Globalisierung" äußert sich die "schöpferische Zerstörung" viel radikaler als in den Metropolen. Sie ist verbunden mit einer mörderischen sozialen Zerstörung ungeheuren Ausmaßes, die tradierte soziale Strukturen und die in ihnen angelegten Widerstandspotentiale völlig zertrümmert, um die Partikel neu zu ordnen und dem Diktat kapitalistischer Inwertsetzung zu unterwerfen. Die neoliberalistische Phase der schöpferischen Zerstörung ist jetzt abgeschlossen. Sie setzte auf die Auflösung der tradierten Strukturen durch gewaltsame, zum Teil kriegerische Prozesse. Sie wurde eingeleitet durch die Verschärfung des Diktats der internationalen Institutionen wie Weltbank und IWF ("Konditionalität"). Hinzu kam seit Ende der 70er Jahre eine Politik der kapitalistischen Desinvestition bei Reduzierung von Unterstützungen für den Aufbau staatlicher Entwicklungsstrukturen. Die Folge waren sogenannte "Failing States", eine zerfallende Staatlichkeit. Sie gab der Initiative neuer barbarischer Kriegseliten und Gewaltunternehmer Raum ("Warlordisierung"), die sich in der Zerstörung der tradierten Gesellschaftlichkeit und ihrer alten Honoratiorenformationen als neue Herren in einem blutigen Prozess von neuen Kriegen etablierten. Die metropolitane Politik sah sie beileibe nicht als unerwünschte Begleiterscheinung, im Gegenteil: Sie knüpfte Allianzen mit ihnen, unterstützte sie mit Waffenlieferungen, profitierte vom barbarischen Raubkapitalismus in der Ausbeutung geschätzter Rohstoffe. Ihre Sozialstrategen und Soziologien sahen in ihren Kadern das neue kräftige Element zukünftigen Unternehmertums und ihrer politischen Klasse. Dies ist auch einer der Gründe, warum die Allianzen, die die NGOs mit den Warlords eingehen, als zukünftige Entwicklungslinie einer "Public-Private-Partnership" ("PPP") inzwischen teilweise offen gefördert werden. Man kann in diesem Prozess die Parallele zum Aufkommen neuer nationalistischer Avantgarden im letzten großen Zyklus sehen, die sich als subimperialistische Eliten in das imperiale Gefüge der Großmächte eingliedern ließen. Dagegen spricht nicht ihre zeitweilige antiimperialistische Gegnerschaft. Damals wie heute wurden sie bei ausreichender Eingliederungswilligkeit jederzeit willkommen geheißen, unbeschadet antiimperialistischer Rhetorik. Sie gehört zum Geschäft. Das entscheidende jedoch ist, dass in diesem Prozess die Zurichtung sozialer Strukturen auf die Anforderungen besserer Unterwerfungsfähigkeit und Verwertbarkeit betrieben wird. Die Fähigkeiten zu organisierender, zu unterwerfender und unternehmerischer Härte stellen sich vor allem in Kriegen her. Natürlich ist dies zugleich eine Politik der Erneuerung von Patriarchat und Sexismus. Es sind vor allem männliche Avantgarden, die sich aus diesen Zerstörungsprozessen als neue Eliten herausheben, und die Politik der Frauenemanzipation stellt lediglich eine komplementäre Erschließung weiblicher Arbeitskraft dar, im Spezialistenjargon "Gender-Streamlining" genannt.

Es erscheint auf diesem Hintergrund absurd, sich von dem Schaukampf der warlordfreundlichen Antiimperialisten gegen bombenbewehrte Zivilisierungsfanatiker in der deutschen Linken beeindrucken zu lassen. "Zivilisierung" ist ein Marketingbegriff für "schöpferische Zerstörung". Von Demokratie im Sinne einer Selbstgestaltung der eigenen Lebensformen ist nicht die Rede. Der Krieg zielt auf die Zurichtung des im Prozess der Zerstörung verfügbar gemachten Sozialmaterials, auf die Unterwerfung unter das Diktat der Inwertsetzung. In diesem Krieg wirken die metropolitanen Kerneliten und ihre neugewonnenen barbarischen Subeliten in den Peripherien in die gleiche Richtung, unverhohlen kooperativ oder in einer Form des antiimperialistischen Zusammenspiels, das man als "antagonistische Kooperation" aus ähnlichen historischen Prozessen sattsam kennt.

3. Die neoliberalistische Phase der schöpferischen Zerstörung ist an ihre Grenzen und in die Krise geraten. Die Antwort war ein geopolitischer Aufmarsch zur Reorganisation der Globalisierungsstrategien in der Kette Kosovo-Krieg, Tschechenienkrieg (von Anfang an offen vom Westen unterstützt) bis ins "große Spiel" des Afghanistan-Kriegs. Dass der Griff nach der Weltmacht im Sinne der Weltdurchdringung hier nicht halt macht, ist offenbar. Welche Dynamik er annehmen wird, zeichnet sich zwar in einigen Konturen ab, ist jedoch nicht sicher. Große Krisenregionen sind überhaupt noch nicht erfasst. Dies gilt nicht nur für Afrika und Lateinamerika. Einige Beobachter sehen auch in Süd-Ostasien eine Verschärfung der krisenhaften Entwicklung voraus. Dies betrifft nicht allein den sozialen Krieg in Indonesien, in den sich die USA jetzt mit 700 Elitesoldaten einschalten wollen. Die chinesische Politik der kapitalistischen Inwertsetzungsstrategien ist zunehmend konfrontiert mit zunehmenden Revolten aus den Bewegungen der unter dem Druck der Steuerschraube bitter verarmten BäuerInnen (800 Millionen) und eines Heers von WanderarbeiterInnen (200 Millionen). Es gibt einige ExpertInnen wie Gordon Chang, die den Umsturz in schon fünf Jahren voraussehen (7). Die chinesische Regierung ist bemüht, ihrer repressiven Politik eine "antiterroristische" Rhetorik zu verleihen und den Schulterschluss mit der Allianz gegen den Terrorismus zu suchen, den die Moskauer Regierung vorexerziert hat. Die politische Klasse dieser Schwellenländer steht unter dem Druck von oben und von unten: über die WTO zur aggressiven Steigerung der Inwertsetzungspolitik, und unter dem Druck des Widerstandes der verelendeten Unterklassen. Es erscheint lächerlich, den über die WTO-Diktate ausgeübten Druck mit Begriffen aus der Mottenkiste des "Kasinokapitalismus" zu beschreiben. Die Aggressivität aus den Metropolen der kapitalistischen Innovation ist deswegen so gefährlich und risikoreich, weil der Druck des überakkumulierten innovativen Kapitals auf die Prozesse der "schöpferischen Zerstörung" setzt und mit kaum kalkulierbaren Risiken operiert.. Es ist eine Politik des sozialen "va banque" mit globalen Dimensionen.

4. Die strategische Neuausrichtung der Natopolitik und in ihrer Konsequenz der Repressionspolitik auch in den Metropolen zielt offenbar auf die Entfaltung und Vertiefung dieses sozialen "Weltkriegs". Das Strategiepapier, das mit Beginn des Kosovokriegs auf dem Natogipfel zur Feier des 50Jährigen Geburtstags der Nato in Washington veröffentlicht wurde, und um das Außenminister Fischer vor dem Bundesverfassungsgericht so verbissen gekämpft hat, erweitert die Optionen des militärischen Einsatzes um die Möglichkeit der Intervention bei Risiken dieser Art, Krisen, fehlgeschlagenen Reformbemühungen etc. Dieser Begriff der Risikointervention ist nunmehr nach dem 11.September durch die neue Sicherheitspolitik und ihre Gesetze ins Innere der Metropolenländer ausgeweitet worden. Die Anwendung des Terrorismusverdikts auf die Auseinandersetzungen um den Gipfel in Genua als Ausdruck der Antiglobalisierungsbewegungen und die Möglichkeit einer Rückwirkung der peripheren Krisenprozesse in eine neue soziale Konfliktualität in den Metropolen lassen es durchaus nicht als spekulativ erscheinen, dass der soziale Krieg auch hier intensiviert werden soll. Der neue Griff nach der Weltmacht drängt uns zu einer Debatte über einen neuen Imperialismus, der uns mit allen seinen ökonomisch-sozialen und technologischen Aspekten konfrontiert. 1914 bedeutete er die erste Etappe des Wegs in den Faschismus. Der Anschluss an die Traditionslinien von 1914, der Stresemannpolitik und Geopolitik zeigen, dass der Weg in diesem Bewusstsein wieder eingeschlagen wird.

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Fussnoten

(1) Joseph Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. Aufl. Tübingen 1993, insbes. S. 134 ff. Es ist eine nachträgliche Begriffsgebung für einen Prozess, den er erstmals und am prägnantesten in "Theorie der Wirtschaftlichen Entwicklung", Berlin 1911, analysiert hat. Für eine genauere Darstellung verweise ich auf mein im Erscheinen begriffenes Buch: über den "Sozialen Weltkrieg" (Arbeitstitel)

(2) Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Nachdruck der 4.Aufl., Berlin 1964, S. 366

(3) Ebd. 2.Kap. III.

(4) ders. "Kapitalismus..." S. 231 ff

(5) vgl. Otmar Issing, Globalisierung ist nie Gemütlichkeit, FAZ 19.5.01; Alan Greenspan am 4.4.01 in einer Anhörung vor dem Finanzausschuß des US-Senats, Bericht NZZ 5.4.01; zu Greenspan auch: Charles J. Whalen, Commentary; Today's Hottest Economist Died 50 Years ago, Business Week 11.12.00, S. 70

(6) Ich kann an dieser Stelle nicht auf die Ansätze bei Marx eingehen, in denen er über die starren "marxistischen" Orthodoxien hinausgreift, um den Zugriffen "intensiver" Inwertsetzung gerecht zu werden, die sich schon seinen späten Jahren ankündigten. Grundsätzliche Gedanken dazu habe ich u.a. veröffentlicht in D. Hartmann, Leben als Sabotage, 2. Aufl. Berlin, Göttingen 1987

(7) Bericht von Thomas Crampton, As China Rises, Some Ask: Will It Stumble?", International Herald Tribune 18.12.01


Detlef Hartmann