Deutsche Popkultur nach dem 11. September

Über den wiederaufgeflammten Antiamerikanismus im deutschen Popdiskurs als Teil einer langfristigen Nationalisierungstendenz von Pop in Deutschland

Der folgende Text diente als Grundlage für ein Referat zu der Diskussionsveranstaltung »Nothing new on the German Front – Popkultur nach dem 11. September«, die im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Kritische Popkultur?« am 10. Mai im Soziokulturellen Zentrum Conne Island in Leipzig stattfand.

Folgt man einer weit verbreiteten Interpretation der Anschläge des 11. September, so firmiert der Einsturz der Türme des World Trade Centers insofern unter dem Begriff »Pop«, als mit den Anschlägen eingelöst würde, was »Hollywood« über Jahrzehnte »versprochen« hatte. Sehr wohl hatten die meisten Beobachter, die den Einsturz der Türme des World Trade Centers und die darauf folgende Dauerberichterstattung live am Bildschirm verfolgten, Probleme, die Anschläge aus einer populären Repräsentation zu lösen und sie nicht als Inszenierung nach bekanntem medialen Muster, sondern als Auslöschung von Menschenleben, als schreckliche Realität zu begreifen. Manko dieser in Zeiten postmoderner Beliebigkeit einzig übrig gebliebenen popkulturellen Rezeption ist, dass sie den Blick von den Ereignissen und den Opfern weg auf die gern beklagte, selten aber ausargumentierte Boshaftigkeit der modernen Welt samt ihrer medialen Darstellungsformen lenkt. Kurz: Die Anschläge wurden nicht als das wahrgenommen, was sie sind – hinterlistige Attacken islamistischer Fanatiker.

Es gab mal Zeiten, da galt es als gesetzt, dass guter Pop nur linker, d.h. auf Emanzipation bedachter Pop sein kann. »Pop« meinte dabei den positiven Bezug auf ein kulturelles Gegenmodell, das sich von nationalen Kultursparten bewusst abgrenzte und über die Schaffung eigener Räume, Codes und Gebaren wie auch über die bessere Musik gesellschaftliche Missstände wie Faschismus, Sexismus und Rassismus anzugreifen suchte – ein Modell also, indem nicht zuletzt über einem im Grunde positiven Bezug auf amerikanische pop culture eine unterschwellige Sympathie mit den Attentätern des 11. September keinen Platz hätte finden können. Durch die wüsten antiamerikanischen Interpretationen von Bands und Publikum seit dem 11. September und dessen Verlängerung mit dem Irak-Krieg wurde solcherart Verständnis, dem sich bundesweit nur noch wenige Veranstaltungsorte und kulturpolitisch Handelnde verpflichtet sehen, beträchtlich in Frage gestellt.

 

Popkultur nach dem 11. September

Seit den Anschlägen auf New York und Washington, die insgesamt an die 3000 Todesopfer gefordert haben, standen die Vereinigten Staaten in der weltweiten wie auch der deutschen Öffentlichkeit wieder einmal ganz oben auf der Abschussliste. Offensichtlich ist das Datum zu einem Bezugspunkt geworden für Ansätze, die Wesen, Erscheinung und Handeln der Vereinigten Staaten erklären wollen, und dies durchweg in einem aggressiven und beschuldigenden Tonfall. Nicht die 3000 Toten wurden als Opfer eines mörderischen Angriffs in Schutz genommen, stattdessen wurden sie zu Tätern erklärt, die ihren Tod selbst zu verantworten hätten, während über die Ziele der Attentäter wohlweislich geschwiegen wurde. Es sollen hier nicht alle Argumentationen erneut ausgebreitet werden. Das mit einer gehörigen Portion Schadenfreude vorgetragene Grundthema jedoch, das den Vereinigten Staaten die Verantwortung für die Anschläge selbst – nämlich aus ihrer Stellung als verbleibende Supermacht, die sie skrupellos ausnutzen würden – zuweist, reicht weit bis in den deutschen popkulturellen Diskurs hinein.

Wut und Empörung entzündeten sich auch an der militärischen Intervention, die die Vereinigten Staaten bald nach dem 11. September zur Ausschaltung des islamistischen Terrornetzwerkes Al-Qaida in Afghanistan durchführten. Ein prominentes Beispiel etwa sind die 40 deutschen Künstler und Künstlerinnen, unter ihnen Nena, Herbert Grönemeyer und Konstantin Wecker: Sie rissen in einem im Stern veröffentlichten Aufruf mit dem Titel »Stoppt diesen Krieg!« die Militärschläge gegen die Taliban aus ihrem kausalen Zusammenhang und stellten das vermeintlich drohende Inferno in eine Reihe mit früheren US-amerikanischen Interventionen. Einziges Manko dieses wohl gut gemeinten Einspruchs war, dass an dem Tag, als der Stern an die Kioske kam, die Menschen in Afghanistan schon seit zwei Tagen über das Ende der Gewaltherrschaft auf den Straßen feierten, ohne sich um ihre friedensbewegten deutschen Fürsprecher zu kümmern. (Ähnliches ließ sich bekanntlich auch im Irak beobachten.)

Zugleich fanden die Beschuldigungen an die USA über den 11. September hinaus ihre Verlängerung bis zum Irak-Krieg. Selten vernahm man die Deutschen in so geeinter Form, ja es schien fast, dass jetzt keine Rücksicht mehr genommen werden müsste auf den Fakt der 3000 Opfer, sondern dass sich jetzt freier sagen ließ, was man immer dachte: Endlich sah man die USA dort, wo man sie immer gewähnt hat – beim Krieg führen. Bestimmendes Moment der Äußerungen deutscher Künstler und ihres Publikums, das weit bis in die jugendliche Friedensbewegung reichte, war das Reizwort »Krieg«. Unter dem Vorwand, die Deutschen hätten aus ihrer Geschichte gelernt, bildeten auch die Vertreter deutscher Popkultur von Grönemeyer über die Fantastischen Vier bis zu Gentleman eine Einheit, die hinter ihrem unbedingtem Friedenswillen das antiamerikanische Ressentiment von den wesensmäßig gewalttätigen US-Amerikanern transportierte. Auffällig an der ganzen Friedensliebe, die da konsensual von links bis rechts zur Schau getragen wurde, war zudem, dass Bands und Publikum sich anlässlich des Irak-Krieges wieder einmal bemüßigt sahen, sich in welcher Form auch immer politisch zu engagieren. Erinnert sei nur an die Verwendung des Peace-Zeichens als offizielles Viva-Symbol oder die »War is not the answer«-Kampagne, die auf MTV Dutzende Künstler versammelte, die sich außer im Falle Amerikas sonst politisch nicht zu Wort melden. Dass sie dabei in Einklang mit der deutschen Regierungspolitik auf die Straße und vor die Mikrofone traten, störte sie nicht bzw. fiel ihnen wohl gar nicht auf, schließlich wurde eine deutsche »Friedensposition« ja oft genug sogar gefordert. Thomas D. etwa von den Fantastischen Vier hielt mit seiner Bewunderung für die deutsche Außenpolitik nicht hinter dem Berg: »Das Zeichen, das gesetzt wird dieser Tage und auch gesetzt werden muss, ist, dass sehr viele Menschen nicht für Krieg sind, sondern den Frieden behalten wollen. [...] Ich bin sehr froh, dass nicht nur die Menschen, die Bürger, das Volk ›nein‹ sagt, sondern auch unsere Regierung sagt ›Nicht mit uns!‹ Es macht mich stolz.«(1) Warum man auf »unsere« Regierung nicht stolz sein sollte, muss hier nicht besonders dargelegt werden. Es reicht sich zu vergegenwärtigen, dass die Bundesregierung 1999 einen Angriffskrieg gegen Jugoslawien unterstützt hat, dass sie sich mitnichten also einer steten Friedensposition verbunden fühlt.

Inhaltsleerer ist selten über »Frieden« geredet worden. Und, so merkt der Publizist Henryk M. Broder zu Recht an, wenn die Deutschen das Wort Frieden in den Mund nehmen, sollte man immer vorsichtig sein: »Die friedensbewegten Deutschen tun so, als reden sie über Afghanistan, tatsächlich reden sie über ihr Land und ihre Geschichte. Sie verurteilen die Bombardierung der afghanischen Städte, um rückwirkend gegen die Luftangriffe auf Dresden und Hamburg zu protestieren, sie solidarisieren sich mit den Opfern von heute, um darauf hinzuweisen, dass sie gestern Opfer der gleichen Mächte wurden.«(2) Warum sie gestern »Opfer« der Mächte wurden, verschweigen sie dabei wohlweislich gern.

Derartige Beispiele für verbale Angriffe, Verwünschungen und Empfehlungen an die Vereinigten Staaten seitens deutscher Kulturschaffender im Gefolge des 11. Septembers ließen sich noch lange dokumentieren. Woher rühren aber diese neuerlichen Angriffe? Sind die USA wirklich das große Übel oder liegt ein Reflexionsausfall vor, der nicht mehr zwischen der Wahrnehmung Amerikas und amerikanischer Wirklichkeit unterscheiden kann? Und: was hat das alles mit Pop zu tun?

 

Eine neue Qualität?

Der auch in deutschen Popkreisen weit verbreitete Antiamerikanismus nach dem 11. September, der mit dem vorläufigen Ende des Irak-Krieges im Mai 2003 nicht zwangsläufig verschwunden ist, sich mit dem Verlust der unmittelbaren Projektionsfläche jedoch zumindest beruhigt hat und somit auch wieder zu mobilisieren ist, stellte keine zwangsläufig neue Qualität dar. Vielmehr ist er ein aus dem deutschen Amerikabild resultierendes Ressentiment, wie es zuletzt zum 2. Golfkrieg 1991 in vergleichbarer Deutlichkeit wirksam wurde. Diese amerikafeindliche Einstellung, die sich an den USA zugeschriebenen oder mit ihnen verbundenen Phänomenen wie ihrer Stellung als Supermacht, ihrem Anspruch als Weltpolizisten und ihrer Entstehungsgeschichte reibt, ist untergründig angelegt und wird immer dann wirksam, wenn die projektive Interpretation amerikanischen Handelns dies nahe legt. Insofern sprechen wir hier zwar über eine äußerst ekelhafte Bewegung, nicht jedoch über etwas genuin Neues. Eine neue Qualität war lediglich auszumachen, als das Ressentiment nach dem Ende des Ost-West-Konflikts 1991 nun auch in Ländern des arabischen Raums stärker zum Vorschein kam. So hat der offen antisemitische Gehalt der islamistischen Terroristen des 11. September die Hemmschwelle zur Äußerung antisemitischer Vorurteile in Verbindung mit antiamerikanischen Äußerungen etwa in der Hinsicht gesenkt hat, als Israel – und dahinter wohl »den Juden« – die eigentliche Verantwortung für die Eskalation des Nah-Ost-Konfliktes durch Al-Qaida zugewiesen wird.

»Besondere Relevanz«, so schreibt Georg Seeßlen, »entwickelt das Ressentiment in unserem Zusammenhang in Form eines dumpfen kulturellen Antiamerikanismus, der insbesondere die populäre Kultur Amerikas betrifft und ihre Verbindung mit globalen ökonomischen Zusammenhängen – Coca Cola, McDonalds, Hollywood, und: englischsprachige Popmusik werden als eine Art subtile Verschwörungstheorie phantasiert, die die ›Reinheit‹ und ›organische Gewachsenheit‹ ursprünglicher Kulturen bedrohen würde.«(3) Zu diesem kulturellen Überlegenheitsgefühl gegenüber Amerika, seinen Exporten und seinen Einwohnern, das eines der langlebigen da stets präsenten Momente des Antiamerikanismus bezeichnet, zählt etwa die gern auch in linken Kreisen zu vernehmende Rede vom »Ami-Scheiß« genauso wie die reflexartige Ablehnung amerikanischer Massenkultur oder das Ressentiment gegenüber den angeblich »ungebildeten« Amerikanern. Der deutsche HipHopper Mellowmark etwa meinte diesen Verlust deutscher Kultur in seinem Hit »Weltweit« folgendermaßen beklagen zu müssen: »Weltweit US-Amerikanisches Fast-Food / Weltweit amerikanisches Gedankengut / Weltweit US-amerikanische Sprachflut / Weltweit US-AmArschKult / Weltweit US-amerikanisches Fernsehen / Weltweit US-amerikanisches Erbgen / weltweit US-amerikanische Armeen / Weltweit US am Arsch vorbeigehn [...] Blut auf den Straßen / Die Völker sind verraten / Von den Mörderstaaten / Denn sie killen auf Raten [...].«(4) Nun ja, Mellowmark müsste wohl mal jemand erzählen, welchen kulturellen Mief er erleben dürfte, würde sich seine untergründige Forderung nach dem Verzicht auf seine angloamerikanischen Vorbilder erfüllen.

 

Pop vs. Deutschland

Für Pop in Deutschland bezeichnet dieser seit dem 11. September wieder erstarkte Antiamerikanismus eine besonders paradoxe Situation. Nun ist Pop in Deutschland sicherlich Schnittstelle dieses weit verbreiteten Ressentiments, genauso wie es auf Nachfrage in jedem Sportverein anzutreffen ist – da sollten wir uns wohl nichts vormachen. Paradox daran ist, dass auch Pop in Deutschland in einer angloamerikanischen Tradition steht, die ohne die Amerikaner 1945 nicht nach Deutschland gefunden hätte – das Ressentiment gegen Pop als Ausdruck amerikanischer Massenkultur richtet sich also praktisch gegen die eigene Legitimation. Die Musikzeitschrift Spex wusste noch 1993 zu berichten: »Man sollte nie hinter die Erkenntnis zurückfallen, dass es ohne die Internationalität des angloamerikanischen Kulturimports wahrscheinlich keinen Ausweg aus dem Kulturmief der Nachkriegszeit gegeben hätte. Elvis Presley war nicht umsonst kein Deutscher.«(5) An dieses Unverständnis, das zugleich über Generationen meinungsbildend war und ist, zu erinnern, kann nicht oft genug eingefordert werden, deshalb hier einige Grundzüge der unterschiedlichen Entstehungsgeschichte von Populärkulturen in Europa wie in den Vereinigten Staaten:

Die Entstehung von Massenkultur im Zuge der Industrialisierung zur Mitte des 19. Jahrhunderts und noch einmal verstärkt zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit dem Aufkommen neuer Medien wie Radio, Ton und Film, wurde im kontinentalen Europa und speziell im industriell rückständigen Deutschland stets mit Unbehagen und der Angst vor einem Macht- und Traditionsverlust gewachsener Kulturen begleitet. Dass Kultur nun – einhergehend mit dem »Verlust ihrer Aura« (Walter Benjamin) – materiell und industriell gefertigt werden konnte und noch dazu technisch reproduzierbar war, stieß auf Ablehnung. Diese Zurückweisung korrespondierte mit der Angst vor dem Verlust bekannter Lebenswelten, die durch die Industrialisierung ohnehin stets aufs Neue erschüttert wurden. Unbehagen erwuchs auch aus den gesellschaftlichen Folgen der neuen Techniken: Mittels Film und Musik wurden erstmals die aus der bürgerlichen Kultur bis dahin weitgehend ausgeschlossenen sozialen Unterschichten angesprochen. Sie hatten bisher auf die Produktion und Rezeption europäischer Kultur, sofern sie nicht Volkskultur war, keinen Einfluss gehabt. Zugleich entwickelte sich die »Trivialkultur« nicht zuletzt aus ebendieser Nichtrepräsentation der nichtbürgerlichen Schichten, die mit der Durchsetzung des Kapitalismus’ ja eine ungeheure Klientel darstellte. Bisweilen konnte das Unbehagen auch in Zensur umschlagen – schließlich beförderte die wirklichkeitsgetreue Darstellung des alltäglichen Lebens etwa im Film die Angst, unliebsame Reflexionen des Publikums über Sexualmoral, Arbeitsethos und den Sinn des Lebens überhaupt herbeizuführen.

Anders hingegen in Amerika. Hier führte der anders gelagerte Niederschlag von Herrschaft und Herkunft zu einer horizontalen, nicht vertikalen Ausrichtung von Kultur – die amerikanische Kultur verläuft also weniger als die europäische von Oben nach Unten, sondern quer zu den bekannten europäischen Mustern und kannte so von Beginn an weniger Hoch- sondern mehr Populärkultur. Symbolisch dafür stehen das oftmals angefeindete Bild vom melting pot, vom Schmelztiegel, und die darin aufgehobene Emigrationserfahrung. Konkret heißt das unter anderem, dass etwa die Überwindung der europäischen Herkunft, vor der man ja geflohen ist, als Befreiung verstanden wird. Das eigene Selbstverständnis bezieht sich deshalb auf die neue Staatsbürgerschaft als Ausdruck gewonnener Freiheit und nicht auf die ethnische Herkunft. Mit dem Traum einer besseren Gesellschaft, die man in Amerika gewillt zu bauen ist, geht eine weniger fortschrittsfeindliche Einstellung den Phänomenen der Moderne gegenüber einher. Schließlich bezieht sich der Patriotismus auf Werte wie individuelles Glück, Wohlstand und Freiheit und nicht auf Blut, Herkunft oder Religion. Und: die Unmöglichkeit der weiteren Emigration – auf Amerika folgt bekanntlich nichts – verhindert den radikalen Bruch mit der eigenen Gesellschaft, in die man ja geflüchtet ist. Während man sich in Europa also aus der eigenen Wirklichkeit hinwegträumt – paradoxerweise oftmals nach Amerika –, liegt die Hoffnung amerikanischer Popkultur nicht im Überschreiten der eigenen Grenzen, sondern im Gegenteil in deren Öffnung.(6)

All dies fließt ein in eine Definition von Pop, wie sie nach 1945 in Deutschland über die Stationierung amerikanischer und britischer Soldaten samt der sie begleitenden Radiostationen Verbreitung gefunden hatte. Ulf Poschardt sagt dazu, »Pop entstand nach dem Zweiten Weltkrieg als rebellisches Kind der westlichen, kapitalistischen Zivilisation, um als Sprachrohr, Gefühlsverstärker und Identitätskonstrukteur schnell fast alle Jugendliche dieser Zivilisation zu einen.«(7) Pop galt demnach – zumindest im Vergleich zu deutschen Verhältnissen und aus einer linken Perspektive – als universell und erhob von zu Hause aus den Anspruch, über Konstrukte wie Nation, Geschlecht, Rasse etc. hinauszuweisen.

 

Nothing new on the German Front

Nun hat Pop in Deutschland nicht erst mit dem Ende des Besatzungsstatus 1990 seine Unschuld verloren und ist zum Instrument deutscher Selbstfindung geworden, auch wenn das mit Abzug der Alliierten neugestärkte Selbstbewusstsein der Berliner Republik seinen Teil zur Neuinterpretation auch popkultureller Ausdrucksformen beigetragen haben mag. Im Gegenteil, eine deutsche Lesart von Populärkulturen jüngeren Datums ist so alt wie die Anwesenheit der Amerikaner selbst, sei es die 68er Interpretation der Horkheimerschen Kulturindustriethese gewesen oder die (wenn z.T. auch kritisch) mit deutschen Tugenden spielende Neue Deutsche Welle mit bewusst deutsch singenden Bands wie Kraftwerk oder DAF. Der Grund für eine solche Füllung liegt dabei nicht zuletzt in der Beliebigkeit von Pop selbst. Was Populärkultur letztlich bedeuten soll, kann in unterschiedlichen nationalen Kontexten nun einmal national gefüllt werden, so auch in Deutschland.

Das Unwissen bzw. Unbehagen über amerikanische Popkultur samt seiner antiamerikanischen Unterfütterung reiht sich ein in die Debatten von Mitte der neunziger Jahre, die unverhohlen die nationale Ummantelung von Pop einforderten. Prominentestes Beispiel war wohl der Liedermacher Heinz-Rudolf Kunze, der 1996 die Diskussion um die Radioquotierung deutschsprachiger Musik anheizte, um Deutschland vor dem sogenannten kulturellen Genozid zu bewahren. Diese Versuche, Pop deutsch zu erden, setzen sich bis in die Gegenwart fort, wie ein vierzigseitiger Sonderteil unter der Headline »Popstandort Deutschland – Woran bastelt dieses Land?« in der Mai-Ausgabe der einst linken Musikzeitschrift Spex belegt. Schützenhilfe in Sachen Rettung deutschen Kulturguts erhält man dabei in jüngster Zeit mal wieder von ganz oben, wie die Berufung des einstigen niedersächsischen Ministerpräsidenten Sigmar Gabriel (SPD) zum »Beauftragten für Popkultur und Popdiskurs« der Bundesregierung zeigt. Wenngleich Gabriel, der dafür da sein soll, »mit Künstlern, aber auch mit Vertretern der Branche für die SPD Kontakt zu halten, Diskussionen zu führen [...] und Verabredungen zu treffen«(8), für seine Verbindung von gespielter Jugendlichkeit und schwerfälliger Parteipolitik selbst von der bürgerlichen Presse mit Häme bedacht wurde, ist die neue Qualität nicht zu übersehen. Hinter dem Ziel der Verbindung von Parteipolitik und junger Generation verbirgt sich zugleich der Druck der deutschen Musikwirtschaft. Angesichts der Etablierung neuer Marktsegmente soll Tonträgern, die ausschließlich in hiesigen Breiten produziert wurden – also deutschen –, mittels einer neuerlichen Quotenforderung nach französischem Vorbild ein Absatzmarkt gesichert werden, ein Ziel, das Gabriel durchaus verstanden hat: »Es geht um eine Branche, die sowohl kulturell als auch wirtschaftlich hoch interessant ist.«(9) Und so kommt eins zum anderen: Gabriel, der nach Selbstauskunft »als junger Mensch auf die Loreley gefahren ist [...] und sich Rockkonzerte von Udo Lindenberg gegen den Ausbau der Atomenergie«(10) angehört hat, kokettiert nun in offizieller Funktion mit ebenjenen deutschsprachigen Vordenkern einer Nationalisierung von Pop wie Kunze, Lindenberg oder Wolf Maahn. Dabei gibt er eine maßgeschneiderte Vorlage, die – wie sich gezeigt hat – vom jugendlichen deutschen Publikum mit Wohlwollen aufgenommen wird. Wirtschaftlicher Druck und eine deutsche Sozialisation verbinden sich so zu einem nach volksmusikmäßigen Vorgaben zusammengebrauten, stinkendem Gemisch, das mittels der Durchsetzung der Quotenforderung nicht gering zu schätzende Aussicht auf Erfolg hat. Das zeigt etwa die bereits vollzogene Selbstverpflichtung des Musiksenders Viva, das antiamerikanische Ressentiment inklusive.

 

Verteidigungsstrategie Pop culture?

Kritik an diesem nationalistischen Backlash von Pop, die auch das kulturell geprägte antiamerikanische Ressentiment einschloss, kam ab Anfang der neunziger Jahre von antideutscher Seite. Die Reflexion der in der Linken bis 1989 weit verbreiteten und nur wenig in Frage gestellten Amerikafeindlichkeit zeitigte auch Auswirkungen auf ein differenzierteres Verständnis von Popkultur. Im positiven Bezug auf Amerika und seine vom Prinzip her demokratische und universelle Massenkultur trafen sich die Antinationalen mit Teilen der vornehmlich westdeutschen Kulturlinken, die über ein bisweilen reformistisches Interesse an den minoritären kulturellen und sozialen Bewegungen der Vereinigten Staaten, wie etwa HipHop, ebenfalls nicht in die nationalisierende und antiamerikanisierende Falle tappen konnten. Eckpunkte dieser Gegenstrategie waren etwa die von den Hamburger »Wohlfahrtsausschüssen« 1992 organisierte bundesweite Diskussionstour »Etwas besseres als die Nation«, die mit Diskussion und Konzert linke Kultur und Politik zu verbinden suchten.

Spätestens jedoch mit den Diskussionen der neunziger Jahre um den »Mainstream der Minderheiten« war dieser Impuls vorbei. Auch die polarisierenden Auswirkungen des 11. September 2001 auf die politische Diskussion der bundesdeutschen Linken haben die Chancen auf eine linke Repolitisierung von Popkultur nicht gerade wachsen lassen. Abgesehen von der Tatsache, dass man die bundesdeutschen Läden, Labels und KünstlerInnen, die sich immer noch kritisch-positiv auf einen Popbegriff beziehen und ihn in die Praxis umzusetzen suchen, an einer Hand abzählen kann, stellen sich gleich zwei Schwierigkeiten: Nicht nur, dass man voll und ganz in Anspruch genommen ist, die antiamerikanischen Auswüchse von Bands und Publikum abzuwehren – vor dem Hintergrund der Frage, ob und wie sich eine Kritik an der Politik der Vereinigten Staaten – noch dazu über Pop – überhaupt formulieren lässt, droht schließlich auch die Gefahr, durch die allzu leichtfertige Inanspruchnahme des amerikanischen Glücksversprechens die Realität aus den Augen zu verlieren. Der (auch in diesem Text durchscheinende, überaus) positive Bezug auf amerikanische pop culture sollte deshalb als »Verteidigungsstrategie« verstanden werden, die zugleich die Chance bietet, mittels der Analyse eines kritischen Popbegriffs hinter die Kulissen zu blicken. Zwar bleibt vor einem deutschen Hintergrund der Antiamerikanismus der Deutschen zu kritisieren und amerikanische gegen hiesige Verhältnisse in Stellung zu bringen. Dennoch würde wohl niemand auf die Idee kommen, diesen Ansatz in der Praxis mit einer mehr als provozierenden, d.h. ernst gemeinten, Zurschaustellung etwa amerikanischer Symbole auf die Bühne bringen zu wollen. Dafür handelt es sich auch hier letztlich nicht um eine politische Äußerung im Sinne eines künftig Motivationen freisetzenden Identifikationsmodells, sondern letztlich nur um eine notwendige Reaktion auf die Verhältnisse. Auf Amerika bezogen zählt nach unserem Verständnis also die Unterscheidung zwischen der Wahrnehmung den USA zugeschriebener Phänomene und der amerikanischen Realität. Dies führt letztlich dazu, an einer Kritik der Realität überhaupt festhalten zu können. Auf Pop übertragen bewahrheitet sich damit unser schon in anderen Zusammenhängen kolportierter Satz, der ein zeitgemäßes Verständnis kritischer Popkultur auch in Bezug auf die Überwindung antiamerikanischer Einstellungen hin auf den Punkt bringt: »Sogenannte kritische oder politische Popkultur muss, wenn sie diesen Impetus tatsächlich vertreten will, ihr eigenes Scheitern und ihre unabänderliche Eingebundenheit in die kapitalistischen Verhältnisse stets mitdenken und tatsächlich auch thematisieren.«

 

 

Fußnoten:

(1) Zit. n. konkret 04/2003, S. 51.

(2) Vgl. Henryk M. Broder, Kein Krieg, nirgends. Die Deutschen und der Terror, Berlin 2002, S. 12.

(3) Vgl. den sehr lesenswerten Artikel von Georg Seeßlen, Global Pop made in USA: Kreolisierung oder Korruption. Zu einigen Aspekten der globalen Wirkung von US-amerikanischer Pop-Kultur, in: Das Parlament vom 27. Januar 2003.

(4) Zit. n. konkret 05/2003, S. 36.

(5) Zit. n. Spex Nr. 8, 1993.

(6) Vgl. Seeßlen, Global Pop.

(7) Vgl. Ulf Poschardt, Stripped. Pop und Affirmation bei Kraftwerk, Laibach und Rammstein, in: Beute Nr. 3, 54-67,S. 56.

(8) Vgl. das Interview mit Sigmar Gabriel und der Berliner Band Wir sind Helden, Frankfurter Allgemeine Zeitung (Online-Ausgabe) vom 22. Juni 2003.

(9) Ebd.

(10) Ebd.

Pop AG
im Conne Island