Die Deutschen als First People of Color

Volksgeist, Wartburgfest und deutsche Eigentlichkeit als Vorbilder indigener Selbstbestimmung

Worst-case-Szenario. Ein postkolonial supervisiertes Schulbuch der Zukunft über den Tiroler Volksaufstand – Überschrift: »Die offenen Adern Tirols«. 

»Im Jahr 1809 erhob sich das indigene Volk der Tiroler gegen das bayerische Regime, welches sich zuvor dem französischen Aufklärungskolonialismus unterworfen hatte und versuchte, diesen auch anderen Völkern aufzuerlegen. Die Bayern begannen durch Enteignung von Klöstern, die Abschaffung der Christmette, des Wetterläutens und des Rosenkranzbetens, durch einen Frontalangriff auf ein tiefe, bodenverwurzelte Spiritualität und bewährtes Gewohnheitsrecht einen Ethnozid an den Tirolern zu verüben. Zudem versuchten sie diese zur Brandschutzversicherung und Pockenimpfung zu nötigen, was der Tiroler Befreiungstheologe Joachim Haspinger mit den spitzen Worten quittierte, man wolle den Tirolern ›bayerisches Denken‹ einimpfen. 

Unter Führung des EoC (Entrepreneur of Color) Andreas Hofer wagten die Tiroler den Aufstand. Unmittelbar nach der Einnahme Innsbrucks befreiten sie die Frauen der Stadt von ihrem patriarchalen Zwang zur Selbstpornografisierung, indem sie ihnen erlaubten, ihre Dekolletés zu bedecken. Zeugnisse über die Teilnahme von als Frauen Gelesenen und Transgender am Volksaufstand wurden von der andro- und logozentrischen Historiografie bislang unter Verschluss gehalten, wenn nicht negiert, ebenso wie solche über den expliziten Einfluss der Sklavenrevolution in Haiti auf Hofer und seine Mitstreiter*innen. Übergriffe auf Innsbrucker Jüd*innen gehorchten keinen antisemitischen Motiven, sondern eher einer antizipativen Solidarität mit den künftigen Opfern des Staates Israel, galten Jüd*innen doch als Kompliz*innen des universalistischen französischen Herrschaftsanspruchs westlicher Aufklärung. Der Vorwurf des Ritualmordes an Tiroler Kindern dürfte zwar ins Reich der Legenden zu verweisen sein, dennoch könnten sich im kollektiven Unbewussten Traumata bezüglich historischer Kindesmisshandlungen (eine – siehe Kanada – übliche Praxis der Unterdrückung indigener BIPoC) reaktualisiert haben (#weinstein). 

Der Aufstand wurde von der napoleonischen Kolonialarmee brutal niedergeschlagen, Hofer selbst (ähnlich wie später der kongolesische Präsident Patrice Lumumba) von einem Mitkämpfer verraten und brutal ermordet. Alle Versuche, die autochthonen kognitiven Strukturen der Tiroler mit weißen kolonialen Vernunftdiskursen zu überschreiben, waren bislang allerdings zum Scheitern verurteilt. Die Versuche einiger verzweifelter Tiroler Hoteliers im Jahr 2020, die erlittene Schmach zu tilgen und Europa mit dem Coronavirus zu infizieren, als postkolonialen Widerstand zu deuten, sind gewiss überzogen. Was nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass Tiroler vor allem außerhalb Tirols Opfer von Hillibilly Shaming und kultureller Diskriminierung werden. Tiroler*innen müssen selbst im von Wien aus dirigierten Lokalfernsehen deutschsprachige Gebärdensprachendolmetscher über sich ergehen lassen. Und ihre traditionsreichen Schützenverbände werden nach wie vor von der Vienna Pride and Rainbow Parade ausgeschlossen.« 

Mit diesem launigen Einstieg in den Text will ich keineswegs zu einem Rundumschlag gegen postkoloniale Theorien ausholen. Sie pauschal zu kritisieren, zeugt von mindestens einer so plumpen Auffassung wie die recht zahlreichen Versuche, in einem Aufwasch mit der Postmoderne abzurechnen. Sowohl postmoderne als auch die sogenannten Postcolonial Theories entziehen sich genereller Kritik, schließlich werden zu letzteren ebenso der von mir geschätzte Paul Gilroy gezählt wie etwa eine Indira Chowdhury-Sengupta, die in ihren wissenschaftlichen Publikationen ernsthaft die Auffassung vertritt, die Witwenverbrennung in Indien sei eine Form des antikolonialen Widerstands gewesen. 

Im folgenden Text will ich, da eine detailliertere kulturwissenschaftliche Beweisführung eines längeren Formats bedurft hätte, meiner mit dem Alter zunehmenden Verspieltheit freien Lauf lassen, und in weiten Sätzen die Ursprünge einiger kulturrelativistischer, antiuniversalistischer und antiwestlicher Diskursstränge zurückverfolgen, die natürlich selbst im abendländischen Westen zu verorten sind, einem Teil des Westens allerdings, der nach dem eurozentrischen Verständnis des späten 18. Jahrhunderts noch wilder Osten war: in den deutschen Duodezfürstentümern, in welchen in muffigen Röcken subalterne Dichter und Denker sehnten, seufzten, litten und den verhängnisvollen Traum eines antifranzösischen Nativismus träumten. Man sieht: es will mir partout nicht gelingen, des polemischen Tons zu entraten. Doch will ich diesen extrem breiten Nexus hier nicht erschöpfend, das heißt bis zur Erschöpfung von Autor und Leser:innen, durchanalysieren, sondern zunächst einmal schlichtweg provozieren, und im Ton der Übertreibung auf Zusammenhänge verweisen, die sich in weiterer Folge gut argumentieren lassen. Somit erweist sich Polemik wohl als die dem Thema angemessenste Methode der bestimmten Kritik. 

 

Nation’s First People 

Partikularistischer Antiuniversalismus sowie etliche Stränge der Identitätspolitik haben ihren ersten massiven Auftritt in der deutschen Romantik. Das Ressentiment gegen die Lingua franca einer kritischen Vernunft, die in Westeuropa ihre erste Konzeptualisierung erfahren haben mag, aber von der ganzen Welt dankend aufgenommen wurde, vor allem im Kampf gegen westlichen Imperialismus, dieses Ressentiment hat nicht minder europäische Wurzeln. Die Gesichter der Kontrahenten wechseln nach Mode und Mikroepochen die Masken und tauschen mitunter auch Ideologieaccessoires untereinander aus, dennoch bilden sie eine die Moderne durchdringende stabile Polarität. So wie sich kolonialer Widerstand nie ohne das geistige Rüstzeug von Aufklärung, Menschenrechten und Marx denken ließ, wittert man im postkolonialen eher den lokal modifizierten Moder der alten Volkstumsideologen oder von Martin Heidegger als das Odeur lokaler, nichtwestlicher Traditionen. Bleiben wir zunächst bei den Tirolern. Und den Deutschen. 

Mit der Verteidigung ihrer ständischen Ordnung und ihrer lokalen Gepflogenheiten gegen die von außen auferlegten bürgerlichen Freiheiten, die in Frankreich und den nordamerikanischen Kolonien dem Feudalabsolutismus abgetrotzt wurden, wagten diese Tiroler Bergbanditen eine Revolte, welche die Gelehrten der deutschen Romantik zu einer der erfolgreichsten Alternativen zu Klassenkampf und politischer Nation animieren sollte: der Kulturnation. 

Die jüngsten coronabedingten Gesellschaftsspaltungen haben Interesse an den geistigen Wurzeln von »Querfrontlern« geweckt, das speziell um die Frage kreist, warum sich Impf- und Maßnahmengegner:innen gerade in deutschsprachigen Ländern so häufen. Fündig wurde man in der deutschen Romantik. Diese Spurensuche ist ebenso löblich wie problematisch, ist sie doch anfällig für mentalitätshistorische Kurzschlüsse und Schematismen. Der vielfach kolportierte Gegensatz von französischer Aufklärung und deutscher Romantik stimmt auch nur, solange man ihn nicht essenzialisiert und zu einem absoluten Widerspruch verallgemeinert, zu dem man sich verhalten kann wie zu gegnerischen Fußballteams. Erst wer die Dialektik der Aufklärung mitdenkt und Romantik als deren Teil, jedenfalls als eine recht vielfältige Strömung rezipiert, wird sich Wertungen erlauben dürfen. Die Behauptung von Kontinuitäten muss sich stets der störenden Diskontinuitäten bewusst sein. Alles andere führt zu einem recht feilen Antinationalismus, der das Deutsche etwa als Buhmann der abendländischen Geschichte metaphysisch überhöht und die völkischen Prämissen des Kritisierten ex negativo reproduziert. 

Oft wird von der Romantik, zumal der deutschen, eine Deszendenzlinie zu Irrationalismus und Faschismus gezogen. Sie ist aber die Mutter vieler Kinder. Und das Role Model aller – wenn nicht Black, so doch IndigenousPeople of Color waren die Deutschen, sie entwickelten die erste Postcolonial Theory, die erste Identitätspolitik, sie waren die ersten durch westliche Herrschaftsdiskurse Gekränkten, ja, sogar die ersten, die Gekränktsein nicht nur zur politischen Kategorie, sondern zum bestimmenden Merkmal ihrer nationalen Differenz kultivierten. Und natürlich waren sie die ersten Triggerwarner, die ersten Diversity Manager, die ersten politisch Korrekten und die Ersten, die mit dem Wartburgfest 1817 neben einer einheitlichen Kultur auch die Cancel-Kultur inaugurierten. Und: Als Erste gossen sie einen Opferstatus als Fundament für einen zukünftigen Täterstatus. 

Ganz gleich, wie viel Wahrheit diesen Übertreibungen zukommt, ich mache mich natürlich selbst des Kulturalismus schuldig, wenn ich die Gedankenwelt einer überschaubaren Schicht Intellektueller und »Aktivisten« um 1800 als kollektive Leistung eines Volkes behaupte, das in seiner Kollektivität ja erst von diesen konzipiert werden musste. 

Die Fixierung auf die romantische Volkstumslehre als Basis von Faschismus und ethnischer Suprematie verliert gerne aus den Augen, dass aus denselben Wurzeln ein friedlicheres, toleranteres und gemeinhin als linksalternativ markiertes Brüderchen gesprossen war: der Kulturrelativismus. Auf sympathischste Weise reinkarnierte dieser in der US-amerikanischen Anthropologenschule des Franz Boas, die über die American Anthropological Society maßgeblich die Erklärung der Menschenrechte der UN aus dem Jahr 1947 beeinflusste, was sich am deutlichsten in folgendem Passus zeigt: »Das Individuum verwirklicht seine Persönlichkeit durch die Kultur: Die Achtung der individuellen erfordert demnach die Achtung der kulturellen Unterschiede.« Mit ihrem vorgeblichen Intimfeind, dem völkischen Chauvinismus, teilt sich dieser humane Partikularismus das kulturalistische Gesellschaftsbild und eine gemeinsame mehr oder minder eingestandene Opposition gegen den westlichen Universalismus, gegen Urbanität und Moderne. 

Wo immer in der Linken künftig mit Kapitalismuskritik eigentlich Zivilisationskritik gemeint ist, wo immer Gesellschaft kritisiert wird, um Gemeinschaft zu stiften, wo immer mit dem Individualismus auch Individualität exorziert werden soll, wo man Entfremdung nicht als Chance, sondern Sündenfall versteht, wo hinter der Gramscimaske Turnvater Jahn und Arafat grinsen und Wurzellosigkeit nie als Freiheit, sondern immer nur als Eigenschaft des transnationalen Kapitals gefasst wird, dort blüht der linke Ast eines Baumes, der mit dem rechten aus demselben Stamm wächst und im selben Boden wurzelt. Der materialistisch-modernistische Strang stammt definitiv von einem anderen Baum; Veredelungen jenes mit identitären Zweigen führen immer zu seinem Verdorren. Der Ethnopluralismus der Neuen Rechten nimmt sich mitunter wie eine humanere Softcorevariante eines antiwestlichen Kulturkampfs aus, der sich als links versteht. Dieser Nexus zeigte sich mir vor über 30 Jahren zum ersten Mal bei einer der Medikamentenstudien, mit denen ich als frischer Student mein Geld verdiente. Ein Mitproband – lange Haare wie ich und wie ich nach eigenen Angaben ein Hybrid aus Anarchist und Marxist – eröffnete mir mit einer Grimasse des Entsetzens, dass New York ein »Moloch« sei, auf den die Atombombe geschmissen gehöre. Natürlich bedeutete ihm New York weit mehr als die wichtigste Stadt im Land des verhassten Welthegemons, sie war die konzentrierte Projektionshalde all dessen, was an der Moderne schiefgegangen war. Sie war Entfremdung, sie war uneingelöste Freiheit, sie war Uneindeutigkeit, Unordnung, sie war Kapital, und darüber hinaus so hässlich, wie nur ein in Wien gestrandeter Landhippie eine der schönsten Städte der Welt finden konnte. Sie war Juda. 

 

Peace and Love and Differenz: Herder 

Mit dem Konzept des Volksgeists hatte Johann Gottfried Herder den Zeitgeist getroffen. Es war die Einladung an alle Völker und Kulturen, per Kultivierung ihrer Wesenskerne und Differenzen ein gut gemeintes Gegenmodell zur abstrakten Zivilisation der freien Individuen zu schaffen. Heinrich Heine fand für ihn die schönen Worte: »Denn Herder saß nicht wie ein literarischer Großinquisitor zu Gericht über die verschiedenen Nationen, und verdammte und absolvierte sie nach dem Grade ihres Glaubens. Nein, Herder betrachtete die ganze Menschheit als eine große Harfe in der Hand des großen Meisters, jedes Volk dünkte ihm eine besonders gestimmte Saite dieser Riesenharfe, und er begriff die Universal-Harmonie ihrer verschiedenen Klänge.«Heinrich Heine, Die romantische Schule, Frankfurt a.M. 1968, 212f.

Doch, wendet Leon Poliakov in seinem Werk Der arische Mythos ein, »nichtsdestoweniger bleibt die Tatsache bestehen, daß Herder mit seinen primitivistischen Bestrebungen, seinen Übertreibungen und auch mit seinen genialen Intuitionen die Widersprüche des Deutschlands der Romantik sowohl vorwegzunehmen als auch zuzuspitzen schien; und nicht nur Deutschlands – denn vielleicht hat der Orientalist Raymond Schwab guten Grund zu der Annahme, in Herder den Hauptverantwortlichen für die Vorurteile zu sehen, ›auf denen auch heute noch unsere Vergötzung des Kindlichen und Primitiven beruht‹«León Poliakov, Der arische Mythos, Hamburg 1993, 214..

Bei allem wohlmeinenden Respekt vor der Polyphonie ethnischer Kulturen ist bei Herder schon die verhängnisvolle Genese einer völlig neuartigen Ideologie angelegt, denn er weiß, dass Segregation, Homogenisierung und Exklusion der notwendige Preis sind, der für sein den Vergesellschaftungsformen seiner Zeit völlig zuwiderlaufendes Ideal der Welt als Bienenwabensystem gleichberechtigter Völker zu zahlen ist: »Das Vorurteil ist gut, zu seiner Zeit: denn es macht glücklich. Es drängt Völker zu ihrem Mittelpunkt zusammen, macht sie fester auf ihrem Stamm, blühender in ihrer Art, brünstiger und also auch glückseliger in ihren Neigungen und Zwecken. Die unwissendste, vorurteilendste Nation ist in solchem Betracht oft die erste: das Zeitalter fremder Wunschwanderungen, und ausländischer Hoffnungsfahrten ist schon Krankheit, Blähung, ungesunde Fülle, Ahnung des Todes.«Johann Gottfried Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Berlin 1914, 184.

Deutlicher hätten es die neurechten Vertreter des Differentialismus oder Sahra Wagenknecht nicht ausdrücken können. Angesichts der napoleonischen Bedrohung machte Johann Gottlieb Fichte schon eine Generation nach Herder in seinen Reden an die deutsche Nation die Grenzen dicht, die dieser geschaffen hatte, und brachte auf den Punkt, was sich heutigen Leser:innen wie die Grundsätze moderner Asylpolitik darbieten mag: 

»Die ersten, ursprünglichen, und wahrhaft natürlichen Grenzen der Staaten sind ohne Zweifel ihre inneren Grenzen. Was dieselbe Sprache redet, das ist schon vor aller menschlichen Kunst vorher durch die bloße Natur mit einer Menge von unsichtbaren Banden aneinandergeknüpft; es versteht sich untereinander, und ist fähig, sich immerfort klarer zu verständigen, es gehört zusammen, und ist natürlich Eins, und ein unzertrennliches Ganzes. Ein solches kann kein Volk anderer Abkunft und Sprache in sich aufnehmen und mit sich vermischen wollen, ohne wenigstens fürs erste sich zu verwirren, und den gleichmäßigen Fortgang seiner Bildung mächtig zu stören. Aus dieser inneren, durch die geistige Natur des Menschen selbst gezogenen Grenze ergibt sich erst die äußere Begrenzung der Wohnsitze, als die Folge von jener, und in der natürlichen Absicht der Dinge sind keineswegs die Menschen, welche innerhalb gewisser Berge und Flüsse wohnen, um deswillen Ein Volk, sondern umgekehrt wohnen die Menschen beisammen, und wenn ihr Glück es so gefügt hat, durch Flüsse und Berge gedeckt, weil sie schon früher durch ein weit höheres Naturgesetz Ein Volk waren.«Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, Hamburg 2008, 211f.

 

Germanisches Self-Empowerment 

Die Entwicklung der deutschen Identität ist die Folge einer tiefen sozialen Kränkung, welche sich durch Selbstethnisierung kompensieren würde. Dieser Satz mag wie eine plakative kausale Verkürzung klingen, doch ausnahmsweise ist er es nicht. Und Norbert Elias sah das genauso, wie er in seinem Prozeß der Zivilisation fachkundig zu exemplifizieren wusste. 

Die gebildeten Teile der deutschen Kleinbourgeoisie setzen den hochartifiziellen Verhaltenscodes der französischen Hofkultur, welche sich als Olymp der civilisation dünkte, ihre Standeskultur entgegen. Wird das französische Bürgertum einen richtungsweisenden Klassenkampf in bestem marxistischen Sinne bestreiten, wird das deutsche lediglich gegen »Klassismus« auftreten, gegen die Arroganz der Feudalherren, ohne das feudale Herrschaftssystem selbst anzugreifen, oder wie ich an anderer Stelle ausdrückte: »Die Franzosen werden ihre Aristokraten aufs Schafott schicken, die Deutschen die ihren in die Dorfschule, zum Nachsitzen, wo man ihnen per Rohrstock das fremdländische Französeln austreibt und einbläut, genauso Germane zu sein wie der Schusterbalg am Nebensitz.«Richard Schuberth, Bevor die Völker wussten, dass sie welche sind, Wien 2015, 44.

Menschen deutscher Zunge lebten im Vergleich zu den französischsprachigen in verschiedenen Fürstentümern, doch erst um 1800 gilt es als ausgemachte Sache, dass Deutschland »zersplittert« sei, so als wäre das mittelalterliche Römische Reich wirklich eines deutscher Nation gewesen, und so als wäre die ersehnte Einheit keine völlige Innovation, sondern Restauration eines mythischen Deutschtums. 

Der antirevolutionäre Sonderweg der Deutschen: Rückzug in die Gefühlstiefe des Innenlebens und die integrative Kraft der Kulturnation. Hier tritt der sozialpsychologische Nukleus einer jeden Identitätspolitik ins Licht der Geschichte, in der die scheinbaren Widersprüche Individualismus und Kollektivität als narzisstische Bewältigung einer desintegrativen Moderne noch auf viele wunderliche Weisen einander bedingen werden. 

Der Siegeszug des kleinbürgerlichen Bewusstseins und seiner Tugenden und Gefühlslagen, die es sich gegen den Adel gutschreibt, vollzieht sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in ganz Europa. Ein deutlicher Indikator ist der Wandel von Witz zu Humor, von Sarkasmus zu Sentimentalität, von Gesellschaft als Travestie hin zur Gefühlsehrlichkeit des Individuums. Norbert Elias: »Als maßgebende Erfahrung für die Bildung solcher Gegensatzpaare wie ›Tiefe‹ und ›Oberflächlichkeit‹, ›Aufrichtigkeit‹ und ›Falschheit‹, ›äußere Höflichkeit‹ und ›wahre Tugend‹, als Erlebniszusammenhang, aus dem dann unter anderem die Gegenüberstellung von Zivilisation und Kultur hervorwächst, erweist sich in einer bestimmten Phase der deutschen Entwicklung als Spannung zwischen mittelständischer Intelligenz und höfischer Aristokratie.«Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. Erster Band. Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Frankfurt a.M. 1976, 35.

Aber so wie die Idiosynkrasien des sich übergangen fühlenden deutschen Kleinbürgertums zum Nationalcharakter verkrusten, wird binnen einer Generation in einer erstaunlichen Kettenreaktion epistemischer Übertragungen die Abneigung gegen feudalen Kosmopolitismus auch auf dessen Antagonisten, die französische Aufklärung und ihr Ideal des Universalismus, übertragen, auf Rationalität, auf die vielgeschmähte Verstandeskälte, auf den Esprit. Dieser soziale Antagonismus wird also als französisch kulturalisiert, als Vorgeschmack auf die jüdische Markierung von Kapitalismus und Bolschewismus. 

Beim Wartburgfest, der ersten feierlichen Vermählung von Nationalismus, Antiaufklärung und Antisemitismus, werden die Corpsstudenten in ihrem 15. Grundsatz dekretieren: »Die Fürstenwürde ist das Erhabenste auf Erden und darum für das Heiligste zu ehren und zu achten; denn sie stellt die Einheit des Bürgers und des Staates dar.« 

 

Germanisches Empowerment auch anderer indigener Völker 

Bevor die Deutschen zum bedrohlichen Volk anschwellen, inszenieren sie sich als bedrohtes, als indigenous people, das mit der Kombination von ständischem Individualismus, idealistischer Philosophie und völkischer Metaphysik von Herder bis Heidegger den größten ideologischen Exportschlager aller Zeiten landen würde. 

Nicht nur deutsche Selbstfindung, sondern auch die Förderung anderer vom zivilisatorischen Kanon Frankreichs und Englands abgewerteter Peripherien zählten zur Mission der völkischen Romantik. Exotismus und Sehnsucht nach dem Partikularen deckten ein paneuropäisches Bedürfnis ab, auf deutschem Boden indes verdichtete es sich zu politischer Programmatik und geriet zum Vorbild vieler lokaler Intellektueller, die sich wie ihre deutschen Standesgenossen von den Zentren abgehängt und übergangen fühlten, gegen solch eine Arroganz wie im Schachspiel ihre eigenen Bauern vorschoben und mit der Ideologie der kulturellen Differenz ihre Claims abzustecken versuchten. 

Ein Großteil der neuen deutschen Gelehrten hegte Ressentiments gegen Franzosen und Juden, andere Völker hingegen konnten gar nicht prämodern und archaisch genug sein, um sich ihrer bedingungslosen Solidarität sicher zu sein. Den Anfang machte Herder mit seiner Idealisierung der Slawen. Und die Sympathie war gegenseitig. Die ersten Intellektuellen des slawischen Erwachens wie Ján Kollár, Pavel Josef Šafarík und Jernej Kopitar gingen bei den Deutschen in die Lehre. Der Slowake Kollár bezeichnet seine Teilnahme am Wartburgfest 1817 als »ausgezeichnetsten Moment seines Lebens«, wo auch sein verehrter Lehrer Jakob Friedrich Fries auftritt, der Autor von Über die Gefährdung des Wohlstandes und Charakters der Deutschen durch die Juden

Auch russische Gelehrte kopierten das Modell des deutschen Partikularismus eins zu eins, und fanden in Herder sowie im Transzentalidealismus und der positiven Philosophie Schellings passendere Ideengeber einer genuin russischen Geistigkeit als bei den französischen Materialisten oder Kant. So sehr sich später die Konzepte der samobytnosť, der selbstbezüglichen Originalität alles Russischen, sowie der Narodismus gegen den Westen und damit gegen Deutschland kehren würden, es handelt sich bloß um eine Ostverschiebung genau jenes Modells, mit dem die Deutschen sich als traditionsbewusste Antipoden zu angelsächsischem Geschäftsgeist und französischer Verstandeskälte gesetzt hatten. Originalität, Eigentlichkeit, Authentizität, die narzisstische Innenausstattung des transzendentalen Ichs werden ins imaginäre Kollektiv projiziert, das sich als Staatsvolk zusehends materialisiert. Materialismus schickt die Klasse ins Rennen, der Idealismus das Kulturvolk. Von Herder bis zur Gesellschaft für bedrohte Völker sind deutscher Solidarität mit fremden Nativismen immer antimodernistische Zwecke inhärent, sie versteckt sich oft im linken Gewand, verfügt von Anfang an aber über eine Anschlussbuchse für den Antisemitismus, der letzten und logischsten Konsequenz aller Verwurzelungsdesiderate, deren Wurzelwerk keinen Boden mehr findet, in dem es nicht faulen würde. 

Am schönsten zeigt sich die deutsche Bestimmung als nativistischer Selbstfindungscoach bei Karl May. Seine Romantisierung arabischer, anatolischer und indianischer Stammesgesellschaften ist bloß das bekannteste Beispiel in einem Meer aus exotistischer Trivialliteratur, welche den Buchmarkt seit den 1820er-Jahren flutete. Stets zettelt Mays Alter Ego Kara Ben Nemsi alias Old Shatterhand indigene Aufstände gegen die korrupten und dekadenten osmanischen oder angelsächsischen Zivilisationen an. Seine Ideenwelt strebt eine Allianz von deutschen und indianischen Edelmenschen gegen eine verderbliche, kulturlose, weil auf bloß materiellen Werten basierende US-Zivilisation an. Ganz gleich, ob apachisches oder deutsches Wesen, an ihnen jedenfalls würde die Welt genesen. 

 

Die Ur- und Übermutti aller Differentialismen 

So erwiesen sich die deutsche Romantik und ihre Vordenker als Anwälte aller Partikularkulturen dieser Welt, gegen die nivellierende Potenz einer französisch-englischen Aufklärung: Deutschland als ideelles Opfer eines kolonialen Herrschaftsdiskurses und seit der napoleonischen Expansion dessen reales Opfer. Deutschland aber auch als Rute im Fenster des Universalismus, fremde Kulturen zu respektieren, als Role Model postkolonialer Selbstfindung, als Ingenieur der identitären Revolte sowohl gegen die Globalisierung der Eliten als auch gegen die Wahrheitsansprüche einer säkularen Vernunft, die sich autochthonen »Wissenssystemen« nicht nur überlegen fühlt, sondern sich zum Maßstab aller Wahrheit macht. Der deutsche Weg also als Paradigma, das Bewusstsein sozialer Unterdrückung einer viel schlimmeren Repression unterzuordnen: der Missachtung kultureller Identität. Und deutsche Bildungskleinbürger als Veredler des »Narzissmus der kleinen Differenzen« (Freud), als durch eigene schicksalshafte Erfahrung qualifizierte Therapeuten-NGO, die lehrt, wie sich kulturelle Minderwertigkeits- in Überwertigkeitskomplexe verwandeln lassen, wie man aus einem Opfer zu einem coolen Täter wird und wie sich all die Friktionen, Ambivalenzen, sozialen und ökonomischen Widersprüche der Moderne mit kulturellen Erklärungsmodellen und klaren Freund-Feind-Polaritäten kompensieren lassen und letztlich, wie man kritisches Denken, das all das kognitiv bewältigen könnte, als »westlichen Herrschaftsdiskurs« diffamiert. 

 

Richard Schuberth 

Der Autor ist Dichter, Historiker, Gesellschaftskritiker, Cartoonist und arbeitet permanent an Safe Spaces für die Nichtidentität. Jüngste Buchveröffentlichungen: Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des griechischen Unabhängigkeitskrieges und Die Welt als guter Wille und schlechte Vorstellung. Das identitätspolitische Lesebuch.