Der Schrecken der Zivilgesellschaft

Die Thesen Sarrazins bilden keinen Widerspruch zu liberaler Politik, sie sind deren Grundlage

Wer war noch mal Thilo Sarrazin? Etwas mehr als zwei Monate nach dem Erscheinen von Deutschland schafft sich abThilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, München 2010. könnte man meinen, Deutschland sei das Land einer bunten Zivilgesellschaft – liberal, couragiert, protestfreudig, dennoch pragmatisch und vor allem: weltoffen. Stuttgart erlebt eine Palastrevolution vorwiegend älterer BürgerInnen – und das wegen eines Bauvorhabens, das doch Arbeitsplätze und neue Investitionsanreize schafft. Im Wendland gewinnt der Anti-Atom-Protest an kaum noch für möglich gehaltenen Schwung. 

Und vorneweg sind stets Die Grünen, nach ihrem unfreiwilligen Ausscheiden aus der Regierungskoalition vor fünf Jahren von vielen als perspektivisch kleinste und vor allem überflüssigste Oppositionspartei abgetan. Jüngste Umfrageergebnisse sehen die Grünen bei zwanzig Prozent, auf Kommunal- und Länderebene haben sie Chancen, die SPD zu überflügeln. Plötzlich scheint »Rot-Grün« wieder eine reale Koalitionsoption – nur dass jetzt nicht ausgemacht wäre, wer der starke und wer der unterstützende Partner wäre. Die Grünen profilieren sich als BürgerInnenrechtspartei, regenerieren ihre Öko-Themen und wollen auch der lokalen Wirtschaft – dem Mittelstand – eine verlässliche Partnerin sein, »small is beautiful«. Der Höhenflug der Grünen steht exemplarisch für ein ausgesprochen liberales Klima in der Bundesrepublik. Daran gemessen scheinen die Befürchtungen (oder Hoffnungen!), mit der Figur Sarrazin, mit den rassistischen Äußerungen von Seehofer und der Absage an Multikulti durch Kanzlerin Merkel würden härtere Zeiten anbrechen, schon wieder zerstreut. Zwar sind die schätzungsweise drei bis vier Millionen Sarrazin-LeserInnen ein Fakt, aber das zeigt eben an, dass Deutschland ein gespaltenes Land ist, in dem Sarrazin-LeserInnen und Seehofer-Begeisterte einer liberal-entspannten, reflektiert toleranten ZivilgesellschaftDer Text wurde in der Novemberwoche 2010 geschrieben, in der Innenminister Thomas de Maiziere wegen akuter Terrorgefahr für Deutschland Alarmstufe rot ausrief. Auswirkungen dieses Bedrohungsszenarios auf die liberale Zivilgesellschaft konnten nicht mehr reflektiert werden. gegenüberstehen.

So könnte man an der Erfolgsgeschichte des Modell Deutschlands weiter schreiben. Multikulti ist zwar tot, dafür heißt das neue Zauberwort Interkultur. Es gibt Arme, ein abgehängtes Prekariat, immer noch einige Millionen Hartz'erInnen – aber auch ein handfestes »Jobwunder«. Und sicher, es gibt »Integrationsunwillige« und einen konservativen, ja reaktionären Alltagsislam, aber dagegen wird der Öffentlichkeit in den Medien eine nicht abebbende Flut an Erfolgsgeschichten aus der Integration präsentiert.

Dieser Selbstbeschreibung der Zivilgesellschaft liegen zwei gesellschaftspolitische Annahmen zugrunde, die beide – »ideologisch« – falsch sind: Weder handelt es sich um einen progressiven Prozess, in dem die deutsche Gesellschaft sich mehr und mehr den Realitäten einer globalisierten und eben interkulturellen Welt stellen würde und auf deren Anforderungen liberale Antworten fände – begleitet von Rückschlägen, Einbrüchen und Revisionismen à la Sarrazin. Auch steht kein populistisches, auf Ausgrenzung, rassifizierte Stigmatisierung und Zero-Tolerance-Politik bedachtes Lager einem grünen, post-autoritären unversöhnlich gegenüber.

Es liegt hier kein Ausschließlichkeitsverhältnis vor. Im Gegenteil – dass sich Deutschland so liberal präsentieren kann, hängt direkt mit der »Sarrazin-Debatte« zusammen. Diese ist nicht das Negativ-Bild, vor dem sich der Liberalismus der Grünen positiv abhebt. Sie ist die Grundlage dafür: Es ist die Menschensortiererei, die Sarrazin als vernünftige Politik vorschlägt und die es – völlig unabhängig von den jüngst vergangenen Kontroversen – als Praxis des bürgerlichen Staates schon lange vor Sarrazin gegeben hat. Sie gibt das Fundament einer liberalen, weltoffenen Zivilgesellschaft ab. Auf den ersten Blick scheint das widersprüchlich: Während Sarrazin gesellschaftliche Ausschlusskriterien formuliert – Unproduktivität, Erbkrankheiten durch Inzucht, Ausnutzung des Sozialstaates –, ist das Selbstbild der Zivilgesellschaft inklusionistischHenryk M. Broder findet für die Integrationsdebatte die Metapher einer familiären Hausgemeinschaft, in der der Haussegen schief hängt. »Nachdem sie lange unter einem Dach gelebt haben, entdecken die Angehörigen plötzlich, dass sie mehr trennt als verbindet. Den einen gehört die Immobilie, die anderen wohnen darin nur zur Miete. Einige nehmen die Hausordnung genauer als die anderen, die ihre Wäsche auch nach zehn Uhr abends und ihre Autos vor der Haustür waschen. Die einen haben keine Kinder, die Kinder der anderen lärmen auf der Straße. Es sind Kleinigkeiten, die lange keine Rolle gespielt haben, nun aber für böses Blut sorgen.« (Beitrag für Spiegel Online, 7.11.2010, http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,727561,00.html) Das Bild der Hausgemeinschaft ist schon in seinen Voraussetzungen grundfalsch: Abgesehen davon, dass keine reale oder auch nur denkbare menschliche Gesellschaft ausschließlichen nach dem Muster einer privaten Sphäre organisiert sein könnte, gibt es in Broders handfest-pragmatischer Sichtweise auf die Gesellschaft keine sozialen Antagonismen mehr, keine Herrschaftsbeziehungen, keine Abhängigkeitsbeziehungen. Es ist alles eine Frage der »Hausordnung«. Wer sich an diese nicht hält, wird einfach rausgeschmissen. und bezweifelt die Maßstäbe für Produktivität und die biologistische Argumentationsgrundlage.

Exemplarisch dafür steht die linksliberale Initiative »Demokratie statt Integration«www.demokratie-statt-integration.kritnet.org/, die aus Protest gegen die Sarrazin-Kampagne Anfang Oktober binnen kürzester Zeit über 3600 Unterschriften vorwiegend aus der akademischen Linken und dem Kulturbetrieb sammelte. Die entsprechende Passage ihres Aufrufs lautet: »Aber Demokratie ist kein Golfclub. Demokratie heißt, dass alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben wollen. Die Rede von der Integration ist eine Feindin der Demokratie.« Sarrazin würde dem – bis auf den Schluss – nicht widersprechen. Gerade weil er findet, »dass alle Menschen das Recht haben, für sich und gemeinsam zu befinden, wie sie miteinander leben wollen«, ist er für Integration, also für einen überindividuellen Werte- und Gesetzeskanon, der erst die Verwirklichung dieses Rechtes ermöglicht und garantiert.

Schaut man also genauer hin, löst sich der Antagonismus zwischen Sarrazin und seinen zivilgesellschaftlichen KontrahentInnen auf: Sarrazin sieht – anders als der/die klassische Konservative oder ReaktionärIn – die Probleme nicht in der Demokratie per se, sondern in einem zu sorglosen, ja verluderten Umgang mit ihr (der Sozialstaat als Selbstbedienungsladen etc.). Sarrazin ist unbedingt für die Demokratie, ebenso wie er als Sozialdemokrat selbstverständlich für den Erhalt des Sozialstaates ist. Auch hat er keine Probleme mit Zuwanderung – im Gegenteil, es soll mehr davon geben, nur muss sie besser kontrolliert werden, auch muss der Assimilationsdruck erhöht werden: Nicht nur um den deutschen Nationalcharakter zu bewahren, sondern in erster Linie um die Demokratie zu erhalten. Sarrazins Kritik an der liberalen Zivilgesellschaft zielt nicht auf das »liberal« ab, sondern darauf, dass die ProtagonistInnen dieser Zivilgesellschaft nicht wissen (wollen), wie gefährdet die Kultur der Freiheit ist. An genau diesem Punkt – der Gefährdung der Freiheit – setzt er an. Und schon ist der scheinbare Unterschied ums Ganze zwischen Sarrazin und seinen GegnerInnen zu einem Streit um die Wahl der Mittel eingedampft. Dazu passt, dass Sarrazin mehr und mehr von seiner strikt biologistischen Argumentationsweise abgerückt ist: Für das »Judengen« hat er sich entschuldigt und Neuauflagen seines Buches hat er um einschlägige Stellen gestrichen: »›Ich habe nach Rücksprache mit dem Verlag einige minimale Änderungen vorgenommen. Es sind aber keine inhaltlichen Korrekturen‹, sagte Sarrazin [...] Als Grund für die Streichung nannte Sarrazin, Medien hätten ihn zu der Deutung drängen wollen, Muslime seien dümmer. ›Das ist natürlich Quatsch‹, sagte Sarrazin. [...] Sarrazin hat in der 14. Auflage seines Buches, dessen Manuskript er im September überarbeitete, unter anderem den Satz herausgestrichen: ›So spielen bei Migranten aus dem Nahen Osten auch genetische Belastungen – bedingt durch die dort übliche Heirat zwischen Verwandten – eine erhebliche Rolle und sorgen für einen überdurchschnittlichen Anteil an verschiedenen Erbkrankheiten.‹«Faz.net vom 15.11.2010 (http://www.faz.net/s/Rub 31A20177863E45B 189A541403543256D/ Doc~E6A0B253541F24AC395107416DDC123FB~ATpl~Ecommon~ Scontent.html)

Nachdem über die Unhaltbarkeit der Gen-Thesen in Medien und Politik relativ schnell Einigkeit erzielt worden warInteressant in diesem Zusammenhang das Schwanken des FAZ-Herausgebers Frank Schirrmacher, der noch in einem ersten Beitrag für seine Zeitung am 30. August für die offen eugenische Variante der Debatte votierte und schon einen Tag später zurückruderte: »[…] Thilo Sarrazin, hat ein Buch geschrieben, das durchaus sehr viele richtige und notwendige Dinge sagt. […] Er will eine völlig neue politische Debatte auslösen, die im Kern biologisch und nicht kulturell argumentiert. Dafür gibt es Vorbilder auch in der Geschichte der großen Demokratien. In den Worten von Irving Fisher aus dem Jahre 1912, der zu den Befürwortern der neuen Einwanderungsgesetzgebung in Amerika zählte: eine Einwanderungsdebatte ist immer die Chance einer eugenischen Debatte. Sarrazin spricht, wenn er von Kultur redet, nicht vom Erbe, sondern vom Erbgut, und auch das ist Bestandteil demokratischer Diskurse vor exakt hundert Jahren: ›Die Gesellschaft‹, so der mächtige Biologe Harry Laughlin, ›muss Erbgut als etwas betrachten, das der Gesellschaft gehört und nicht allein dem einzelnen. ‹«, sahen die weiteren Entgegnungen auf Sarrazin wie folgt aus: Entweder wurden zahlreiche Erfolgsgeschichten von migrantischen AufsteigerInnen präsentiert. Oder es meldeten sich betroffene MigrantInnen zu Wort, die entsetzt von Ausgrenzungs- und Entfremdungserfahrungen berichteten, die sie durch das Vorpreschen Sarrazins am eigenen Leib erlebten – obwohl sie doch längst integriert und durchaus auch patriotisch seien. So etwa die Schriftstellerin Hila Sezgin: »In Frankfurt am Main bin ich geboren und teilweise auch aufgewachsen, nämlich zwischen dem Senckenberg-Naturkundemuseum mit seinen Dinosaurierskeletten, einem geheimnisumwobenen Skorpionkeller in der Myliusstraße und dem Springbrunnen auf dem Campus der Universität. Meine beiden Eltern sind nämlich Wissenschaftshistoriker mit Leib und Seele. Als ich klein war, übte mein Vater mit mir in der Küche anhand von Töpfen und Stühlen die Bewegungen des Planetensystems. Das gereichte mir später zum Nachteil, als ich zur Lehrerin sagte, auch unser Sonnensystem sei in Bewegung; offizielles Grundschulwissen besagte, die Sonne stünde fix. Meine Mutter wiederum schleppte mich in Museen, ohne Baedeker, dafür aber mit ihrem furchteinflößenden Gedächtnis im Gepäck. Wenn an den Wänden Bilder längst verstorbener Adliger hingen (Otto der Furchtsame, Isabella die Hartherzige, oder wie sie alle hießen), begrüßte sie jeden von ihnen wie einen alten Bekannten.«»Deutschland schafft mich ab« (Die Zeit, 2.9.2010).

Beide Strategien der Entgegnung folgen den Vorgaben und Maßstäben Sarrazins: Sarrazin wirft bestimmten migrantischen Gruppen Unproduktivität vor – prompt gibt es Gegenbeispiele. Damit ist der Maßstab der Produktivität stillschweigend als gültig gesetzt. Sarrazin beklagt einen Sprache-, Werte- und Intelligenzverlust und das Schwinden eines verantwortungsvollen Patriotismus – prompt widersprechen ihm MigrantInnen, sehen sich durch seine Behauptungen ausgegrenzt und demonstrieren in ihren Entgegnungen, dass es ihnen sehr wohl auf Integration, auf gemeinsam – also auch mit Sarrazin – geteilte Werte und Verfassungspatriotismus ankommt. Auch hier wird der Maßstab geteilt, allein einige Schlüsse nicht mitgemacht. Gestritten wird über die Grenzen der Toleranz und über die Reichweite der Integration. Nicht infragegestellt wird, dass es selbstverständlich Härten der Integration geben muss und die Überschreitung der Toleranzgrenzen harte Sanktionen nach sich zieht. Die liberale Zivilgesellschaft beruht wesentlich auf dem Ausschluss von Gruppen, die als nicht konform mit der Liberalität klassifiziert werden. Sarrazins Alleinstellungsmerkmal besteht darin, dass er die Zivilgesellschaft explizit an ihre Geschäftsgrundlage erinnert.

Die dem zugrunde liegende Dialektik lässt sich so auf den Punkt bringen: Um die Demokratie zu retten, muss sie bisweilen außer Kraft gesetzt werden.»Die Idee, man könnte dem Terror nur mit rechtsstaatlichen Mitteln beikommen, übersteigt die Grenze zum Irrealen. Es ist, als ob man die Feuerwehr auffordern würde, sich bei ihren Einsätzen an die Straßenverkehrsordnung zu halten.« (Henryk M. Broder, Hurra, wir kapitulieren, Berlin 2006, 124. Im Jahr 2007 veröffentlichte die Bundeszentrale für Politische Bildung eine Sonderausgabe dieses Bestsellers.) Dies geschieht nicht im Rahmen eines allgemeinen Ausnahmezustands, der über die Demokratie hereinbricht. Es gilt der Ausnahmezustand jederzeit – es ist die permanente Wachsamkeit der Demokratie gegenüber ihren »Feinden« –, und er wird jeweils spezifisch angewandt. Aktuell auf die »unproduktiven Klassen«. Man denke nur an die dreiste Kürzung des Elterngeldes für Hartz-IV-EmpfängerInnen, bevor der Bundestag das entsprechende Sparvorhaben überhaupt beschlossen hat! Mit dem Maßstab der Produktivität hatte Sarrazin im Prinzip klar gemacht, dass es um eine »Unterschichtsdebatte« geht, diese ist primär und erst im zweiten Schritt knüpft daran eine MigrationsdebatteDie rassistischen Momente dürfen nicht verharmlost werden. Eberhard Seidel macht dies in seinem Beitrag (»Die neuen Scharfmacher« für die tageszeitung am 15. Oktober klar: »Der Islamstreit erlaubt, all die rassistischen Emotionen ungehindert auszuleben, denen beim Antisemitismus und Rechtsextremismus inzwischen recht enge Grenzen gesetzt werden. […] Wenn die Annahme stimmt, dass dem offenen Ausbruch eines Konflikts eine Zeit der Entfremdung vorausgeht, in der das Misstrauen wächst, dann stehen den Muslimen turbulente und gefährliche Zeiten bevor.« an (etwa wenn schwadroniert wird, inwiefern migrantische Gruppen – z.B. aus dem arabischen Raum – überhaupt in der Lage seien, ihrem Schicksal als Unterschicht zu entgehen etc. pp.). Produktiv sein will die liberale Zivilgesellschaft auf jeden Fall: Gerade in dem Hype um die Kreativwirtschaft kommt der Produktivitätsimperativ exemplarisch, wenn man so will, formvollendet zum Ausdruck. Stellt doch der Wahn der permanenten Kreativität das Individuum unter dem Zwang, ständig produktiv sein zu müssen. Die Rede vom rohstoffarmen Deutschland, das in der globalen Standortkonkurrenz einzig sein Humankapital in die Waagschale werfen könnte, droht bereits den totalitären Zugriff auf das gesamte Arbeitsvermögen der Menschen an.

Das dementsprechende Gesellschaftsbild der Grünen sieht die Demokratie als permanenten Reparaturbetrieb ihrer selbst, oder um eine historische Kritik zu zitieren: »Man muß sich nur nicht die bornierte Vorstellung machen, als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, daß die besondern Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann.«Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, 1851/52, zitiert nach Marx-Engels-Werke (MEW), Bd. 8, Berlin 1980, 141. Das konservative Ideal einer hierarchischen Arbeitsteilung lehnen die Grünen ebenso ab wie das sozialdemokratische Ideal der perfekten Verwaltung. Eigensinn, die Verschmelzung von Hand- und Kopfarbeit, kleine wirtschaftliche Einheiten, die auf der Basis regionaler Vernetzung miteinander kooperieren, keine fundamentalistischen (»utopistischen«) Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf, dafür ständige »pfiffige« Lösungsvorschläge: Das ist ihr Produktivitätsideal. Kein Wunder, dass Sarrazin mit dem abfälligen Bild der türkischen und arabischen Gemüsehändler den grünen Nerv trifft: »Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt [Berlin, Anm. FK], deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel.«Sarrazin im Interview mit Lettre International, Oktober 2009. Das berüchtigte Zitat gehörte zu den Schnipseln, die blitzschnell via Reuters in der Öffentlichkeit zirkulierten. Die Grünen lehnen nun nicht seinen Produktivitätsterrorismus ab, sondern die Herabsetzung des Gemüsehandels – dessen sinnvolle ( = produktive) Funktion im Hinblick auf lokales Wirtschaften gilt für sie als unbestritten.

In den Kontroversen um Sarrazins Äußerungen kommt die liberale Zivilgesellschaft zu sich selbst. Einzelne Ergebnisse seines Pamphlets werden zurückgewiesen, der Autor selbst gebrandmarkt. Letzteres ist ein Kollateralschaden. Die implizit akzeptierten Maßstäbe – Produktivität des Individuums, Akzeptanz der liberalen Demokratie, Wissen um die »Schutzbedürftigkeit« »unserer« freiheitlichen Werten – werden als Werte der Zivilgesellschaft noch einmal bestätigt und bekräftigt. Zu Wort kommen in der Kontroverse nur die, die diese Werte eh schon teilen. Weswegen Sarrazins GegnerInnen ihm immer unterlegen sind – bis auf einzelne Details teilen sie sein Weltbild: Wer sich auf ihn einlässt, ist immer schon integriert.

FELIX KLOPOTEK

Der Autor lebt und arbeitet in Köln. Er schreibt unter anderem für Spex, testcard, Jazzthetik, und Jungle World.