Traditionell ist die theoretische Kritik der kapitalistischen Verhältnisse durch den Klassenbegriff stets verknüpft gewesen mit der sie begrabenden Praxis. Die politische Forderung an die Klasse schrumpfte auf den fatalistischen Glauben an ihre Mächtigkeit im großen Ganzen der Geschichte. Der heute sehr beliebte Satz, dass das Kapital seine Bedingungen selbst schafft, bezieht sich bei Marx vordringlich auf das Freisetzen einer willigen Arbeitermasse der doppelt freien Lohnarbeiter. Im Begriff der Klasse spricht sich seit ihrem Ursprung stets zweierlei aus: Hier wird der Begriff für die adäquate Kritik der sozialen Verhältnisse im Kapitalismus geltend gemacht, dort ist sie als revolutionäres Subjekt verwünscht. Dass diese zwei Seiten auseinandergetreten sind, ist geschichtlich bedingt und theoretisch notwendig. Traditionell bildete das Klassenbewusstsein das politische Scharnier zwischen Theorie und Praxis. Die Lohnarbeiter als Proletariat kannten ihre Partei, die wiederum wusste, wohin es zu gehen hatte. Als politisches Subjekt hatte das Proletariat sich in seinen besten Zeiten gegen die Zwecke der kapitalistischen Vergesellschaftung und damit gegen seine eigene Existenz als Proletariat gerichtet.
Wenn auch Theorie und Praxis je schwer nur zu vermitteln sind, verweist die politische Organisation und Reklamation der proletarischen Klasse auf die Struktur der kapitalistischen Vergesellschaftung. Als Bedingung der Verwertung des Werts wird die Klasse organisiert, freigesetzt und reproduziert. Theorie und Praxis bewährten sich traditionell in der Kritik der in der Klassengesellschaft durchgesetzten Ausbeutung, die in der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie mit der Produktion von Mehrwert dargestellt worden ist. Mehrwert ist der durch Mehrarbeit in der Produktion geschaffene Wert, der über das für die Reproduktion des Arbeiters Notwendige hinausgeht oder es unterläuft. »The category of surplus value usually has been understood as indicating that the social surplus in capitalism results not from a number of factors of production but from labor alone. Such an interpretation maintains that labor’s unique productive role is veiled by the contractual character of the relations between nonpropertied producers and nonproductive proprietors in capitalism. These relations take the form of an exchange in which workers are remunerated for the value of their labor power – which is less than the value they produce.«(1) Die Form des Tausches der Ware Arbeitskraft gegen den Lohn stellt hiernach im Tausch zwischen zwei Gleichen – sowohl den formal gleichen bürgerlichen Rechtssubjekten als auch den »gleichen Werten« – die Ausbeutung als gerechte dar und überspielt sie somit. Solange die Kritik jedoch einzig auf die Form des Wertes als Mehrwert gerichtet ist, und wahrhaft statt scheinhaft eingelöst wissen will, was als Form des gesellschaftlichen Reichtums abzuschaffen wäre, hängt sie dem Phantasma des gerechten Tausches an, der den Bezug auf die Arbeiterklasse als unschuldiges, fleißig schaffendes Subjekt möglich macht. Nicht selten geriet ausgerechnet der Überschuss in der Form des Mehrwerts zum Denunzierten, statt den kontingenten Zusammenhang von materialem und sozialem Reichtum zu kritisieren.
Wird der Klassenbegriff zum core of the beast präpariert, sieht man von den Konstitutionsbedingungen der Klassen ab und stilisiert sie zum Selbstläufer. Löst sich die Kritik derart von der Wirklichkeit, personifiziert sie in den Massen – hier die Kapitalisten, dort die Lohnarbeiter – was sie nicht notwendig aus freiem Willen, seltener noch aus Bösartigkeit und doch als Träger und als Schmiere der Verwertung des Werts sind: »The category of class delineates a modern social relation that is mediated quasi objectively by labor.«(2) »Class conflict in capitalism, according to the critique of political economy, is structured by and embedded within the social forms of the commodity and capital.«(3) In den verbliebenen Gewerkschaften lautet der Rest der Forderung nach gerechtem Lohn folgerichtig bloß noch 0,5 Prozent »Lohnausgleich« in Abhängigkeit vom gütigen Anderen und mit ihm zusammen – zum Wohl der Nation am Standort Deutschland. Gegenwärtig sieht sich dieses ohnehin klassisch reformistische Projekt zurückgeworfen auf Abwehrkämpfe statt auf Forderungsausbau, auf Legitimationsnot statt organisatorischer Stabilisierung. Hierin realisiert sich, was Problem der institutionalisierten Arbeitermacht an sich ist: In der Affirmation zerfällt die Klasse als politischer Begriff, sofern sie ihren Zweck am nationalen Wohl der Gemeinschaft ausrichtet, die den Unterschied der Klassen gerade nicht kennt. Derart endete die Klasse schon mit der modernen Nation, die sie erschuf. Da das Kapital sich national organisiert, ist der Klassengegensatz Teil der Produktion nicht nur ökonomisch sondern auch sozial. Es existiert keine nationale Klasse, denn deren Interesse wäre ein praktischer Selbstwiderspruch.
Höhepunkt der negativen Aufhebung der Klassengesellschaft auf den Voraussetzungen kapitalistischer Produktionsweise ist der nationalsozialistische Volksgenosse gewesen, mit dem auch der Bürger abgeschafft worden ist. »What happens in the passage from the position of strict class struggle to Fascist antisemitism is not just a replacement of one figure of the enemy (the bourgeois, the ruling class), but the shift from the logic of antagonism which makes society impossible to the logic of external enemy which guarantees societies consistency.«(4) Der Nationalsozialismus ist die freie Wahl gewesen, den Antagonismus negativ aufzuheben und die eigene Freiheit abzuwerfen. Darin ist das Ende der Politik, nicht ihr Anfang oder Abweg besiegelt. Von hier an entscheidet sie sich ununterbrochen für dasselbe, das Unvermeidliche.
Der Übergang vom Konflikt zwischen den Interessen der Kapitalisten und den Proletariern zum Einvernehmen am runden Tisch der Nation erscheint fließend, schon weil die Inhalte sich gleichen: Kämpfe um kürzere Arbeitstage und höhere Löhne, Kranken- und Rentenversicherung etc. Aus der Gegenwart heraus die historischen (Überlebens-)Kämpfe der Arbeiter in der kommunistischen wie reformistischen Bewegung als hoffnungslosen Irrglauben einer verkürzten Kapitalismuskritik zu belächeln, wäre hohl und zynisch. Wer sich aber heute auf die Gewerkschaft stürzt, um den Konflikt zu bejahen, führt ihn nicht im ausschließlichen Interesse der doppelt freien Lohnarbeiter, sondern um des Wohls des Ganzen willen. Der oftmals als letztes Symptom angeführte »Konflikt« zwischen Klassen hat kein sprengendes Potential, sondern konstruktive Funktion. So wie die Demokratie sich als plurale, konfliktfreudige Parteienlandschaft versteht, die in Debatten verhandelt, worüber die Mehrheit obsiegt, gehört die Verhandlung zwischen Arbeitnehmer und -geber zur sozialen Bedingung des politischen Alltagsgeschäfts im Kapitalismus auf der Basis des bürgerlichen Rechts. Da der Kapitalismus so harmonisch nicht ist, wie Hans-Olaf Henkel ihn global bewirbt, ist an seinen Disharmonien noch keinesfalls revolutionäres Aufbegehren abzulesen, sondern meist nicht mehr als die ihm eigenen Bewegungsgesetze. Seine Verlaufsform gefällt sich zeitgenössisch in den kleinen schmeichelnden und ergänzenden, frechen wie tristen Worten, die so wenig Kritik an den Verhältnissen sind, wie die deutsche Vulgärsprache Autoritätskritik ist. Isoliert und hypostasiert der Kritiker die glattgeschliffenen Reibungsflächen zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, vollzieht er affirmativ nach, was Spielraum der kapitalistischen Produktion bleibt: die Flexibilisierung der Arbeitskräfte wie die ihrer unfreien Zeit. Auch wenn die Klasse nicht mehr als revolutionäres Subjekt taugt, so bleibt die Selbstwahrnehmung der Lohnarbeiter politisch zu beobachten und zu kritisieren. Die Klasse als Form von Subjektivität im Kapitalismus besitzt kein historisch unveränderliches Interesse, sie spiegelt die ökonomischen Verhältnisse nicht bloß aus einer bestimmten Perspektive wider. Die Verleugnung des Subjekts mit der Setzung der Identität von Denken und Sein ist im Interessebegriff unkritisch übernommen. Sie entschlägt sich der Vermittlung von konstituierter Form einer sozialen Bewegung im Kapitalismus und ihrer historisch kontingenten politischen Rolle. Diese historische Differenz berechtigt von einem Verschleiß der Reibungsfläche zu sprechen. Ist der individuelle Arbeitskraftbehälter heute zunehmend für die Bedingungen seiner Arbeitskraft wie seiner arbeitsfreien Zeit selbst verantwortlich, fällt ihm nur mehr zu, was die Modernisierung als von ihm abgeschnittenen, geschichtsmächtigen Prozess übrig lässt.
Different strokes for different folks – the truth of Linda Lovelace
Der Bezug auf die Klasse wie auf den class struggle legitimierte sich wesentlich über ihrer beider Stellung im kapitalistischen Produktionsprozess. Wird dieser thematisiert statt sich auf die Distribution und Zirkulation des Reichtums zu beschränken, bleibt potentiell ein kritischer Weg offen. Traditionell ist die Rückbindung eines politischen Bewusstseins an die Klasse Resultat einer Politisierung der Produktion, die in der demokratischen politischen Theorie schon immer als Voraussetzung der politischen Form gesetzt ist. Die Produktion richtet sich demnach in liberaldemokratischer Facon selbstregulativ oder kann sozialdemokratisch regulierend ent- oder beschleunigt werden. Der politische Bürger ist in der Kritik des gesellschaftlich produzierten Reichtums nicht auf seine Repräsentation im parlamentarischen System und seinen Institutionen beschränkt. Diese Orte des Politischen werden mit der bestimmten Produktionsweise vermittelt, indem die Produktion selbst politisch gefasst wird. Indem sie gegenwärtig wie die Verlängerung der Demokratie mit produzierenden Mitteln erscheint, wird der Begriff der Klasse entpolitisiert. Wurde im Nationalsozialismus der Arbeiter zum Blutsträger wird er in der lückenlos demokratischen Gegenwart zum entgrenzten Bürger. Die postmoderne Kritik trägt dies mit, ihr Slogan des »Alle-sind-unübersetzbar« ist in der Folge identisch mit der bürgerlichen »Alle-gleich«. Die Freiheit zur demokratischen Differenz leugnet den Zwang zur kapitalistischen Differenz der Teilnehmenden. Beide sind sich einig: Arbeit stinkt und dementsprechend scheint sie notwendiger Teil der Gemeinschaft, nicht diskussionswürdiges Konstituum. Die postmoderne wie strukturalistische Kritik am Klassenbegriff tritt an, die politisch blinden Flecken im Klassenbegriff selbst wie in den von ihm nicht abgedeckten gesellschaftlichen Verhältnissen zu beleuchten: race und gender sollen class ergänzen. Selten führt sie aus, welchen spezifischen Zusammenhang die drei Elemente bestimmen, ob sie gleichwertig einander addiert, gleichgültig nebeneinandergestellt sind oder auf welche Art und Weise was durch sie vermittelt ist. Das Erbe marxistischer Kritik ist darin entweder stillgelegt als abgeschlossene Epoche oder/und stillschweigend intoniert ohne seine Bestimmtheit zu klären. Im berühmten Fall Foucault ist der Class Struggle Ausdruck eines ökonomischen Reduktionismus, der zunehmend anderen Prinzipien der Herrschaftsführung gewichen sei. Die von ihm aufgefundene Biomacht etablierte sich als eine solche neue Form. Politisiert werden sollte, was bisher der Theorie nicht aber der Politik entkam: das biologische Leben. In Anlehnung an Marx schreibt Foucault seine Kritik einer politischen Anatomie der Körper. Wie viele seiner Zeitgenossen verabschiedete er sich damit vom Proletariat durch die Frage, was das Subjekt schlechthin sei und endet politisch im Unterschied zu seinen späten theoretischen Arbeiten auf der Suche nach neuen revolutionären Subjekten. Was als Kritik am historischen Subjekt der Arbeiterklasse gerechtfertigt war, stellt sich radikaler Praxis heute als Problem. Die Suche nach den favorisierten Unterdrückten bleibt bei identitärer Verpflichtung im politischen Programm stehen. Man ist es – oder nicht. Der Begriff der Klasse wird von Foucault nur nominell genannt und additiv als Vorläufer der eigenen sozialen Kämpfe geadelt. Ihm ist die Klasse nicht präsentes politisches Subjekt in der Gegenwart, sondern scheint ihre Verwirklichung schon überlebt zu haben.(5)
Die Erweiterung und Pluralisierung innerhalb konstanter gesellschaftlicher Verhältnisse soll die Unmöglichkeit gesellschaftlicher Totalität als Regulativ einholen. An den gängigen Begriffen wird kritisiert, dass sie nicht für alle gesellschaftlichen Subjekte in gleicher Weise oder überhaupt und vollständig gelten. Dadurch wird die Formulierung eines antagonistischen Verhältnisses unmöglich, sofern die Pluralisierung hofft, den Antagonismus durch identitäre Vervielfältigung aufzulösen. Der Drang zur Pluralität ist Symptom der Unmöglichkeit der Erfüllung des Zieles, mit dem das Projekt begründet worden war – gesellschaftliche Totalität. »Ideology is also the name for the guarantee that the negativity which prevents society from achieving its fullness does actually exist, that it has a positive existence in the guise of a big other who pulls the strings of social life, like the Jews in the anti-Semitic notion of the Jewish plot. In short, the basic operation of ideology is not only the dehistoricizing gesture of transforming an empirical obstacle into the eternal condition (women, blacks, [...] are by nature subordinated etc.), but also the opposite gesture of transposing the a priori closure/impossibility of a field into an empirical obstacle.«(6)
Mitchell Brothers Universe as Adultery for Fun and Profit
Die Unmöglichkeit, gesellschaftliche Totalität durch Pluralisierung zu erlangen, ist politisch das zweifelhafte Ziel, eine Totalität des Gesellschaftlichen zu konstruieren, statt die in der gegenwärtigen durchgesetzte aufzuheben. Ist je der bestimmte Begriff ungenügend, soll die Addition vieler Begriffe das Ganze fassen. In der puren Konkretisierung von ökonomischen Verhältnissen in personale Abhängigkeitsverhältnisse von Gender- und Race-Beziehungen wiederholt sich eine Identifizierung, die dem politischen Status der Arbeiterklasse von einst sehr nahe kommt. Auch diese hatte sich der Gegenwart wie Zukunft beraubt, indem sie ihre Geschichte akzeptierte. Statt zu fordern, nicht länger Arbeiter sein zu müssen, begehrten sie die Anerkennung als Arbeiter. Die Schwulenehe ist der integrative Endpunkt einer strukturell gleichen Bewegung. Ihre symbolische Politik reiht in der Gay-Parade den Wagen schwuler Polizisten wie Manager ein. Die vergessene und angegriffene Universalität als Bedingung von Emanzipation wird in dieser Kritik als selbst Partikulares (der weiße Mann) benannt und mit Partikularem aufgefüllt. Nicht die Form der Universalität und ihre Wirklichkeit wird angegriffen, sondern ihr sie bedingender Rahmen wird bestärkt durch die Erweiterung ihres Geltungsbereiches. In der Zivilgesellschaft als Leistungsgesellschaft realisiert sich – wenn auch unerwünscht – unerquicklich ihr Ziel: die gleichgültige Anerkennung von Race und Gender. Wer sich bemüht, kann »es« sein. Die sexuell oder rassisch zugeschriebene Identität bildet den neuen Füllstoff des Citoyen, der als Bourgeois zu funktionieren hat und ihm unter Umständen das soziale »Kapital« seiner Identität zubringen kann. In ihr beruhigt sich die persönliche Entscheidungsmacht im liberalen Mannigfaltigen über die Armut der Welt.
Die Klasse ist weder universaler Träger der geschichtlichen Emanzipation noch des Kapitalismus gewesen. Ihr Zweck als Selbstidentität ist Partikulares, dass das partikulare Universale des Kapitalismus durchsetzt. Die Politik der Anerkennung weist dem Partikularen seinen Platz zu. Die Pointe der Postmoderne, es ginge nicht länger um Universalität, ist so neu nicht und verleugnet den Hauptumschlagplatz ihrer eigenen wie der demokratischen Politik im Allgemeinen. Die Anerkennung bzw. Integration findet durch das partikulare Universale statt. Dieses ist nicht deshalb partikular, weil im bürgerlichen Recht nur der weiße Mann als politischer Bürger gemeint ist. Seine Qualität besteht gerade darin, das politische Subjekt formal zu bestimmen, ungeachtet seiner sozialen, geschlechtlichen und lokalen Bestimmung. Der politische Platz der Repräsentation in der Demokratie ist daher unbestimmt, er muss je neu besetzt werden. Der Streit darum ist Konstituum demokratischer Politiken, nicht ihr absoluter Mangel. Der Ausgangspunkt postmoderner Politik zeitigt deshalb eine prekäre Konsequenz für die schonungslose Kritik der hiesigen Verhältnisse. Die politische Form der Demokratie und ihre gesellschaftliche Realisierung tritt als Schwierigkeit aus dem Blick, weil beide vorab identisch gesetzt werden: Die Demokratie wird quasi feudalistisch angeschaut, insofern ihre politische Repräsentation durch ein bestimmtes Subjekt (der weiße Mann) starr besetzt sei. Aus dieser Perspektive bleibt fraglich, wie die Kritik der Demokratie und ihrer Universalität nicht zugleich immer ihren Platz verfehlt und sich – wenn auch unfreiwillig – in das hegemoniale Projekt einschließt. Class Struggle wie Gender und Race bringen in der dominanten Thematisierung von personalen Herrschaftsverhältnissen dem Kapitalismus und seiner politischen Form zurück, wovon er sich befreite: die unmittelbare statt vermittelte Herrschaft. Zweifellos sind personale Abhängigkeitsverhältnisse nicht aufgelöst, es sollte jedoch deutlich werden, dass der Kapitalismus selbst ihre Auflösung durchgesetzt hat und weiterhin anstrebt. Wie politisch darauf reagiert wird, ist nicht ausgemacht. Legt man den Schwerpunkt auf die Analyse der personalen, unmittelbaren Abhängigkeiten muss ihre Rolle in diesem Prozess fixiert werden, statt der darin liegenden Tendenz zu verfallen, die Qualität der modernen Gesellschaften zu verkennen und den Gegenstand zu verlieren. Vielleicht erläutert sich von diesem Punkt aus die Ausrichtung mancher Gender- und Race-Kritiker auf Gesellschaften, die vermeintlich akapitalistisch und traditionell organisiert seien. Hier steht unbestimmt, ob man die Ideologie des Fortschritts im Namen der Demokratie offen verteidigt, oder die besondere Vielfältigkeit und ihre Gegenbewegungen in der eigenen Gesellschaft angreift. Jede Politik wie Theorie sollte ihren Gegenstand weniger aus der Vergangenheit zur Selbstverständlichkeit erklären als ihn aktuell legitimieren können.
Wird Pluralität als politischer Andockpunkt gegen die Universalität gesetzt, gerät aus dem Blick, dass die Multiplizierung von Identitäten Resultat der gesellschaftlich durchgesetzten Universalität – politisch wie ökonomisch – ist, die den sozialen Hintergrund erst als kontingenten freisetzt. In der Oldschool-Version of Ideologiekritik (die noch jene Foucaults ist) – »überführe den Inhalt in seine historische Genese und zähle das Ausgeschlossene auf!« – wiederholt sich die Ineinssetzung des Denkens mit seinen lokalen Bedingungen, wobei zugleich die Reflexion auf das zu Rettende in der Universalität verschenkt wird. In ihr wird der emanzipatorische Gehalt der Universalität in der Wirklichkeit einer beschreibenden Geschichtsschreibung zerstört und nicht als Möglichkeit gegen sie geltend gemacht. Sammelt man in den reüssierenden Gender Studies, Postcolonial Studies etc. bloß die Phänomene von Diskriminierungen und verselbständigt diese zur universitären Disziplin, affirmiert man bereits dem Rahmen, der die »divergenten« Inhalte produziert. Die Tendenz in der Themenflut, sich in kultur- und kommunikationskritischen Einwürfen und Praxen wiederzufinden, ist ihr Resultat. Die Postmoderne versucht durch Identitäten die Einheit im Detail zu behaupten und summiert diese zum Ganzen, während der Antagonismus die Unmöglichkeit der Identität beweist. In der rassistischen oder sexistischen Identität richtet sich das Subjekt politisch nicht auf den Antagonismus – dies tut er nur als kontingentes Resultat –, sondern harmonisiert ihn in einer höheren Einheit. Da die Existenz des Arbeiters vom Kapitalisten abhängig ist, drängt er auf das Gemeinsame mit ihm. Die Nation ist das Notscharnier und Konstituum der Einheit der Gesellschaft. Sind die inneren Widersprüche ideologisch aufgelöst, obschon sie die Wirklichkeit weiterhin durchziehen, ist die Repräsentanz eines ausgeschlossenen Anderen als Stütze der Einheit unerlässlich.
Die Serie von Gender, Race und Class, formuliert z.B. in der Tripple-Oppression-Theorie, ist falsch, weil sie als Serie gleicher Elemente ihre immanente Beziehung, ihren Ausgang vom gesellschaftlichen Antagonismus nicht deutlich machen kann. Daraus folgt nun nicht die häufige unterstellte Konsequenz, es sei also gleichgültig oder sekundär, ob man Rassismus und Sexismus angreife. Im Gegenteil: Aus der Verteidigung des Antagonismus verschärft sich der Kampf gegen rassistische und sexistische Gewalt. Die Sehnsucht nach Anerkennung und das praktizierte Ausbuchstabieren von Identitäten hat entschieden andere philosophische und politische Implikationen als die Formulierung ihrer Negativität, die sie mit dem sozialen Antagonismus verknüpft und als solche geltend macht. Erstere füllt die Welt an, statt ihr den Mangel vor die Füße zu werfen. Die These wäre, dass unter der zunehmenden Ausblendung des ökonomischen Verhältnisses, der oft heftigen Abwehr von Gemeinsamkeiten im Begriff der Klasse, soll sie auf Gender oder Race bezogen werden, eine solche Positivierung der eigenen Identität notwendig statthat. Die Kritik an der hegemonialen Universalität formuliert sich darin immer von einem Standpunkt der Mannigfaltigkeit, die von jener abgeschnitten sei und sich positiv konstituieren möchte. Der darin zum Ausdruck gebrachte und seit dem Zerfall des Ostblocks forcierte »Primat der Politik« über das Ökonomische ist eine durchaus bürgerliche Forderung und bleibt es auch in der Verteidigung postkolonialer Vielfältigkeit, denn es setzt die Politik nicht über die kapitalistischen Zwänge, sondern bloß über die Arbeit. Gegen diese »community-politics« gewinnt der Arbeiter einen taktischen Funken an revolutionärer Kraft zurück.
Fußnoten:
(1) Vgl. Moishe Postone, Time, labor, and social domination, Cambridge 1996, 307: »Die Kategorie des Mehrwerts ist gewöhnlich als Anzeichen dafür verstanden worden, dass der gesellschaftliche Surplus nur aus der Arbeit stammt und nicht aus einer größeren Anzahl von Produktionsfaktoren. Diese Art der Interpretation hält daran fest, dass die einzigartige produktive Rolle der Arbeit verdeckt wird durch den Vertragscharakter der Beziehungen zwischen den nicht-besitzenden Produzenten und den unproduktiven Eigentümern im Kapitalismus. Diese Beziehungen nehmen die Form eines Austausches an, in der die Arbeiter entlohnt werden für den Wert ihrer Arbeitskraft – der geringer ist als der Wert, den sie produzieren.« (Übersetzung der Autoren)
(2) Vgl. ebd., 314: »Die Kategorie der Klasse beschreibt ein modernes gesellschaftliches Verhältnis, welches durch die Arbeit quasi-objektiv vermittelt wird.« (Ü.d.A.)
(3) Vgl. ebd., 311: »Der kapitalistische Klassenkonflikt ist, im Sinne der Kritik der politischen Ökonomie, strukturiert von und eingebettet in die gesellschaftlichen Formen Ware und Kapital.« (Ü.d.A.)
(4) Vgl. Slavoj Zizek, Class Struggle or Postmodernism? Yes, please! In: Zizek, Butler, Laclau (eds.), Contingency, Hegemony, Universality, London/New York 2000, 121: »Was im Übergang vom Standpunkt des strikten Klassenkampfs zum faschistischen Antisemitismus geschieht, ist nicht nur die Ersetzung einer Verkörperung des Feindes (der Bourgeois, die herrschende Klasse), sondern die Verschiebung von der Logik des Antagonismus, der die Gesellschaft undenkbar macht zur Logik eines externalisierten Feindes, der den Zusammenhalt der Gesellschaft garantiert.« (Ü.d.A.)
(5) Foucaults Verweise rekurrieren auf ungenannte Theorien. Die Ineinssetzung von politischer Aktion und sozialer Lokation wird bei Foucault nicht aufgehoben, sondern – z.B. Überwachen und Strafen – auf anderem Terrain umgekehrt: Die soziale Lokation macht den Widerstand unmöglich. Vgl. das Interview »In Verteidigung der Gesellschaft«, in: Dreyfus/Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt/ M. 1987.
(6) Vgl. Zizek, Class Struggle, 121: »Ideologie ist auch der Name der Garantie dafür, dass die Negativität, welche die Gesellschaft davon abhält, sich positiv zu verwirklichen wirklich existiert, dass sie eine reale Existenz in der Gestalt eines großen Anderen hat, der die Fäden des gesellschaftlichen Lebens zieht (wie die Juden in der antisemitischen Vorstellung einer jüdischen Verschwörung in der Geschichte). Kurzum, die Grundbewegung der Ideologie ist nicht nur, die dehistorisierende Geste als ein empirisches Hindernis in eine ewige Bedingung umzudeuten (Frauen, Schwarze, [...] sind von Natur aus minderwertig etc.), sondern auch die entgegengesetzte Geste, die Vertauschung der apriorischen Sperrung/ Unmöglichkeit eines Bereiches zu einem empirischen Hindernis.« (Ü.d.A.)
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