Did Nazi that coming – Über 20 Jahre demokratische Antifaschismus

Einleitung zum Schwerpunkt

Im Sommer 2019 beobachteten deutsche Linke und Antifaschist*innen ein befremdliches Schauspiel im Internet. Auf Donald Trumps Forderung hin, »Antifa« als terroristische Organisation einzustufen, trendete #ichbinantifa auf Twitter und ein breites Bündnis von linken, grünen und sozialdemokratischen Politiker*innen bekannte sich öffentlich zum Antifaschismus. Als selbst die CDU Eimsbüttel einen solchen Tweet einer ihrer Koalitionspartner*innen, der Grünenpolitikerin und Bezirksleiterin in spe Katja Husen, stillschweigend hinnahm, war das Maß öffentlicher Parteinahmen für den Antifaschismus voll. Die Hamburger AfD empörte sich, die CDU habe die »rote Linie überschritten« und die schwarz-grüne Regierung müsse aufgelöst werden. Die Bild titelte »Radikale Tweets einer künftigen Amtsleiterin« und war besorgt, da die Bewegung »in Teilen linksextrem« sei: »Über Antifa-Gruppen gibt es einen eigenen Abschnitt im Hamburger Verfassungsschutzbericht (Kapitel Linksextremismus)«. Was war passiert? War die deutsche Öffentlichkeit plötzlich linksradikal geworden? 

 

#ichbinantifa 

20 Jahre sind vergangen seit der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder im Oktober 2000 nach dem Brandangriff auf eine Synagoge in Düsseldorf-Golzheim einen Appell zum zivilgesellschaftlichen »Aufstand der Anständigen « verkündet hat. Tatsächlich scheint die Ächtung von Intoleranz, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit heute im Mainstream angekommen zu sein: Gefühlsduselige Statements gegen Rechts, das Eintreten gegen Diskriminierung und für Diversität zählen längst zu den Features einer gelungenen Öffentlichkeitsarbeit, egal ob von Politiker*innen, Künstler*innen, Unternehmen oder PR-Agenturen. Davon zeugen nicht nur Shitstorms gegen Werbekampagnen wie die sexistischen und vergewaltigungsverharmlosenden Plakate von True Fruits, den sich rassistischer Symbolik bedienenden Werbespot von Volkswagen oder die vermeintlich transphoben Äußerungen der Schriftstellerin Joanne K. Rowling. Auch im deutschen Fernsehen befriedigen Moderator*innen wie Joko und Klaas, Carolin Kebekus oder Jan Böhmermann die notorischen Bedürfnisse eines Publikums, das sich wahlweise über Trump, die AfD, Coronaleugner*innen, aufgeblasene Aristokrat*innen oder die katholische Kirche amüsieren und auf der richtigen Seite fühlen will. Sogar Adorno feierte im Spätsommer 2019 ein unverhofftes Comeback, als der Vortrag Aspekte des neuen Rechtsradikalismus plötzlich zum Kassenschlager mutierte und als angeblicher Schlüsseltet zum Verständnis der AfD herumgereicht wurde. Die Süddeutsche Zeitung verkündete gar, dass der Autor der Dialektik der Aufklärung heute so »aktuell wie nie« sei.

Indes verdeutlichen diese Beispiele, wie wenig antifaschistische Twitter-Hashtags und mediale Repräsentation von Vielfalt bewirken, wenn es wirklich darauf ankommt. True Fruits verkauft mehr Smoothies denn je, die Deutschen können doch nicht so ganz ohne ihren Golf und in Reaktion auf die Shitstorms gegen Rowling stand augenblicklich das bürgerliche Feuilleton parat, um gegen eine Cancel Culture zu wettern, die angeblich das Abendland bedroht. Derweil sitzt die AfD in allen deutschen Landesparlamenten, in den ostdeutschen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg- Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sogar mit teils deutlich über 20 Prozent der Stimmen. Als diese Phase 2-Ausgabe vor der Sachsenwahl im September 2019 geplant wurde, stand sogar eine unmittelbare Regierungsbeteiligung der AfD zu befürchten. Nicht ohne Grund, denn im vorauseilenden Triumphgefühl beschloss der Bundesparteitag der AfD noch im Dezember desselben Jahres die Regierungswillig und -fähigkeit der Partei als maßgebliches Ziel bis 2021. Eines steht fest: Allein durch Protestwahlverhalten und die Stimmen aus abgeschnittenen Provinzregionen lässt sich der Weg der einstmaligen Anti-Euro-Partei zur vielerorts dritt- oder zweitstärksten Kraft nicht erklären. Rechtes Denken und Handeln ist auch jenseits der Parlamente konsensfähig: In Berlin, Stuttgart, Leipzig und anderen Großstädten marschieren im Zuge der Coronaproteste tausende Hippies, Stinos und Kleinfamilien Seite an Seite mit Reichsbürgern, Neonazis und Identitären. Rechte Netzwerke und Chatgruppen mit menschenverachtenden Inhalten in Polizei und Bundeswehr fliegen beinahe wöchentlich öffentlichkeitswirksam auf, während sich die zuständigen Behörden und Politiker*innen weigern, einen systemischen Zusammenhang überhaupt in Betracht zu ziehen. Und in krasser Form demonstrieren die Terroranschläge von Kassel, Halle und Hanau, was seit der Enttarnung des NSU jede:r wissen müsste: Rechte Gewalt ist nach wie vor mörderische Realität in Deutschland.

 

Regression im Galopp

Wie ist die Gleichzeitigkeit eines vermeintlich »linken« Mainstreams und einer kontinuierlich zunehmenden Präsenz der politischen Rechten zu verstehen? Tatsächlich scheint das mediale Aufgebot gegen Ausgrenzung und für Vielfalt nur das Kehrbild einer autoritären Revolte zu sein, die sich keineswegs abseits vollzieht. Ihr Ort sind neben Montagsaufmärschen, unterbelichteten Facebook-Kommentarspalten oder telegram-Chats von Starköchen und Schlagersängern längst breitere Sphären. Vor allem der AfD gelingt es, den großen Bogen zwischen Protestierenden, Politikverdrossenen, Konservativen und Neonazis zu spannen und in das parlamentarische Tagesgeschäft zu tragen. Plump und auftrumpfend inszeniert sie sich als Handlungsbevollmächtigte einer nicht repräsentierten Mehrheit, die mit der unterschiedslosen »Altparteien«-Politik und dem Konsens politischer Korrektheit endlich aufräumen will – mit Erfolg. Dabei nutzt sie die Berufung auf Grundrechte und Meinungsfreiheit, um Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antifeminismus und sonstigen Ressentiments ein öffentliches Ventil zu geben. Umso ungenierter wird drauf los geplaudert. »Früher Gesinnungsdiktatur – Heute Meinungsdiktatur« betitelte die AfD Erzgebirge ein Flugblatt aus dem Jahr 2016, in dem sie den Widerstand gegen ihre Politik mit der Verfolgung von Jüdinnen und Juden in der Shoah vergleicht: »Zum dritten Mal seit 1933 werden Menschen in Deutschland politisch verfolgt. In allen Fällen waren es Sozialisten, die, als sie die Macht hatten, die politische Verfolgung systematisch in das Alltagsleben der Deutschen installierten«. Widerlich! Mit einem solchen abstrusen Verständnis der Öffentlichkeit kann sich die Partei allerdings durchaus großer Zustimmung sicher sein. Laut einer Zeit-Umfrage gaben 2019 ganze 41 Prozent der Ostdeutschen an, die eigene Meinung könne in der BRD nicht freier geäußert werden als in der DDR: Gefundenes Fressen für die AfD, die das Narrativ der »Meinungsdiktatur« zu den Grundpfeilern ihrer Politik gemacht hat.

Dass die Rede von »Meinungsdiktatur« nur Chiffre für breitere soziale Phänomene ist, hat vor allem die Corona-Krise deutlich sichtbar gemacht. So kommt die Forderung nach einem rigiden staatlichen Umgang mit der Pandemie gerade nicht aus dem rechten Lager. Im Gegenteil, es flechtet abstruse antisemitische Ideologien, prozessiert gegen die Maskenpflicht im Bundestag oder beschwört mit der Unterstützung von »Hygienedemos« einen renitenten Gegensouverän. Die persönliche Freiheit hängt heute nicht nur daran was man »ja wohl mal sagen darf«, sondern auch am Baumwollzipfel der Mund-Nasen-Bedeckung. Dabei ist unklar, ob die gegenwärtigen Erscheinungsweisen von Autoritarismus, Rassismus, Antifeminismus und Antisemitismus überhaupt als Versatzstücke eines breiteren Phänomens zu begreifen sind. Und wie soll man seine Akteure benennen? Während mit »Neue Rechte« und »alternative Rechte« eher Selbstbezeichnungen zu Tage treten, stellt sich die Frage, ob das, was sich beobachten lässt, wirklich so neu ist und welche Alternative das sein soll. Vor allem Linke und selbsternannte Verteidiger* innen der liberalen Demokratie beschwören einen »Neo-Faschismus «, aber relativiert das nicht den historischen Faschismus? Andere wiederum sprechen von »Rechtspopulismus« statt von Nazis und Rechtsradikalen.

In dieser Ausgabe nennen Helge Petersen und Alex Struwe die Begriffslosigkeit im Umgang mit der Rechten Das Rätsel der Regression. In Ihrem Artikel kritisieren sie den Begriff des Rechtspopulismus als analytische Verfehlung und politische Verharmlosung der gegenwärtigen Entwicklung. Die Faschismusanalysen Theodor W. Adornos und Leo Löwenthals liefern demgegenüber Anhaltspunkte Populismus als verbindendes Element reaktionärer und rechter Kräfte zu begreifen, die nach gesellschaftstheoretischer Aufklärung verlangen. Das rechte Aufbegehren muss auch sozialpsychologisch eingeordnet werden, wie Rüdiger Mats in seinem Text Staat, du Loser! zeigt. Weder ein kruder Ökonomismus noch ein Kulturalismus treffen den Kern des rechten Aufbegehrens. Mats fragt sich, wann regressive Bewegungen in Deutschland einen Aufschwung erlebten und beobachtet, dass soziale Abstiegsängste nur Ausdruck eines tiefer liegenden Ressentiments sind. Vielmehr gewinnen rechte Bewegungen vor allem dann an Relevanz, wenn der Staat selbst vor der materiellen Realität resigniert und die Menschen das Gefühl haben, »dass der Staat, mit dem man sich so gerne identifizieren würde, von seinen Aufgaben überfordert ist«. Auch für Holger Pauler ist der sogenannte Rechtsruck nichts Neues. Die deutsche Regression ging seit Gründung der BRD mit Lichterketten und Aufrufen zur Anständigkeit einher. Doch sie setzen dem Status Quo nichts entgegen, vielmehr zementieren sie ihn noch. In der Kollektiven Amnesie beschreibt Pauler eine deutsche Zivilgesellschaft, die der wiederkehrenden Regression nur achselzuckend und geschichtsvergessen gegenübersteht. In ihren Aufständen der Anständigen treffen sie sich regelmäßig zur kollektiven Verhaltenstherapie. Wenn das rechte Aufbegehren also ein wiederkehrendes Phänomen ist, stellt sich die Frage: Gibt es wirklich einen Rechtsruck? Philip Manow und Silke van Dyk diskutieren dies im Gespräch mit dem Roten Salon. Obgleich der Rechtsruck kein neues Phänomen sei, meinen sie doch eine Diskursverschiebung zu erkennen. Sowohl ökonometrische und kulturalistische Lesarten der aktuellen politischen Situation hätten ihre Berechtigungen, um das rechte Aufbegehren in seiner Ganzheit zu verstehen.

 

Antifaschismus und Kapital

Was kann dem rechten Aufbegehren entgegensetzt werden? Zumindest zeigt der anhaltende Erfolg rechter Positionen, dass antifaschistische Hashtags und Lichterketten aufständischer Anständiger kaum Effekte erzielen. Was bleibt von einem Antifaschismus übrig, der zwischen Wir-sind-Mehr-Massendemonstrationen und dem Diversity-Management großer Firmen verschwimmt? Die empörten Bekenntnisse der deutschen Mehrheitsgesellschaft deuten auf einen sich fortlaufend entwickelnden liberal-demokratischen Rechtsstaat hin, in den derlei Stimmen nahtlos eingebettet sind und keinen gesellschaftskritischen Wert mehr haben. Diese mehrheitsfähige Antifa und ihre linken Positionen wollen nicht gesellschaftliche Widersprüche benennen, sondern sie zweckdienlich für die kapitalistischen Verwertungsinteressen gestalten. In den emanzipatorischen Begriffen dieser vermeintlichen Antifaschist*innen stimmt etwas nicht.

Das Kapital mag durchaus auch hinter dem Antifaschismus stehen, doch ist dieser Antifaschismus politisch entleert und sinnbefreit. Paul Buchmann Text 20 Jahre staatlicher Antirassismus in Deutschland rekonstruiert die Entwicklung der Förderprogramme gegen Rechtsextremismus und Rassismus und fragt, inwiefern eine radikale Linke, die diese Fördermittel in Anspruch nimmt, zur Komplizin von Politik und Kapital wird und deren Zusammenhang nicht mehr kritisieren, geschweige denn bekämpfen, kann. Buchmanns Artikel zeigt auf, was Teile der Linken schon länger problematisieren: Zivilgesellschaftliches Aufbegehren gegen Unrecht weiß der Logik des Kapitalismus nicht nur nichts entgegenzusetzen, sondern folgt ihr sogar. Während der Kapitalismus im 19. Jahrhundert noch rassistische Spaltungslinien für seine Zwecke nutzen konnte, fordert der Neoliberalismus Diversität und Anti-Rassismus ein – nicht im Sinne der Menschlichkeit, sondern zum Zwecke der Mobilität von Kapital und Arbeitskraft. Das habe einen Antifaschismus produziert, der Kapitalinteressen legitimiert, statt sie zu kritisieren. Ganz nach dem Motto: Das beschädigte Leben unter der kapitalistischen Verwertungslogik lässt sich aushalten, solange alle gleichsam verwertet werden.

Obwohl einer Politik des zivilgesellschaftlichen Aufbegehrens zu Recht der Vorwurf der entleerten Symbolpolitik gemacht wird, stellen neoliberale Forderungen nach Diversität zumindest rassistische Praktiken in Frage. Welchen Wert eine solche Politik haben mag, fragt sich Marek Winter im Artikel Symbolische Politiken in einer rassistischen Gesellschaft. Die mittelfristige Verbesserung der sozialen Position einzelner Individuen oder Gruppen und gesellschaftliche Anerkennung sollten trotz ihrer zahnlosen Gesellschaftskritik und monokausalen Beschreibung sozialer Widersprüche nicht vollkommen außer Acht gelassen werden.

Die Kritik kann und darf jedoch eben nicht in diesen Versprechen der gesellschaftlichen Teilhabe in liberalen Demokratien enden, wie Alex Struwe in seinem Text Demokratischer Antifaschismus argumentiert. Er mag dem antifaschistischen Selbstverständnis der liberalen Demokratie nicht mehr über den Weg trauen. Bei Theodor W. Adorno und Max Horkheimer liest er, dass die liberale Demokratie dem rechten Aufbegehren gegen Freiheit und Vernunft nichts entgegenzusetzen weiß. Trotzdem weigert er sich, es deswegen weniger schlimm zu finden.

Ähnlich sehen das die Gruppen gegen Kapital und Nation (GKN). In ihrem Artikel Die AfD will »Volk« und »Staat« retten beschreiben sie AfD Wähler*innen als die Kinder der deutschen Demokratie und sehen im rechten Aufbegehren eine Politik des Liberalismus, in dem Staat und Kapital unweigerlich miteinander verschränkt sind. Sie unterschieden sich von den anderen Parteien lediglich in der Definition des Fremden in ihrem Volksbegriff. GKN sind deshalb ebenfalls skeptisch gegenüber dem demokratischen Antifaschismus. Die AfD sei nicht das Gegenteil der deutschen Demokratie, sie habe ihr Ideal der bürgerlichen Gesellschaft lediglich ernst genommen.

 

20 Jahre Aufstand der Anständigen 

Wo bleibt die radikale Gesellschaftskritik, wenn der Antifaschismus Teil des Regierungsprogramms ist und hinter den Kapitalinteressen steht? Weder sozialpsychologisch noch ökonomisch ergründet der mehrheitsfähige Antifaschismus die Ursachen der autoritären Revolte. Man mag also fragen, »inwiefern unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Antifa überhaupt noch geeignet ist, eine radikale Gesellschaftskritik zu vermitteln und somit als Ausgangspunkt einer revolutionären Praxis zu dienen«. Vielleicht kommt einigen diese Frage bekannt vor. Es ist ein Zitat aus der ersten Ausgabe der Phase 2, die wir vor zwanzig Jahren veröffentlichten. Wie wenig wir seitdem in Sachen Antifaschismus erreicht haben, zeigen die zivilgesellschaftlichen Aufrufe zum Aufstand. Was sich als Fortschritt verkauft, bleibt die Umkleidung des Immergleichen.

Phase 2 Leipzig