Die Aufhebung des Individuums in der Gesellschaft

Ein Beitrag zur Debatte um Totalitarismustheorien

Seit Gründung der Gruppe beschäftigt sich INEX mit Totalitarismustheorien. Das erklärt sich vor allem aus dem engen Zusammenhang von Totalitarismuskonzepten und Extremismusansatz. Wir wurden auch in den Diskussionen um die 20-Jahr-Feiern zur »Wende« und der Vereinigung von DDR und BRD mit dem Thema konfrontiert. Der vorliegende Text will an die Frage anknüpfen, wie aktuell und fruchtbar Totalitarismustheorien heute für Gesellschaftskritik noch sind oder wieder sein können. Angesichts der Renaissance totalitarismustheoretischer Konzepte, aber auch im Wissen um ihre meist antikommunistische Instrumentalisierung, wollen wir uns mit diesen Konzepten auseinandersetzen, um uns ihrem Erkenntnisgehalt und ihren Grenzen zu nähern.

Ist eine linke Annäherung an Totalitarismustheorien möglich?

Zunächst scheint es durchaus plausibel zu sein, die bolschewistische bzw. stalinistische Sowjetunion mit den zur Herrschaft gelangten faschistischen Bewegungen zu vergleichen, also auch mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Ein Vergleich sucht nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden. Ähnlichkeiten scheinen dabei offensichtlich: Die gesamte Gesellschaft ist weitgehend (»total«) von Herrschaftsstrukturen durchdrungen, die sich als die historisch oder naturhaft zwangsläufigen präsentieren. Neben der ästhetischen Inszenierung und Uniformierung des Alltags behauptet die jeweils tragende Ideologie ihre alleingültige Wahrhaftigkeit. Ein staatlich organisierter, bürokratischer Terrorapparat bekämpft und vernichtet jede politische Opposition systematisch und kompromisslos. Während das aber auch Merkmale der meisten autoritären Regime sind, zeichnet die infrage stehenden Gesellschaften noch mehr aus. Es ist ihnen gelungen, die Massen zu mobilisieren und gleichzeitig die Auflösung des Individuums einzuleiten.

Vergleich heißt allerdings auch, wesentliche Unterschiede nicht zu vernachlässigen. Selbst innerhalb der Faschismustheorien scheitert eine pauschale Gleichsetzung verschiedener faschistischer Herrschaftsstrukturen. So kann etwa die franquistische Militärdiktatur in Spanien nur schwer mit dem Austrofaschismus auf einen Begriff gebracht werden. Und was für den deutschen Nationalsozialismus von primärer Bedeutung war: die rassistische Vorstellung eines »Gegenmenschen« und der Vernichtungsantisemitismus, das kannte der italienische Faschismus bis 1938 faktisch nicht. Erst recht gilt dieser Vorbehalt für eine Gleichsetzung von Stalinismus und Nationalsozialismus. Die erste Frage, die sich uns in der Auseinandersetzung mit Totalitarismustheorien stellt, ist also, inwiefern sie wirklich vergleichen oder doch der Gleichsetzung verfallen sind. Das ist jedoch nicht alles. Ein zweiter Blick auf Totalitarismusansätze offenbart ihre intensive politische Instrumentalisierung von ihren Anfängen bis heute. Totalitarismustheorien von ihrer Einbindung in antikommunistische und den gegenwärtigen Status Quo affirmierende Deutungen zu trennen, scheint heute aussichtslos, erst recht für eine radikale Linke mit ihrem marginalen Einfluss auf gesellschaftliche Diskurse. Von der Totalitarismustheorie kann ohnehin kaum die Rede sein, eher von verschiedenen, teils widersprechenden Theorien und Konzeptionen. Dennoch denken wir, dass sich in einigen dieser Konzepte Erkenntnisse verbergen, die für eine linksradikale Gesellschaftskritik von Nutzen sein können.

Der Versuch, Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus zu begreifen: Zum historischen Kontext der ersten Totalitarismustheorien

In der Geschichte des Konzeptes »Totalitarismus« lassen sich verschiedene Motive ausmachen. Zahlreiche TotalitarismustheoretikerInnen haben persönliche Erfahrungen mit »totalitärer« Herrschaft im 20. Jahrhundert in die Absicht umgesetzt, ihre Eindrücke theoretisch aufarbeiten zu wollen. Andere, darunter Mussolini, bezeichneten die eigene Bewegung oder den eigenen Staat im positiven Sinn als »total«. Auch im Verlauf der Auseinandersetzungen des Kalten Krieges formten starke politische Motive die Analyse: Viele totalitarismustheoretische Konzepte dienten (und dienen bis heute) vor allem dazu, die gesamte realsozialistische Staatenwelt und nach 1990 alle nicht-kapitalistischen Gesellschaften und Politikansätze zu denunzieren.

Der Begriff des Totalitarismus tauchte im Jahre 1923 im Zusammenhang mit der Machtergreifung der italienischen Faschisten auf. Der italienische Liberale und Antifaschist Giovanni Amendola bezeichnete das faschistische Herrschaftssystem des Landes damals als »sistema totalitario«: ein System, das eine unkontrollierbare und vor allem absolute Herrschaft anstrebe. Der Begriff, der ursprünglich als eine Warnung vor dem »fascismo« dienen sollte, wurde rasch zur Selbstbezeichnung. So beschrieb Mussolini den faschistischen Staat als eine Art geistige Kraft, die sowohl den Willen als auch den Verstand zu durchdringen vermag. Dieser Staat könne sich nicht nur auf die Tätigkeit der Ordnung und des Schutzes beschränken, er müsse mehr sein: absolutes Objekt für die kollektive Identität sowie Form, innere Norm und Disziplin des ganzen Menschen.

Von einer Vergleichskategorie für Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus kann in diesem Fall noch nicht gesprochen werden. Dies änderte sich jedoch sehr bald. Der deutsche Sozialdemokrat Fritz Schotthöfer bezeichnete sowohl Faschismus als auch Bolschewismus als zwei Brüder im Sinne der Gewaltsamkeit, die sich einander glichen wie zwei gegnerische Heere. Dabei stützte er sich im Wesentlichen auf die Rolle der linken SyndikalistInnen und anderer SozialistInnen in der Konstitutionsphase faschistischer Gruppierungen in Italien.

Der Begriff ist also eng mit dem Auftreten des italienischen Faschismus verknüpft. Konfrontiert mit dieser damals noch völlig neuen Form der Herrschaft, war es offenbar gerade wegen der linken Vergangenheit vieler italienischer Faschisten naheliegend, einen direkten Bezug zum Bolschewismus herzustellen. Einen ersten Höhepunkt erlebte die Gleichsetzung aber erst in den Äußerungen des italienischen Christdemokraten Luigi Storzo, der die Formel vom »Rechtsbolschewismus« und »Linksfaschismus« prägte. Genau diese Position wurde später von einigen deutschen Konservativen dankbar aufgegriffen, etwa von Waldemar Gurian oder Friedrich Meinecke.

Aber auch rechte Theoretiker wie Carl Schmitt oder Ernst Jünger griffen den Terminus auf – jedoch weniger kritisch als zustimmend. So bezog sich Schmitt bei der Verwendung des Begriffs auf einen Ausbau staatlicher Herrschaftsbefugnisse. Die meisten Nazis konnten damit zunächst nicht viel anfangen. Mit Alfred Rosenberg distanzierte sich beispielsweise einer der einflussreichsten nationalsozialistischen Ideologen von diesem Terminus, weil dieser die Rolle des Staates gegenüber der propagierten Vorherrschaft der nationalsozialistischen Bewegung überbetont habe. Goebbels erklärte hingegen, die Partei hätte von jeher einen »totalen Staat« angestrebt: »Das Ende der Revolution muß immer der totale Staat sein, der alle Gebiete des öffentlichen Leben durchdringt«. Die Geschichte der Entstehung des Begriffs macht deutlich, dass er zum damaligen Zeitpunkt fast ausschließlich der politischen Selbst- und Fremdbeschreibung bestimmter, vorrangig faschistischer Gruppierungen diente. Von einer Theorie kann zu dieser Zeit noch nicht gesprochen werden. Was aber in die meisten späteren Ansätze ausstrahlte, ist die Tendenz zur im Vagen bleibenden Gleichsetzung von Faschismus und Bolschewismus. Nicht umsonst erlebten Totalitarismustheorien schließlich in der Ära des Kalten Krieges ihre Hochphase und bedienten sich bereitwillig der antikommunistischen Grundstimmung jener Tage. Im Zusammenhang mit dem Zerfall des sozialistischen Osten lässt sich eine Renaissance dieser Konzepte konstatieren, nachdem sie in den vorausgegangenen Jahren kaum Beachtung gefunden hatten.

Totalitarismustheoretische Konzeptionen

Um das Feld der Totalitarismustheorien etwas übersichtlicher zu gestalten, soll zwischen zwei verschieden Strängen unterschieden werden: jenem für linke Gesellschaftskritik interessanten Strang, der nach Ursprung und Charakter »totalitärer« Herrschaft fragt sowie jenem heute dominanten, der vor allem versucht, mit dem Verweis auf vermeintlich totalitäre Gemeinsamkeiten die jeweils bestehende Gesellschaft zu rechtfertigen.

a) Der antitotalitäre Konsens: Die Schwächen des affirmativen Ansatzes

Ansätze wie die von Joachim Friedrich und Zbigniew Brzezinski urteilen aus der Perspektive von westlichen, demokratischen Gesellschaften. Sie machen dies bewusst und mit affirmierender Absicht. Deren Gesellschaftsideal ist ihnen Beschreibungsgrundlage. Davon abweichende Ordnungen fallen auf diese Weise schnell unter den Generalverdacht, »totalitäre« Systeme zu sein. Der »totalitäre Staat« erscheint als negativer Gegenentwurf bürgerlicher Demokratien. Aus dieser Sicht führt kein Weg daran vorbei, eine Wesensgleichheit von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus zu unterstellen.

Die Frage nach dem Charakter »totaler« Herrschaft reduziert sich dagegen auf die äußeren Herrschaftsstrukturen. »Totalitäre« Systeme werden anhand von bestimmten Eigenschaften formal gleichgesetzt. Zu diesen zählen unter anderem die Herrschaft einer der staatlichen Verwaltung übergeordneten Einheitspartei, ein Waffen-, Medien- und Informationsmonopol, eine zentral gelenkte Wirtschaft sowie ein nahezu alle Lebensbereiche durchdringender ideologischer Apparat mit Alleingültigkeitsanspruch. Die sechs Merkmale »totalitärer« Herrschaft nach Friedrich können zwar jede Diktatur sehr gut erklären, scheitern aber an der wesentlichen Fragestellung, was genau einen »totalitären« Staat ausmacht. Die Grenzen zwischen autoritärer und »totalitärer« Herrschaft bleiben unklar. Genau so wenig tragen sie dazu bei, die Ursachen der Entstehung von »totalitären« Systemen zu klären. Die inhaltlichen Schwächen dieser Interpretation hindern sie aber nicht, einen Kampfbegriff zur Feinbildbestimmung innerhalb der Systemauseinandersetzung zu liefern.

Dafür haben sie in den späten fünfziger Jahren und erneut seit 1989 bewusst sämtliche realsozialistische Gesellschaften in ihre Bestimmung einbezogen. Das ist schon deshalb ein Problem, weil dadurch auch jene barbarischen Ausprägungen relativiert werden, die in realsozialistischen Gesellschaften tatsächlich existiert haben – etwa der stalinistische Terror oder die blutige Herrschaft der Roten Khmer in Kambodscha. Die entscheidenden Unterschiede zwischen dem Steinzeitkommunismus der Roten Khmer und der politischen Realität beispielsweise in der DDR werden so verwischt.

Hier offenbart sich ein elementares Problem der vergleichenden Perspektive. Ist sie auch bereit, zentrale Unterschiede offenzulegen? Die hier beschriebene Variante der Totalitarismustheorien ignoriert jedenfalls bewusst wesentliche Differenzen in der programmatischen Ausrichtung »totaler« Bewegungen und Staaten. Sie ist blind gegenüber Divergenzen der weltanschaulichen Inhalte und gegenüber dem Handeln von Individuen. Weil sich diese Perspektive meist nur auf den Vergleich der Diktaturen des 20. Jahrhunderts beschränkt, muss sie Phänomene ignorieren, die für deren Beschreibung tatsächlich recht nützlich sein könnten – beispielsweise die ideologische Durchdringung »totalitärer« Gesellschaften oder die Zustimmung der Mehrheit der Individuen zur Herrschaft. Indem sich ihre Analyse auf inhaltsleere Herrschaftsstrukturen beschränkt, ignoriert diese Perspektive das vielleicht wichtigste Element ihres Untersuchungsgegenstands: Die Individuen verlieren ihren Status als handelnde Subjekte und werden von der Verantwortung für ihr Tun suspendiert. Schließlich haben diese Konzepte auch keinen Begriff und keine Ahnung von Gesellschaft oder Vergesellschaftungsprozessen, da als handelnder Akteur nur das Regime und nie die Gesellschaft auftritt.

Vor dem Hintergrund einer Konfrontation mit dem Ostblock und dem weit verbreiteten Antikommunismus taugten solche Konzeptionen ausgezeichnet für die politische Instrumentalisierung. Sie legitimieren bis heute die kapitalistisch verfasste, parlamentarische Spielart der Demokratie, oft sogar mit Betonung ihrer christlichen Ausrichtung, indem sie die »totalitäre« Gesellschaft als genau entgegengesetztes Modell beschreiben, dessen Abweichung von der kapitalistisch-(christlich-)parlamentarischen Norm quasi-automatisch in den Terror geführt hätte.

Neben seiner Instrumentalisierungstendenz gibt es innerhalb dieser Strömung noch ein anderes Problem. Auf Grundlage einer solchen Interpretation muss sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft nicht mit sich selbst auseinandersetzen. Sie kann sich vielmehr als positives Gegenbild gegenüber den autoritären Staaten des ehemaligen Ostblocks inszenieren.

Nicht zuletzt birgt dieser Ansatz eine weitere Gefahr in sich. Jede utopische Vorstellung von gesellschaftlicher Emanzipation, zum Teil sogar jedwede Kritik an der kapitalistischen Durchdringung der Gesellschaft, können diffamiert werden. Gesellschaftliche Utopien stehen so im Generalverdacht, zum »Totalitarismus« zu treiben.

b) Die Rolle der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft

Die zweite hier beschriebene Strömung fragt dagegen nach Ursprung und Charakter »totaler« Herrschaft. Ihre VertreterInnen suchen nach den Gründen für Verzerrungen und Erosionen innerhalb des historischen Vollzugs der Moderne. Es geht ihnen um die Formen regressiver Vergesellschaftung und deren Ursachen. Die Arbeiten von Franz L. Neumann und Hannah Arendt stellen dabei einen direkten Zusammenhang zum bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsmodell her.

Arendt nimmt eine Unterscheidung von »totaler« Herrschaft und bisher bekannten Herrschaftsformen vor. Dabei betont sie vor allem die Strukturlosigkeit der nationalsozialistischen Herrschaft und weist in diesem Zusammenhang auf die »Verachtung der totalitären Gewalthaber für positives Recht« hin.

Genau diese beiden Punkte greift auch Neumann auf, der in seiner Strukturanalyse den Nationalsozialismus als Polykratie divergierender Interessen bezeichnet sowie als eine formlose Herrschaft eines Unstaates, der die Rechtsförmigkeit als Grundlage eines Minimums an Freiheit völlig beseitigt hat.

Arendt wie Neumann deuten an, dass ideologische Brüche längerfristig zu einem Zusammenbruch der Herrschaft führen müssen, weshalb sich diese überhaupt nur durch Ideologie und Terror aufrechterhalten lasse. Dies führe zu einer eigentümlichen Dynamik, die keiner bislang bekannten Form der Herrschaft (auch nicht dem Faschismus) zu eigen war. So sei das Wesen totalitärer Herrschaft der Terror. Mit dieser Form des Terrors werden die Handelnden zu Personen geformt, die sowohl in der Rolle der Vollstreckenden auftreten als auch zu Opfern werden können. Im Zusammenhang mit dem National-sozialismus kann also von einer Herrschaft um der Herrschaft Willen gesprochen werden. Genau hier eröffnet sich, laut Neumann, die Möglichkeit, divergierende Interessen erneut zusammenzuhalten.

Mit Antisemitismus, Rassismus, Imperialismus und dem sich entwickelnden Nationalismus benennt Arendt Ursprünge »totaler« Herrschaft, die vor allem auf den Nationalsozialismus zulaufen. Obwohl sie versucht, auch die stalinistische Herrschaft in diese Entwicklung einzuordnen, grenzt sie beide doch deutlich voneinander ab. Außerdem verfolgt sie den Zusammenhang der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zu ihrer teilweisen Aufhebung in der »totalen« Herrschaft.

Die Anfälligkeit für Ideologien »totaler« Herrschaft stehen für Arendt in einem engen Zusammenhang mit dem Prozess der Vereinzelung: »Die Zerstörung der Pluralität […] hinterlässt in jedem einzelnen das Gefühl, von allen verlassen zu sein«. Die Betonung einer Desintegration der Individuen unterscheidet sich vom bloßen Systemvergleich des oben genannten affirmativen Ansatzes. »Totale« Herrschaft zielt vielmehr immer auf eine Identität des Individuums mit der Gesellschaft, ein Aspekt, den auch spätere TheoretikerInnen, etwa Marcel Gauchet, herausarbeiteten.

In Anlehnung an Marcel Gauchet liegt der wichtigste Ansatzpunkt zur Beschreibung »totaler« Herrschaft in der Aufhebung der Spaltung von Staat und Gesellschaft. Interessenskonflikte seien das Wesen von Gesellschaft, nicht jedoch der »totalitären« Vergemeinschaftung. Sowohl der Sozialismus als auch der Faschismus probierten demnach, die existierende Spaltung aufzuheben. Während der Sozialismus dies durch Kollektivierung der Produktionsmittel versuche, verfolge der Faschismus eine (ethnische) Homogenisierung. Kennzeichen »totalitärer« Systeme sei demnach immer »die Behauptung der gesellschaftlichen Einheit«. Auch wenn sich der Ausgangspunkt seiner Interpretation deutlich von der Hannah Arendts unterscheidet, kommt auch Gauchet zu demselben Befund: »Totalitäre« Systeme behaupteten immer die Identität der Gesellschaft mit sich selbst und strebten die vollkommene Identität des Individuums mit dem Kollektiv an. Der »organische« Einschluss sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche vollende diesen Prozess, der letztlich ohne Gewalt nicht auskomme. Mit Gerhard Scheit kann die Analyse weitergeführt werden: Grundlage dieser Homogenisierung sei der utopische Glaube an die umfassende Planbarkeit der Gesellschaft und die Schaffung eines »neuen Menschen«. Begründet durch scheinbare wissenschaftliche Objektivität, würden die Reglementierungen und Repressionen gegenüber den Menschen stets mit dem Hinweis auf eine bessere Zukunft entschuldigt, die nie Wirklichkeit wurde.

Auch wenn sich der analytische Zugang bei den TheoretikerInnen der hier vorgestellten Ansätze unterscheidet, kommen alle zu einem ähnlichen Befund. Das Wesen »totalitärer« Systeme sei der Versuch, totale gesellschaftliche Einheit herstellen zu wollen. Der zentrale Unterschied zwischen ihnen liege in der praktischen Verwirklichung von Integrations- und Exklusionsprozessen. Hier unterscheide sich die nationalsozialistische Herrschaft mit ihrer Praxis der Vernichtung einer propagierten »Gegenrasse« von anderen »totalitären« Systemen. Auch wenn das Wesen dieses Unterschieds häufig kaum erklärt wird, gelingt es den meisten TheoretikerInnen der nicht-affirmativen Strömung, ein zentrales Moment für linke Gesellschaftsanalyse in der Kritik an »totalitären« Phänomenen herauszuarbeiten: die Kritik an homogenisierenden Bestrebungen, die reale gesellschaftliche Differenzen in totale Identität aufheben wollen.

Das Problem der instrumentellen Gleichsetzung: Zum Verwandtschaftsverhältnis mit der Extremismusformel

In unserer Kritik an der Extremismusformel in den letzten Jahren haben wir immer wieder auf deren Abhängigkeit von totalitarismustheoretischen Konzepten hingewiesen. Es handelt sich dabei in der Regel um die affirmativen Konzepte, die heute in der politischen Öffentlichkeit dominieren. Sie dienen weniger einer Beschreibung realer historischer Phänomene, sondern denunzieren bestimmte gesellschaftliche AkteurInnen, die von einer normativ gesetzten »demokratischen Mitte« abweichen würden. Während mit dem extremismustheoretischen Hufeisenmodell »extreme Ränder« erfunden werden, werden mit der affirmative Totalitarismustheorie »totalitäre« Bewegungen konstruiert, die sich nichts als die Zerstörung der liberal-demokratischen Ordnung zum Ziel gesetzt hätten.

Dabei offenbaren sich mehrere Probleme. Erstens werden gesamtgesellschaftliche Prozesse und Verantwortlichkeiten relativiert. Die Transformation der Gesellschaft in ein »totalitäres« System wird nur bestimmten sozialen Gruppen zugeschrieben, denen die alleinige Verantwortung übertragen wird. Die Mehrheitsgesellschaft bleibt von der Verantwortung befreit. So wird nach wie vor behauptet, das Ende der späten Weimarer Republik sei einzig von radikalen gesellschaftlichen Rändern eingeleitet wurden, obwohl sich doch die Mehrheit der deutschen Gesellschaft zur Totengräberin der Republik gemacht hatte.

Das zweite Problem ist bereits angesprochen worden: die Delegitimierung anderer Gesellschaftsmodelle. Allein der bürgerlich-kapitalistische post-Wende Status quo gilt als legitim. Die Delegitimationsstrategie weitet sich in der Gegenwart auf jede Gesellschaftskritik aus. Ausgangspunkt bleibt meist ein legalistisches oder etatistisches Politikverständnis. Deshalb verwundert es auch nicht, wenn die AnhängerInnenschaft dieses antitotalitären Diskurses eine formalistisch-elitäre Vision von Demokratie verfolgt, die den exekutiven Rechtsstaat gegen jegliche unkonventionelle Formen von Partizipation in Stellung bringt. Paradigmatisch für diesen Diskurs ist die Kriminalisierung von Anti-Nazi-Protesten.

Dennoch gibt es Unterschiede zwischen der Extremismusformel und totalitarismustheoretischen Ansätzen. Während sich die Extremismusformel institutionell etabliert hat und einzig eine politische Funktion erfüllt, versuchen sich Totalitarismustheorien an der Beschreibung realer gesellschaftlicher Verhältnisse einer bestimmten Zeit. Diese dienen heute zwar oft auch als Argumentationsgrundlage für den Extremismusansatz, jedoch lassen sich aus einigen auch Erkenntnisse gewinnen, die für eine Gesellschaftsanalyse brauchbar sind.

Die Erfahrung »totaler« Herrschaft als Grundlage einer Kritik an antipluralistischen Vergemeinschaftungsideologien

Die Elemente totalitarismustheoretischer Analyse bleiben nur solange brauchbar, wie sie der affirmativen Instrumentalisierung, die jeden Erkenntnisfortschritt verunmöglicht, entzogen werden. Ansonsten werden sie blind gegenüber jenen gesellschaftlichen Realitäten, die die Gefahr eines solchen Umschlags in sich bergen. Das Phänomen des Islamismus lässt sich zwar vergleichend mit anderen Herrschaftsformen, besonders dem Nationalsozialismus, kritisch in den Blick nehmen, die Kritik an dieser regressiven Vergemeinschaftung resultiert aber nicht aus der Erkenntnis struktureller Ähnlichkeiten zu anderen. Es sind die Ursachen, die es ihr erst ermöglicht haben, sich zu etablieren. Eine Ideologiekritik kann genau dies tun, ohne in den Verdacht zu geraten, nur ein positives (christlich-bürgerliches) Gegenbild zum Islamismus generieren zu wollen.

Warum aber beschäftigen wir uns nun aus linksradikaler Perspektive gerade heute mit totalitarismustheoretischen Ansätzen, wenn der gegenwärtige Mainstream dieses Ansatzes doch so sehr der Affirmation des schlechten Bestehenden verpflichtet ist?

Totalitarismustheorien können als Anstoß dienen, sich mit den Formen realsozialistischer Herrschaft und ihren barbarischen Tendenzen auseinanderzusetzen. Nur eine radikale Kritik homogenisierender Vergemeinschaftungsprozesse, denen sich eben auch die »sozialistischen« Staaten und Bewegungen unterworfen haben, macht ein Sprechen von Emanzipation sinnvoll. Diese Auseinandersetzung ist für eine linksradikale Gesellschaftskritik, die den Stalinismus nicht nur als Betriebsunfall betrachtet, absolut richtig und wichtig. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Stalinismus versteht und kritisiert dessen Herrschaft vor allem als den Versuch der Herstellung totaler gesellschaftlicher Identität.

Wenn also eine Kritik der gegenwärtigen Gesellschaft auch deren Aufhebung in Erwägung zieht, muss sie die naheliegende Gefahr der regressiven, negativen Aufhebung im Auge behalten. Um diesen Umschlag zu verhindern, muss Gesellschaftskritik immer aus einer herrschaftskritischen Perspektive erfolgen. Das bedeutet auch eine permanente Reflexion der eigenen Praxis, inwiefern sie Elemente der Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv beinhaltet. Emanzipation ist nur auf Grundlage einer pluralistisch eingerichteten Gesellschaft möglich. Emanzipative Ansprüche können nur als eine Vielheit ohne Zwang eingelöst werden.

Dass diese Feststellung nicht dazu führen kann, Gesellschaftskritik oder die Forderung nach einer Aufhebung der bestehenden schlechten Verhältnisse aufzugeben, lässt sich ebenfalls mit einigen der angesprochenen totalitarismustheoretischen Analysen begründen. Diese liefern wichtige Argumente dafür, dass die bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften selbst, indem sie die Individuen permanent und notwendig beschädigen, erst die Grundlagen für ihr Umschlagen in die »totale« Regression liefern.

Allerdings stellen diese Argumente erstens eine Minderheitenposition innerhalb des breiten Angebots von Totalitarismustheorien dar und sind zweitens auch nicht allein aus dem Konzept »Totalität« ableitbar. Was als Eigenwert totalitarismuskritischer Ansätze bleibt, ist mindestens die Betonung des Individuums und der Verstörungseffekt, der zu einer kritischen Auseinandersetzung mit regressiven Tendenzen in vermeintlich linken Bewegungen führt. Deshalb sollte es auch weiterhin eine linke Auseinandersetzung mit Totalitarismustheorien geben, allerdings zwangsläufig eine kritische.

INITIATIVE GEGEN JEDEN EXTREMISMUSBEGRIFF (INEX)