Deutsche Kämpfe

Zum aktuellen „Antisemitismusstreit“

Vorbemerkung

Antifaschismus, der sich nicht damit begnügen will, jene noch immer notwendige Rolle des besseren Deutschland zu spielen, muss den Kern des deutschen Faschismus – die Ermordung des europäischen Judentums – stets im Blick behalten. Er muss sich gegen das Wesen des Nationalsozialismus – die Negation der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Boden der kapitalen Vergesellschaftung: den Antisemitismus – selbst wenden und daher notwendig für die Staat gewordene Heimat der dem Mord Entronnenen – Israel – eintreten. Die Bekämpfung des Antisemitismus in allen seinen Spielarten ist zugleich und unmittelbar der Kampf für die Erhaltung der Möglichkeit menschlicher Emanzipation. Die mit dem Nationalsozialismus Realität gewordene, stets schon bestehende Möglichkeit der totalen Barbarei wurde durch den Sieg der Alliierten nicht aufgehoben, sondern lediglich ausgesetzt. Setzte bereits der falsche Schein der einfachen Zirkulation den Grund für die Identifizierung „des“ Juden mit dem Geld, brachte der entwickelte Kapitalismus mit der Entstehung von Staat und Nation die Form des modernen Antisemitismus wie auch die von den Deutschen dann verwirklichte Möglichkeit der Krisenbemeisterung mittels der Vernichtung hervor. Mit der Etablierung des jüdischen Staates vermag sich der Antisemitismus als Antizionismus gegen Israel und damit gegen ein Ziel außerhalb der eigenen postfaschistischen Gesellschaft zu wenden. Die hier lediglich angerissene Dialektik allgemein kapitalistischen Wesens und seiner besonderen in Deutschland erwachsenen historischen Erscheinung bestimmt Form und Verlauf des derzeitigen „Antisemitismusstreits“.

 

Die deutsche Frage...

Die stets aufs neue aktuelle Frage, was deutsch sei, führte bereits zu Beginn der deutschen Staatswerdung zu einer neuerlichen Thematisierung der „Judenfrage“. Das gerade erst im nationalen Rausch vereinigte Deutschland schien sehr bald nicht mehr im allgemeinen Glanze. Schneller als bürgerlicher Wohlstand hatte sich ein industrielles Proletariat und eine sozialistische Bewegung herausgebildet. Im Gefolge der Krise von 1873 vollzog die Reichsregierung unter Bismarck einen taktischen Schwenk. Statt wie bisher auf die Liberalen, also die politische Vertretung des erst jüngst entstandenen und soeben schwer gebeutelten Kapitals, stützte sie sich nun auf ein Bündnis mit den ökonomisch dahin schwächelnden aber politisch mächtigen alten Eliten. Dies bedeutete auch den Wechsel der legitimierenden Ideologie. Der liberale Nationalismus war an einen Fortschrittsglauben gekoppelt, der im Zusammenwachsen der deutschen Teilstaaten die Beseitigung aller die kapitale Entwicklung hemmenden Hindernisse und damit die Eröffnung des Weges zu allgemeinem Glück und Wohlstand sah. Dem nunmehr zur Staatsräson erhobenen romantischen deutschen Nationalismus hingegen galt der – scheinbar – aus Waren- und Geldhandel entstammende Reichtum zumindest ehrlos und angesichts des drohenden Ruins, der aus vorkapitalistischen Verhältnissen entstammenden Eliten als bloßer Raub und Prellerei. Der aufschäumende und tendenziell aufrührerische Antisemitismus – die diesem „Denken“ adäquate Gestalt – galt den Ehrbaren, Bürgertum wie Adel, jedoch als ausgesprochen unfein; war doch dem Straßenantisemitismus der Trieb zum Umsturz des Bestehenden, zur völkischen Revolte zu deutlich eingeschrieben. Hier zu vermitteln war Zweck des ersten „Berliner Antisemitismusstreits“.

 

...ist die Judenfrage

„Über die Nationalfehler der Deutschen, der Franzosen und aller anderer Völker durfte Jedermann ungescheut das härteste sagen; wer sich aber unterstand über irgend eine unleugbare Schwäche des jüdischen Charakters gerecht und maßvoll zu reden, ward sofort fast von der gesamten Presse als Barbar und Religionsverfolger gebrandmarkt. ...über unsere Ostgrenze aber dringt Jahr für Jahr aus der unerschöpflichen polnischen Wiege eine Schar strebsamer hosenverkaufender Jünglinge herein, deren Kinder dereinst Deutschlands Börsen und Zeitungen beherrschen sollen;... Bis in die Kreise der höchsten Bildung hinauf, unter Männern, die jeden Gedanken kirchlicher Unduldsamkeit oder nationalen Hochmuts mit Abscheu von sich weisen würden, ertönt es heute wie aus einem Munde: die Juden sind unser Unglück!“ (1)

Der 1879 diese folgenschweren Sätze formulierte, war kein schwadronierender Wirtshausagitator – „Radauantisemit“ im Jargon der Zeit – sondern ein angesehener Mann der Wissenschaft, einst ein radikaler Liberaler, dann Vordenker der deutschen nationalen Ideologie und Parteigänger des preußischen Militärs, welches im Krieg gegen Frankreich das neue Deutschland geformt hatte. Heinrich von Treitschke, Professor an der Universität Berlin formulierte in seinem gegen den aufhetzenden Judenhass eines Adolf Stöcker gerichteten Aufsatz die Kernelemente des modernen Antisemitismus in griffigen Formulierungen. Die hitzige Kontroverse wurde vor breiter Öffentlichkeit geführt. Außer dem ebenfalls in Berlin lehrenden Professor Theodor Mommsen – der zwar darauf hinwies, dass hier „der Kappzaum der Scham“(2) genommen ward, im Fortlauf aber auch feststellte, dass „der jüdische Wucher keine Fabel“(3) sei – wandten sich jedoch ausschließlich die Angegriffenen selbst gegen die von Treitschke erfolgreich durchgesetzte Überführung des dumpfen Hassgefühls in respektable Meinung. Die inhaltliche Zurückweisung der vorgebrachten „Argumente“ war leicht erreicht: Die Kontinuität der Ausgrenzung und der Übergriffe gegen Jüdinnen und Juden war offensichtlich und die Mär vom Tabu jeglicher Kritik am Judentum eine schreiende Lüge; der Hinweis, dass jene angeblich nach der Herrschaft strebenden „hosenverkaufenden Jünglinge“ gerade eben ihr nacktes Leben vor den Pogrombanden im russisch besetzten Polen gerettet hatten, ließ nicht auf sich warten und dass es sich bei den vermeintlich liberalen Geistern, die „die Juden“ als ihr Unglück ansahen, um national bornierte Finsterlinge handeln müsse, war in sozial-, wie liberaldemokratischen Kreisen Allgemeingut. Der Anwurf aber blieb haften: war da nicht doch die Verbindung zum Geld, zur Macht, der Presse und der allzu aufdringlichen modernen Kultur? Fehlte „ihnen“ nicht doch der urdeutsche Trieb zu anständiger Arbeit und ehrbarem Handel? Die zahlreichen antisemitischen Parteien waren zwar im Kaiserreich bald wieder verschwunden, der Antisemitismus als ehrbares Gefühl, als ein zentraler Bestandteil des deutschen Nationalbewusstseins und als ein unüberwindbares gesellschaftliches Bollwerk gegen alles als jüdisch Empfundene aber war zum integrierenden Bestandteil der wilhelminischen Gesellschaft geworden. 63 Jahre nach Treitschkes Ausruf traten die Deutschen an, ihr „Unglück“ leibhaftig von der Erde zu radieren.

 

2002 Deutschland redet Tacheles

Im Jahr 2002 wird in deutschen Gazetten und Talk Shows, vor dem Parlament und in wissenschaftlichen Runden erneut ein „Antisemitismusstreit“ geführt.

„Ich fürchte, dass kaum jemand den Antisemiten, die es in Deutschland gibt, leider, die wir bekämpfen müssen, mehr Zulauf verschafft hat als Herr Scharon und in Deutschland ein Herr Friedman mit seiner intoleranten und gehässigen Art, überheblich. Das geht so nicht, man muss in Deutschland Kritik an der Politik Scharons üben dürfen, ohne in diese Ecke geschoben zu werden.“ (4)

So sprach der stellvertretende Vorsitzende der FDP Jürgen Möllemann, nachdem die Aufnahme des mit antisemitischen Äußerungen aufgefallenen Ex-Grünen Jamal Karsli in die FDP Anlass zur Kritik geboten hatte. Wie schon Treitschke, so sieht auch Möllemann die Deutschen behindert an der „Kritik“; der ganz nach dem klassischen Stereotyp vom bösartigen und arroganten Juden gekennzeichnete stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland und der durch die Presse bereits hinlänglich als Blutsauger und Kindermörder vorgestellte Premierminister Israels dienen stellvertretend für „die Juden“ als Urheber des Antisemitismus. Diese Ungeheuerlichkeit blieb zunächst unbeachtet. Und so war es der Zentralrat der Juden in Deutschland, der alleine gegen dieses öffentliche Abrücken vom Jahrzehnte langen Konsens, offenen Antisemitismus in der politischen Mitte nicht zu dulden, vorging. Jetzt erst sprachen der Kanzler und sein Außenminister mit großer Geste vom „Bruch eines zum Wohle aller bestehenden Tabus“ und bezichtigten die FDP der wahltaktisch motivierten Anbiederung an die extreme Rechte. „Kandidat“ Guido Westerwelle konterte: „Es muss in der politischen Auseinandersetzung eine Grenze geben und die ist überschritten, wenn die Faschismuskeule schwingt. Das ist für mich die eigentliche Tabuverletzung der letzten Tage.“ Rainer Brüderle, stellvertretender Vorsitzender der FDP, sprang beherzt zur Seite: „Dass uns die politischen Gegner als rechts und antisemitisch abstempeln, ist scheinheilig und unredlich. Es ist absurd, die FDP als antisemitisch zu bezeichnen.“ Was als Fortsetzung der alten und schon stets (mehr oder weniger unterschwellig) antisemitisch gefärbten Schlussstrich- und Normalisierungsdebatte begann, ist jetzt zu Wahlkampfrhetorik geronnen.

 

Karl Marx stellt im Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte fest, dass sich weltgeschichtliche Dinge meist zweimal ereignen, zuerst als Tragödie, dann als Farce. So ähnelt der Verlauf dieses „Streits“, in dem sich bis auf die Opfer alle weitgehend einig sind, auf unheimliche Weise seinem Vorbild aus dem 19. Jahrhundert, nimmt dabei aber – etwa in den zahllosen Talk-Runden – burleske Züge an. Wie bereits 1879 geht es den nichtjüdischen Verfechtern des Anti-Antisemitismus nicht um eine Intervention zu Gunsten der Jüdinnen und Juden, weder um die in Deutschland, und noch weniger um jene in Israel und für den jüdischen Staat.

Die Einlassungen aus Politik und Feuilleton debattieren die Reinheit der Liberalität und vermessen den Schaden, den die deutsche Reputation nehmen könne. Die meist ganz bewusst nicht vollzogene Verknüpfung der Debatte um Martin Walsers in literarische Form gebrachten Mordwillen an den Überlebenden des Massenmords - vorwiegend in der Form „schlechtes Buch! Aber antisemitisch?“ geführt - mit der weitgehend einhelligen Zurückweisung von Möllemanns „Entgleisungen“, verweist bereits auf die Funktion dieser Auseinandersetzung als nationale Selbstverständigung.

 

Die derzeit aufgeführte Farce aber ist eine Inszenierung auf den Brettern der Hölle. Die hier kopierte Tragödie fand vor den Gewehrläufen der Einsatzgruppen und in den Gaskammern der Todeslager ihren Endpunkt. Die Welt, die sich danach weiter bewegte als sei nichts geschehen, ist doch nicht mehr dieselbe. Die von Marx formulierte Hoffnung, Fortschritt und der wachsende Wohlstand der Nationen könne vermittels kommunistischer Aktion in einer menschlichen Gesellschaft Glück für Alle bringen, sieht sich dem Wissen gegenüber, dass mit der Vernichtung um der Vernichtung willen die gesellschaftliche Möglichkeit, dieses Glücksversprechen einzulösen, aufs Schwerste beschädigt wurde. Antisemitismus ist der Angriff auf die Menschheit selbst. Er meint stets den Mord. Sein Inhalt ist die Verneinung der bürgerlichen Welt auf ihrer kapitalistischen Grundlage. Das Geld, die Macht und die Kälte der durchs Kapital erst geformten Gesellschaft werden in der halluzinierten Gestalt „der Juden“ fixiert; die konformistische Rebellion gegen diese verhindert jede menschliche Emanzipation. Israel, die Heimat der dem Mord Entronnenen, zieht sich den Hass schon für den in seiner Existenz augenscheinlichen Beweis des Überlebens zu. Die im deutschen Gedächtniskult manifest gewordene Zuneigung zu toten Juden geht einher mit dem Hass auf solche, die sich mit der Waffe in der Hand gegen ihre Ermordung wehren. Ariel Sharon dient als Verkörperung der Projektion des aggressiven bewaffneten Israelis, wie Michel Friedman den verbal gewalttätigen Juden abzugeben hat. Der unheimliche Konsens in Deutschland, statt den Antisemitismus zu bekämpfen dessen Opfern noch die Schuld zuzuschreiben, zeigt sich nicht zuletzt in der kaum vorhandenen Unterstützung des Zentralrats durch nichtjüdische Deutsche.

 

Wenn Deutsche einig sind

Volksgemeinschaft war der Begriff mit dem der Nationalsozialismus die real gewordene Vereinigung der durch die kapitale Vergesellschaftung vereinzelten und gleich gemachten – also entsubjektivierten – Subjekte in einem mörderischen, von seinen Mitgliedern gläubig bejahten Zwangskollektiv bezeichnete. Ihr Vorschein war schon je in der Nation enthalten, ist deren Existenz doch lediglich der Notwendigkeit geschuldet, dass das Kapital als totales Allgemeines nur in der Gestalt des Besonderen erscheinen kann, der ebenfalls stets allgemeine Staat in seiner Besonderheit – eben als nationaler – erscheinen muss. Die mitnichten zwangsläufige Entstehung der in Auschwitz und Babi Jar zu entsetzlicher Realität gewordenen barbarischen Mordgemeinschaft ist dabei selbst historisch. Die Betrachtung des Verlaufs dieser Entwicklung wie auch der Form ihrer Entfaltung im Nationalsozialismus bis zur bloßen Suspendierung in den postfaschistischen Gesellschaften ist die Geschichte des (deutschen) Antisemitismus. Kritik des Antisemitismus ist nur als in der Tat vernichtende Kritik an Deutschland zu denken. Der Blick auf seine Historie dient nicht dem Verständnis sondern als Waffe der Erkenntnis.

Die 1879 einmal mehr auf der Tagesordnung stehende deutsche Frage hatte ihre Ursache in der besonderen Geburt dieser „späten“ Nation. Mit der napoleonischen Neuordnung Europas wurden moderne Staatswesen von außen mit kriegerischer Gewalt neu geschaffen. Der feudale Flickenteppich des alten Reichs war auf immer dahin, die neuen, sich nachholend kapitalisierenden Staaten waren mangels jeder bürgerlichen Basis auf der Grundlage alter dynastischer Herrschaften errichtet. Als im Krieg gegen Frankreich die nunmehr deutschen Teilstaaten unter preußischer Führung vereinigt waren, musste ein gemeinsames Nationalbewusstsein erst erschaffen werden. Wie bereits erwähnt, setzte sich der völkisch deutsche Nationalismus durch. Dessen Herzstück war die Vorstellung eines den auf ihrem Boden eingewurzelten Deutschen innewohnenden Wesens, welches sich in besonderen „organischen“ Kultur- und Denkleistungen manifestiere und in seinem Innersten vom abstrakten, kalten, materiellen – also „jüdischen“ – Geist der Moderne bedroht sei. Diese Fetischisierung des Konkreten ist ein Spiegel der ungleichzeitigen Erscheinung des entwickelten Industriekapitals vor dessen Voraussetzungen: freie Lohnarbeit, die Umwandlung des feudalen Grundbesitzes in bürgerliches Eigentum und die Gleichheit der Staatssubjekte. Praktisch erschien dies in den Widersprüchen der wilhelminischen Gesellschaft. Noch vor dem Entstehen eines breiten Bürgertums hatte sich ein Proletariat samt organisierter Sozialdemokratie gebildet, während gleichzeitig der vermögende Bürger abgeschnitten war von der Macht, die in den Händen des dem Bankrott zustrebenden Grundbesitzes verblieb. Diese Widersprüche erscheinen projiziert auf das Wahngebilde vom „Juden“ als die verschiedenen Elemente der „jüdischen Weltverschwörung“.

Theodor Mommsen hatte bei seinem Einschreiten gegen Treitschke die Gefahr des inneren Zerfalls des deutschen Reiches durch das Schüren des gegenseitigen Hasses beschworen. Ihm galten die Juden als ein deutscher Stamm, wie Sachsen und Schwaben. Die ihnen vermeintlich eigenen Unarten, der Wucher etwa, sollte durch allgemeines Gesetz beseitigt werden. Es war dies der Versuch, den Antisemitismus mit den Mitteln des bürgerlichen Nationalismus auszutreiben. Der scheinbare Erfolg, die Erhaltung der juristischen Gleichstellung der Juden – Gleichheit mit den christlichen Bürgern in ihrem Ausschluss von der staatlichen Macht – beruhigte die Betroffenen. Treitschkes Leistung der Versöhnung des auf Aufhebung des unvollkommenen deutschen Staates und auf die Heraufkunft des „wahren“ Deutschland drängenden Antisemitismus mit dem Hohenzollernreich ging mit jenem unter.

Der erste Berliner Antisemitismusstreit war eine der Wegmarken zum Massenmord. Sein aktueller Wiedergänger ist, vermittelt durch die deutsche Tat Auschwitz, mit dem Vorbild doppelt verbunden. Seine Inhalte, die Verschiebung der als Unbehagen an der Kultur erscheinenden Ahnung von der Unzulänglichkeit der eigenen Möglichkeiten der Krisenbewältigung auf „die“ Juden und die Form einer als Medienereignis zelebrierten kollektiven Selbstvergewisserung, werden in modernisierter Form beibehalten. Die Tatsache der durchgeführten erfolgreichen Bemeisterung der Krise mittels der Vernichtung aber zwingt dem Gegenstand eine in der Doppelbödigkeit der allermeisten Beiträge sich bemerkbar machende neue Dimension auf. Antisemitismus nach der Shoah war bis heute dem von den Alliierten diktierten Verbot unterworfen und stand der schrecklichen Tatsache gegenüber, dass nur sehr wenige Jüdinnen und Juden in Deutschland und Österreich sich befanden. Der „sekundäre Antisemitismus“, also jener, der apologetisch die eigenen Taten und die der Eltern und Großeltern mit der „Schuld“ der Juden zu erklären sucht, erscheint aufgespalten in einer offiziellen, in den Spielarten des Philosemitismus changierenden, und einer privaten, die Tabuisierung der Schuld der Anderen wie der eigenen Opferrolle bejammernden Redeweise. Ein Weg, das öffentlich geächtete Schimpfen im Gestus der Respektabilität vorzubringen, lag in der Exterritorialisierung der deutschen Frage. Israel und die USA gerieten zu schieren Projektionsflächen deutscher Befindlichkeiten. Das bewusst unbewusste Unvermögen, den universalen Zwangscharakter des Kapitals anders denn als bloßen Ausfluss menschlicher Boshaftigkeiten zu erfassen, manifestiert sich im Neid an der vermeintlich straflosen Ausübung selbst begangener Gräuel. Jenin und Afghanistan geraten so zum israelischen Auschwitz und zur amerikanischen Operation Barbarossa. Es war kein Zufall, dass die Verlautbarungen Karslis, denen zufolge Israel Nazimethoden anwende, am Anfang der öffentlichen Debatte standen. Sie fielen im Kontext eines mit dem 11. September schlagartig verschärften Konfliktes, der aus der spezifisch gespaltenen deutschen Staatsräson selbst erspringt. Während der mit der Nachkriegsordnung sich wieder eingestellte Einklang des nationalen Kapitals mit dem von den USA vertretenen Gesamtkapital eine enge politische und – gerade als Ausfluss der besonderen nationalen Interessen – auch militärische Bindung an diese erheischt, ergibt sich aus eben diesen „besonderen Interessen“, also direkt aus der internationalen Konkurrenzsituation mit der Führungsmacht, die Notwendigkeit sich gegen diese zu positionieren. Der „Nah-Ost Konflikt“ ist der geradezu natürliche Ort, diese Auseinandersetzung praktisch zu führen und diese – als verschobene – ideologisch zu fixieren.

 

Die Hilflosigkeit des Anti-Antisemitismus

Die Unterstützung des mittlerweile ohne politische Heimat da stehenden berufsmäßigen Antizionisten Karsli durch Möllemann führte zu einer deutlichen Erklärung von Seiten des Zentralrats der Juden in Deutschland. Der Vater des „Projekt 18“ gab nun die verfolgende Unschuld und konterte mit der Unterstellung, Michel Friedman und Ariel Sharon seien als die Verursacher des Antisemitismus dingfest zu machen. Der hier und in den zahlreichen dokumentierten Lügen Möllemanns über angebliche gegen ihn persönlich gerichteten Verleumdungen von Seiten des Zentralrats manifest gewordene projektive Hass auf den eloquenten Medienvertreter und Intellektuellen, wie auf den versierten Militär und erfolgreichen Politiker wurde in den spektakulären Talk-Runden nicht thematisiert(5) . Statt dessen waren Michel Friedman und auch Paul Spiegel mehrfach gezwungen, sich gegen den Vorwurf zu erwehren, sie setzten jede Kritik an Israel mit Antisemitismus gleich. Die allermeisten der gegen Möllemann gerichteten Interventionen nichtjüdischer Deutscher vermerkten die vermutete Absicht der FDP, im rechten Wählerspektrum wie bei den wahlberechtigten Moslems Stimmen einzufahren, wobei in der Regel unterstellt wurde, dass eine solche „Wende“ in der liberalen Politik eine Abkehr von demokratischen Gepflogenheiten darstelle. Die hier implizierte Zurückweisung des Antisemitismus als undemokratisch entspricht dem Unterfangen Theodor Mommsens und zeigt in seiner kategorialen Verfehltheit bloß die Verbundenheit mit einer unterstellten Staatsräson, in der Antisemitismus als staatspolitisch inopportun gilt. Die in Deutschland mit der Realisierung des Staatssubjekts Kapital unter dem Banner des Antisemitismus durchgeführte Integration des Kapitalteils Lohnarbeit in den neuen Staat als Aufgehen des Proletariats in der Volksgemeinschaft ist solcher bloßen Krittelei nicht zu denken.

Die vermeintliche Kritik am Antisemitismus verfällt als – wie immer verklärte (etwa in der Rede vom Verfassungspatriotismus) – nationale Rhetorik selbst ihrem Gegenstand, wird schiere Apologetik. Die Verinnerlichung der Volksgemeinschaft durch die vereinzelten Volksgenoss(inn)en bietet die hinreichende Gewähr dafür, dass ganz ohne autoritären Druck unter den Gegebenheiten des „schlanken Staats“ die Individuen, so zu sagen als einzelne Staatssubjekte, Kapital weiter an der einst im Großen angelegten Unternehmung der Krisenbewältigung durch Vernichtung arbeiten. Die Rede vom Widerspruch zwischen Demokratie und Antisemitismus ist so besehen die ideologische Bemäntelung eines in den Nachfolgegesellschaften des Nationalsozialismus wesenden integralen Verhältnisses. In Deutschland (und auch Österreich) ist demokratisches, aber auch sozialistisches Bewusstsein, das ja die nationale Verfasstheit, die Teilung der Welt in Staaten bewusstlos voraussetzt, von je schon antisemitisch vorgeformt. Antifaschismus, der den Kampf gegen den Antisemitismus nicht lediglich als Lippenbekenntnis zu seinem Inhalt hat, muss sich gegen diese Denkform und somit gegen Deutschland stellen.
 

Literatur:

Arbeitskreis Kritik des deutschen Antisemitismus (Hg.): Antisemitismus – die deutsche Normalität. Geschichte und Wirkungsweise des Vernichtungswahns. Freiburg 2001. Vgl. Die Beiträge von Lars Rensmann, Andrea Woeldike, Gerhard Scheit und mir. (Hier auch weiterführende Literatur.)

Julius H. Schoeps und Joachim Schlör (Hg.): Antisemitismus, Vorurteile und Mythen. München und Zürich 1995. (Hier besonders die Beiträge zur jüdischen Weltverschwörung und zum Intellektuellen.)

Gerhard Scheit: Die Meister der Krise. Über den Zusammenhang von Vernichtung und Volkswohlstand. Freiburg 2001. (Hier vor allem das Kapitel „Sekundäre Volksgemeinschaft“ S.93 – S. 108)

Paul Lawrence Rose: Richard Wagner und der Antisemitismus. Zürich 1999. (Zum romantischen deutsch-völkischen Antisemitismus.)

Joachim Bruhn: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der deutschen Nation. Freiburg 1994.

Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute. In: Gesammelte Schriften Bd. 20.1 Frankfurt am Main 1986.

Helmut Reichelt: Zur logischen Struktur des Kapitalbegriffs bei Karl Marx. Freiburg 2001.

 

 

Fußnoten:

(1) Alle Zitate in Heinrich Treitschke: Unsere Aussichten. In Walter Boehlich: Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt/Main 1965 S. 7-14.

(2) Theodor Mommsen: Auch ein Wort über unser Judenthum. In Boehlich S.212.

(3) ebd. S.213.

(4) Jürgen Möllemann, zitiert nach: Jüdische Allgemeine vom 6. Juni 2002, S.2, hier auch die später folgenden Zitate Westerwelles und Brüderles.

(5) Hier sei auch bemerkt, dass diese drei Bereiche samt und sonders Herrn Möllemanns ureigenes Terrain darstellen und ihm wohl der Neid des nicht zum Zuge gekommenen Konkurrenten unterstellt werden kann.

Rainer Bakonyi

Rainer Bakonyi lebt in Würzberg. Er schreibt regelmäßig für das akw! info und ist Wirt.