Die F-Skala

Einleitung zum Schwerpunkt

Die Beschäftigung mit dem Begriff des Faschismus ist nicht selbstverständlich, die Verwendung desselben über nahezu alle politischen Grenzen hinweg schon. Der Begriff des Faschismus bezeichnet in seiner konkreten Anwendung entweder eine historische Epoche, beschreibt eine bestimmte gesellschaftliche Struktur bzw. Formation oder dient als Negativfolie emanzipatorischen Selbstverständnisses. Kann etwas als faschistisch bezeichnet werden, das nicht in direkter Verbindung zum Original des Faschismus, dem italienischer Provenienz nämlich, steht? Ist es vernünftig, vom Postfaschismus – z.B. in Deutschland oder Österreich – zu reden, faschistische Bewegungen in Ost- und Westeuropa auszumachen oder mit dem Islamofaschismus eine neue Kategorie oder Variante des Faschismus einzuführen? Was bedeutet Antifaschismus, wenn unklar ist, was Faschismus bedeutet? Diese Fragen laufen auf eine weitere hinaus: Wofür bedarf es überhaupt eines Begriffs des Faschismus?

Faschismus bezeichnete zunächst die gesellschaftliche Mobilisierungs- und schließlich Staatsform der faschistischen Bewegung Benito Mussolinis im Italien der zwanziger und dreißiger Jahre. Als in den Dreißigern in Deutschland der Nationalsozialismus aufkam, in Portugal 1933 António de Oliveira Salazar eine Diktatur errichtete und sich daraufhin im Spanischen Bürgerkrieg der Franquismus festigte, sprach zunächst einiges dafür, die grundlegenden Strukturen jener Systeme unter einem Prinzip zu fassen: dem Begriff des Faschismus. Diese vier Systeme besaßen Gemeinsamkeiten, die darauf schließen ließen, dass Faschismus eine bestimmte Verfallsform der bürgerlichen Gesellschaft darstellte. Die Einheit aus obsessivem Nationalismus, staatlich gesteuerter bzw. protektionierter Wirtschaft, aggressivem Militarismus, moderner Massenkultur oder der Verschmelzung von Gesellschaft (Gemeinschaft) und Staat erschien als Gesellschaftsform, die weniger als Abkehr von der Moderne denn als spezifische Form der Modernisierung verstanden werden konnte. Die Zusammenarbeit Italiens, Deutschlands und Spaniens im Anti-Komintern-Pakt und die Unterstützung Deutschlands und Italiens für Franco im Spanischen Bürgerkrieg demonstrierten darüber hinaus Gemeinsamkeiten.

Der Versuch, diese Phänomene unter einen Begriff zu fassen, war aber keine Frage perfekter Begriffsbildung, mitnichten eine rein theoretische Frage, sondern einer spezifischen Angst geschuldet – der Angst, dass der Faschismus weltweit die kapitalistische Gesellschaft, ja die bürgerliche Demokratie ablösen könnte. Damit war die Angst das entscheidende Motiv, regressive und autoritäre Systeme als Gemeinsames zu analysieren, um diesem die Gesamtheit der zivilisierten, westlichen Welt entgegenzustellen. Diese Analysen wurden nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Beginn des Kalten Krieges um einen weiteren Begriff ergänzt, denjenigen des Totalitarismus. Das Konzept des Totalitarismus setzt den totalen Staat als Signum jener Epoche. Der Totalitarismus sollte den Kommunismus bzw. Stalinismus in eine Analyse der Wesensmerkmale antimoderner oder antizivilisatorischer Systeme integrieren, anstatt ihn – wie durch den Begriff des Faschismus – auszuschließen.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam diese Konzeption auf und postulierte eine bipolare Gegenüberstellung von Demokratie und totalitären Systemen, die in der Realität entlang der Konfliktlinien des entstehenden Kalten Krieges verlief, aber gleichzeitig in die dreißiger und vierziger Jahre rückverlängert wurde. Der Kampf der Alliierten gegen die Achsenmächte wurde als Kampf für die westliche Demokratie gegen deren Feinde ausgegeben, ein Kampf, der durch die Existenz des Kommunismus sowjetischer Provenienz in die Gegenwart hineinreiche.

Mathias Berek zeigt in seinem Text »Unnötig totalitär«, wie diese Totalitarismustheorie in die Welt kam und unter welchen Bedingungen sie zu einer Analysekategorie der Wissenschaft und schließlich einem probaten Propagandainstrument wurde. Dabei geht der Autor davon aus, dass der Totalitarismus-Ansatz in seiner Entstehungsphase der durchaus nachvollziehbare Versuch war, bestimmte Tendenzen des frühen 20. Jahrhunderts begrifflich zu fassen. Dennoch weist der Text nach, dass es sich beim »Totalitarismus« nicht um einen unschuldigen wissenschaftlichen Terminus handelt, sondern dass er den Bedingungen des aufkommenden Kalten Krieges entsprang und diesen ideologisch begleitete, somit vor allem als normativer Begriff zu verstehen ist. Gleichzeitig konstatiert Berek die Unhaltbarkeit des Totalitarismus-Konzepts anhand der starken Unterschiede der Systeme Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus.

Gerhard Scheit untersucht in seinem Beitrag »Zwischen Leviathan und Behemoth« die historischen Formen des italienischen Faschismus, des Nationalsozialismus und des Stalinismus. Damit verweist auch er zunächst auf die Totalitarismuskonzeption, die für die zwanziger und frühen dreißiger Jahre durchaus noch zutreffend schien. Er zeigt die Ähnlichkeiten und gegenseitigen Bezugnahmen des frühen Stalinismus und des frühen italienischen Faschismus auf. Ebenso zeigt er die lange Zeit der Sympathiebekundungen, des gegenseitigen Taktierens und der politischen Allianzen, die später noch durch die Nationalsozialisten ergänzt wurden. Und doch legt Scheit dar, dass sich die gesellschaftlichen und staatlichen Mobilisierungen und Konstitutionen deutlich unterscheiden. Damit erteilt er jeglicher Totalitarismustheorie eine klare Absage.

Dass sich auch die scheinbare äußere Stringenz der Entwicklung des weltweiten Faschismus im folgenden doch nicht halten ließ, war vor allem zwei Bewegungen geschuldet. Zunächst entwickelten sich die vermeintlichen Parade-Faschismen Italiens, Spaniens, Portugals und Deutschlands nicht parallel zueinander, sondern eher auseinander. Spätestens der nationalsozialistische Vernichtungskrieg machte den Unterschied zum italienischen Faschismus deutlich, Spanien und Portugal waren gar der italienisch-deutschen Kriegskoalition fern geblieben. Desweiteren folgten den Vorbildern praktisch keine weiteren faschistischen Staaten, sondern vielmehr die Anti-Hitler-Koalition, der Sieg über die Achsenmächte – auch als ideologischer Sieg der westlichen Demokratie bzw. Zivilisation über die Barbarei des Faschismus und Nationalsozialismus gefeiert – und schließlich die Stabilisierung der kapitalistisch-bürgerlichen Ordnung nach 1945.

Damit war aber die Diskussion um den Begriff des Faschismus und seine reale weltpolitische Bedeutung mitnichten obsolet geworden. Zwar hatte sich der Faschismus nicht durchgesetzt, das besagte aber noch nicht, dass der Sieg des Faschismus nicht vielleicht doch nur vertagt wurde. Dass der Krieg gegen die Achsenmächte als ideologischer Krieg des zivilisatorischen Antifaschismus gegen die deutsche Barbarei geführt wurde, war wohl eher dem Umstand geschuldet, dass Deutschland seinen Gegnern keine Wahl ließ und sie durch die eigene Kriegsführung und ideologische Aufladung des Konflikts förmlich auf diesen Begriff festlegte.

Warum der Begriff des Faschismus von 1920 bis 1940 relevant war, lässt sich an dem bisher Dargelegten ablesen. Die bürgerliche Gesellschaft war gerade zu Beginn dieser Zeit in eine schwere Krise geraten. Die bürgerlichen Ideale der Französischen Revolution standen ganz grundsätzlich zur Disposition, und die schwere Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre stellte auch die kapitalistische Grundlage der bürgerlichen Demokratie in Frage. Die in dieser Phase entstandenen Regime in Italien, Deutschland und Spanien wurden unter den Begriff des Faschismus gefasst, um sie als grundsätzliche Gegenbewegung zur bürgerlichen Gesellschaft und damit auch als Grenze und absolute Gefahr für diese begreifen zu können.

Auch wenn sich der Faschismus historisch nicht durchgesetzt hat, bleibt der Impuls, von einem Faschismus als begrifflichem Instrument auszugehen, bestehen. Dies ist dem Versuch geschuldet, bestimmte Phänomene wie Nationalismus, (eliminatorischen) Rassismus und Antisemitismus oder Autoritarismus, die sich in verschiedener Ausprägung durch nahezu alle Staaten der modernen kapitalistischen Ordnung ziehen, nicht als vereinzelte Spezifika nebeneinander stehen zu lassen, sondern sie auf einen Begriff zu bringen. Ließen sich diese Phänomene als Gemeinsamkeiten herausstellen, könnten oder müssten vielmehr auch deren Bedingungen aus einer z.B. nationalstaatlichen Beschränkung gelöst werden. Dann müsste man von Bedingungen ausgehen, die tiefer liegen, die vielleicht das Fundament der modernen kapitalistischen Gesellschaft betreffen.

Bereits das berühmte Diktum Horkheimers, dass, wer vom Kapitalismus nicht reden wolle, auch vom Faschismus zu schweigen habe, ist dieser Angst geschuldet – einer Angst, dass die moderne bürgerliche Gesellschaft und sogar dessen exponiertester und vermeintlich stabilster Vertreter, die Vereinigten Staaten von Amerika, vom Faschismus überrollt werden könnten und dass dieser Umschwung vielmehr noch strukturell im Kapitalismus bzw. in der bürgerlichen Gesellschaft angelegt sein könnte.

Wie sich Demokratie und Faschismus strukturell zueinander verhalten, ist daher auch weiterhin eine zentrale Fragestellung der Auseinandersetzung mit dem Faschismus. Folgerichtig sorgte das Erstarken von Naziparteien und so genannten RechtspopulistInnen in Westeuropa (Österreich, Frankreich, Belgien, Schweiz) für populäre Diskussionen über das mögliche Ende der Demokratie. Nach den Erfolgen für die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), aber auch für Parteien wie den französischen Front National, den belgischen Vlaams Belang (bzw. Vlaams Blok) oder die Schweizerische Volkspartei war sowohl die bürgerliche Öffentlichkeit als auch die europaweite Linke besorgt, ob das Ende der Demokratie und der Beginn einer modernen faschistischen Variante bevorstehe. Trotz der Konsolidierung dieser Organisationen in ihren jeweiligen Nationalstaaten und weiterer beachtlicher Erfolge auf der parlamentarischen Bühne blieb die Abschaffung der Demokratie aus. Und dennoch ist die Frage relevant, ob es sich bei den genannten Bewegungen um Phänomene handelt, die vor allem in ihrem begrenzten nationalen Rahmen zu analysieren sind, oder ob es nicht doch Gemeinsamkeiten gibt, die sich unter einen einheitlichen Begriff fassen lassen.

Thomas Schmidinger beschreibt in seinem Text »Faschismus und autoritärer Etatismus« die Demokratisierung des Faschismus und die Konvergenz von autoritärem Etatismus der Demokratie und demokratischem Faschismus. Dass Demokratie und Faschismus sich partiell aufeinander einlassen können, heißt für Schmidinger jedoch nicht, dass die Demokratie unbeschadet aus dieser Allianz hervorgeht, sondern dass ihre Grundbedingungen ausgehöhlt werden.

Ganz ähnliche Bedingungen macht Andreas Umland im heutigen Russland aus. In seinem Text »Russischer Nationalismus, post-sowjetischer politischer Diskurs und die neue faschistische Gefahr« beschreibt er die Konstellation aus Elite und Mob. Die neuen Nazibewegungen und die politische Führung treffen sich nach Umland in ihrem Verständnis von nationalen Wurzeln und nationaler Überlegenheit. Die nationale Identitätsbildung in der postsowjetischen Ära ruft ähnliche Ideen auf beiden Seiten hervor. Dennoch gibt es verschiedene Vorstellungen von nationaler Homogenisierung und Stabilisierung der russischen Identität, die keine genauen Prognosen über den weiteren Verlauf der faschistischen Mobilisierung zulassen.

In welcher Weise sich der Faschismus-Begriff heutzutage vernünftigerweise verwenden lässt, fragt Volker Weiß in seinem Text »Zustand mit Lücke«. Er benennt dabei einige Tendenzen der aktuellen Faschismusforschung, um sie vor allem danach zu befragen, wie sie den faschistischen Gehalt moderner Systeme wie dem des Islamismus verstehen. Der Faschismustheorie geht es nach Weiß darum, den Faschismus vor allem als ein bestimmtes System zu betrachten, das sich nicht historisch erledigt habe, sondern Aufschluss über die moderne Gesellschaft bieten könne. Die Analyse historisiere den Faschismus nicht, sondern betrachte ihn als präsentes Gegenstück zur bürgerlichen Gesellschaft. Dennoch seien ihr vor allem zwei wesentliche Auslassungen zu attestieren. Zwar versteht sie die Moderne als Grund und Ursache des Faschismus, sie lässt die ökonomische Sphäre, die Bedeutung der kapitalistischen Produktion jedoch weitestgehend außen vor. Außerdem vernachlässige sie die Rolle des Mythos im Faschismus. Der Mythos ist nach Weiß ein wesentliches Element des Faschismus, der den Verlust traditioneller Religionen als eine säkulare, politische Variante derselben ausgleicht. Nur weil die Faschismustheorie die Bedeutung des Mythos verkenne, könne sie auch den Islamismus nicht als moderne Form eines religiösen Faschismus begreifen.

Phänomenen, die unter dem Begriff des Faschismus subsumiert werden, stellt sich eine gemeinsame Antiposition gegenüber. Die Analyse oder auch nur Vorstellung von einem – wie auch immer – ausgeprägten faschistischen Impuls, einer faschistischen Bewegung oder der Gefahr des nationenübergreifenden Faschismus ist das Fundament einer emanzipatorischen, antifaschistischen Linken. Auch wenn nach 1945 am Faschismus als konsistentem, selbstevidentem Analysekriterium nicht mehr festgehalten werden konnte, bot die Vorstellung der Gemeinsamkeit verschiedener faschistischer Bewegungen, Organisationen und Staaten weltweit auch die Möglichkeit, eine gemeinsame Gegenposition des Antifaschismus zu postulieren. Der Antifaschismus verstand sich somit nicht als Summe vereinzelter Phänomene, für die sich Organisationen und Bewegungen verantwortlich zeichneten, sondern als Teil eines weltweiten Kampfes für die Emanzipation und gegen die Regression und Barbarei.

Bis heute machen diese beiden Komponenten einer Faschismustheorie deren Reiz bzw. deren Relevanz aus. Gibt es eine faschistische Übereinstimmung und vielmehr noch eine faschistische Tendenz der modernen kapitalistischen Gesellschaft? Und gibt es darauf aufbauend eine gemeinsame antifaschistische Gegenbewegung in emanzipatorischer Absicht?

Die Gruppe MAD Köln beschreibt in ihrem Text »Tabus und zweifelhafte Erfolge« die Schwierigkeiten, nicht der dichotomen Logik anheimzufallen, dass die Feinde der Feinde die eigenen Freunde sind. Wie reagiert man angemessen auf die rechte Mobilisierung gegen ein islamisches Zentrum bzw. eine islamische Moschee, ohne sich auf die Seite des Islam selbst zu schlagen?

Der Schwerpunkt dieser Ausgabe untersucht den Faschismus als historische Epoche und als strukturellen Begriff. Er fragt nach der Relevanz für heutige Analysen und danach, ob es angemessen ist, diesen Begriff auf Phänomene, die nur bedingt mit seiner historischen Figur korrespondieren, zu übertragen. Gleichzeitig geht er der Frage nach der Verbindung von Demokratie, bürgerlicher Gesellschaft und Faschismus nach und versucht »Erscheinungen« wie Islamismus, »Rechtspopulismus« und osteuropäischen Nationalismus darauf hin zu untersuchen, ob sie mit den Begriffen der Faschismustheorie zu fassen sind.