»Die Geschichte des Holocaust wird mittlerweile in Polen geschrieben«

Jan T. Gross ist Professor für Geschichte an der Princeton University. Mit seinen Büchern Nachbarn. Der Mord an den Juden von Jedwabne und Fear. Antisemitism in Poland after Auschwitz, in denen er die polnische Beteiligung an Pogromen gegen Juden und Jüdinnen aufzeigt, löste er in Polen eine gewaltige Debatte über die polnische Vergangenheit aus. Sein neuestes im März 2011 erschienenes Buch Golden Harvest (Goldene Ernte) thematisiert wie Polinnen und Polen während und nach dem Zweiten Weltkrieg vom Holocaust profitierten und sich am jüdischen Eigentum bereicherten.

Die Phase 2 sprach mit dem Autor über die Ursachen und die Entwicklung der polnischen Debatte.

Phase 2: Im Jahr 2001, also vor genau zehn Jahren, erschien Ihr viel beachtetes Buch Nachbarn, das in Polen für eine große Debatte über das polnisch-jüdische Verhältnis gesorgt hat. Inzwischen haben Sie mit Fear und nun Golden Harvest zwei weitere Bücher zu dieser Thematik veröffentlicht und wieder gab es einen Aufschrei der Entrüstung. Erneut wurde Ihnen vorgeworfen als ausländischer, jüdischer Historiker dem Ansehen Polens schaden zu wollen. Ebenfalls in diesem Jahr wurde der polnische Pavillon bei der 54. Biennale in Venedig von der israelischen Künstlerin, Yael Bartana gestaltet, die sich explizit der jüdischen Vergangenheit Polens widmet. Dies deutet darauf hin, dass sich im jüdisch-polnischen Verhältnis in den letzten Jahren einiges gewandelt hat. Wie schätzen Sie die Entwicklung der Debatte ein?

Jan T. Gross: Es gibt eine große Veränderung innerhalb der Debatte. Dies ist nicht zuletzt an der Dauer der jeweiligen Diskussionen erkennbar. Mit dem Erscheinen von Nachbarn gab es über mehrere Monate eine hitzige Debatte. Als Golden Harvest dieses Jahr in Polen erschien, dauerte die Debatte in den großen Medien gerade einmal zwei Wochen an. Die polnische Öffentlichkeit scheint sich an die Vorwürfe, dass sich einige Polinnen und Polen unter der deutschen Besatzung an antijüdischen Pogromen beteiligten und aus dem Holocaust bewusst Profit schlugen, gewöhnt zu haben. Insofern ist ein fundamentaler Wandel zu beobachten. Heutzutage gibt es eine ganze Reihe renommierter HistorikerInnen, die sich mit der Rolle der Polen und Polinnen unter der deutschen Besatzung, also mit der Peripherie des Holocaust auseinandersetzen und die zu ähnlichen Ergebnissen kommen, wie ich sie in meinen Büchern vorstelle.

Drei Wochen bevor Golden Harvest veröffentlicht wurde, sind zwei sehr wichtige Bücher zu demselben Thema publiziert worden. Alle drei Bücher wurden in gewisser Hinsicht zusammen diskutiert. Dies wäre vor zehn Jahren, selbst noch vor vier Jahren als Fear erschienen ist, nicht zuletzt aufgrund des Mangels an Publikationen, unvorstellbar gewesen. Inzwischen gibt es eine Gruppe von exzellenten Forschern am Polish Center for Holocaust Research, die regelmäßig Bücher zum Holocaust veröffentlichen und auf deren Arbeit sich auch mein jüngstes Buch stützt. Die Geschichte des Holocaust wird mittlerweile in Polen und von polnischen AutorInnen geschrieben.

Phase 2: Es ist unübersehbar, dass inzwischen eine ganze Reihe von Publikationen zur Rolle der Polinnen und Polen während des Holocaust erscheinen, doch keines dieser Bücher sorgt für ähnlich viel Aufsehen wie Ihre Publikation. Wie ist dies zu erklären?

Jan T. Gross: Erst einmal gibt es gewisse HistorikerInnen, die mich bereits seit Nachbarn vehement kritisieren und sich auch gegen die Fakten andere Forschungen versperren. Außerdem nehme ich inzwischen in Polen in gewisser Weise die Rolle eines Skandalautors ein. Alles was ich schreibe wird skandalisiert, immer wenn ich etwas veröffentliche, gibt es einen Sturm der Entrüstung innerhalb der Mitte-Rechten und rechten Öffentlichkeit. Die Ursache hierfür ist unter anderem darin zu suchen, dass ich einen für polnische HistorikerInnen ungewohnten Schreibstil verwende.

Unter polnischen HistorikerInnen dominiert ein stark positivistisches Wissenschaftsverständnis. Das bedeutet, dass kaum über die reine Wiedergabe von Fakten hinausgegangen wird, dass Interpretationen keinen Raum finden. Ich widersetze mich dieser Tradition, denn ich stamme aus der angelsächsischen Wissenschaftstradition, die eine völlig andere Art zu Schreiben mit sich bringt. Viele Polinnen und Polen verstehen dies als Provokation.

Phase 2: In Deutschland war etwas Ähnliches bei der Goldhagen-Debatte zu beobachten. Auch dort wurde der angelsächsische Schreibstil als eine Provokation verstanden und auch dort kam es zu einer kontroversen Debatte über die Aufarbeitung der Vergangenheit. Braucht es möglicherweise eine solche Schreibweise, die jenseits des Fachpublikums auch eine breitere Öffentlichkeit anspricht, um derartige Debatten auszulösen?

Jan T. Gross: Ich mag den Vergleich mit Goldhagen nicht, da dieser, meiner Meinung nach, Thesen aufgestellt hat, deren einziges Ziel die Provokation war. Dennoch scheint es so, als ob es dieses Schreibstils bedürfte, um solche Debatten auszulösen. Ich habe vor Nachbarn eine Reihe von »positivistischen« wissenschaftlichen Artikeln veröffentlicht, die keinerlei Aufmerksamkeit erregten. Erst mit Nachbarn, das in der angelsächsischen Schreibtradition steht, geriet die Debatte in Fahrt. Ich denke, die Ursache für die große Debatte ist eine Mischung aus den schockierenden historischen Fakten und meinem Schreibstil.

Phase 2: Nach der Publikation von Nachbarn, Fear und Golden Harvest haben Sie jeweils eine Lesereise durch Polen gemacht. Wie unterscheiden sich Ihre persönlichen Erfahrungen auf den jeweiligen Reisen.

Jan T. Gross: Wie ich bereits sagte, hat sich die Debatte stark verändert. Die historischen Fakten, dass auch Polinnen und Polen sich am Töten von Juden und Jüdinnen beteiligt haben, sind innerhalb der allgemeinen HistorikerInnenzunft nicht mehr umstritten, sondern weitestgehend anerkannt. Natürlich gibt es auch unter diesen HistorikerInnen Diskussionen über die Wissenschaftlichkeit meiner Publikationen und über den Stil, in dem ich die Fakten darlege, aber die Fakten selbst werden nicht infrage gestellt. Das ist der große Unterschied zwischen den Veranstaltungen zu Golden Harvest und denen zu Nachbarn oder auch Fear.

Phase 2: Sie sprechen von der Reaktion der Historikerzunft, aber wie ist die Reaktion der breiten Öffentlichkeit? Anlässlich Ihrer Lesungen zu Nachbarn kam es immer wieder zu lautstarken Auseinandersetzungen, Sie wurden des Öfteren angeschrien und persönlich beleidigt. Kam es zu ähnlichen Vorfällen auf der letzten Lesereise zu Golden Harvest?

Jan T. Gross: Die polnische Gesellschaft ist in vielen Punkten grundlegend gespalten. Natürlich gibt es die Rechts-Konservativen, die durch die Tageszeitung Rzeczpospolita repräsentiert werden und die meine Thesen als Lügen und als Manipulation der öffentlichen Meinung zu diffamieren versuchen – und ich rede hier nicht von den Rechts-Nationalisten, für die ich ohnehin der personifizierte Teufel bin. Diese konservative Gruppe ist relativ groß und sie werden auch weiterhin in diesen Kategorien denken. Aber es gibt auch einen großen Bevölkerungsteil, der eine andere Position vertritt. In Polen gibt es eine gesellschaftliche Polarisierung in allen Bereichen und diese wird auch innerhalb der Vergangenheitsdebatte repräsentiert. Die konservativen Gruppierungen kann und werde ich niemals überzeugen können, aber sie sind nur ein Teil der polnischen Öffentlichkeit. Insgesamt sind die Reaktionen auf Golden Harvest nicht mit denen auf Nachbarn zu vergleichen, denn es war ein viel geringerer Skandal.

Phase 2: Aber in Deutschland gab es ein recht großes Medienecho auf die Veröffentlichung von Golden Harvest.

Jan T. Gross: Das gab es 2001 bei Nachbarn auch. Ich hab den Eindruck, dass die deutsche Öffentlichkeit insgesamt relativ wenig Interesse an der Untersuchung der Holocaust-Peripherie hat. In Deutschland gibt es ein großes Interesse an der deutschen Geschichte – andere Länder und ihre Rolle im Holocaust scheinen dabei nicht zu interessieren. Als ich Nachbarn in Deutschland veröffentlichen wollte, hat mich mein deutscher Verleger immer und immer wieder gefragt: »Sind Sie sich sicher, dass die Deutschen nicht beteiligt waren. Können Sie nicht noch die Beteiligung von Deutschen mit einbauen?«

Phase 2: Unser Eindruck geht genau in eine entgegengesetzte Richtung: In Deutschland wird die Beteiligung anderer Nationen am Holocaust immer mehr in den Fokus gerückt. Nicht nur in rechten Kreisen stößt dieses Thema auf ein großes Interesse, denn es ermöglicht eine Relativierung der historischen Schuld ohne an den Fakten rütteln zu müssen.

Jan T. Gross: Ich verfolge die deutsche Rezeption und Diskussion kaum und kann deswegen wenig dazu sagen. Generell lässt sich für die Holocaustforschung feststellen, dass die Beteiligung anderer Nationen am Holocaust verstärkt ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Zu Beginn der Forschung stand die deutsche Vernichtungsmaschinerie stärker im Fokus, auch ich habe zunächst dazu geforscht. In den letzten Jahren hat sich dies aber verschoben. In vielen Ländern wird nun mehr zum Antisemitismus in den jeweiligen Ländern geforscht. Schließlich gab es in den meisten europäischen Ländern vor dem Krieg größere Bevölkerungsgruppen, die ihre Juden »loswerden« wollten. Damit ist nicht gemeint, dass sie sie ermorden wollten oder dass es mit der Situation in Deutschland zu vergleichen wäre, aber eine gewisse Judenfeindschaft konnte man in vielen Ländern beobachten und dies wird in den letzten zehn bis zwanzig Jahren stärker herausgearbeitet. Die Verschiebung des Forschungsinteresses ist also nicht nur ein deutsches sondern ein allgemeines Phänomen.

Phase 2: Sollte eine deutsche Übersetzung von Golden Harvest erscheinen, würden Sie für das deutsche Publikum eine zusätzliche Einleitung schreiben, die auf die Debatte der deutschen Schuld gesondert eingeht?

Jan T. Gross: Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Bei Nachbarn gab es eine solche Einleitung und ein extra Schlusswort von Adam Michnik. Ich denke bei Golden Harvest wäre dies aber nicht nötig, denn in dem Buch betone ich an vielen Stellen, dass der Holocaust von den Deutschen geplant und durchgeführt wurde. Mein Buch lässt in diesem Punkt keinen Spielraum für Interpretationen und insofern halte ich eine gesonderte Einleitung dazu für unnötig.

Phase 2: Sie erwähnten bereits, dass Sie den Vergleich mit Daniel Goldhagen nicht mögen, ich würde aber dennoch gerne darauf zurückkommen. Vergleicht man nämlich die Goldhagen-Debatte mit der Gross-Debatte in Polen, erkennt man eine Reihe von Analogien: Sie wurden wie schon Goldhagen zuvor für Ihre angebliche Unwissenschaftlichkeit angegriffen, Sie beide wurden als Fremde und vor allem als Juden dargestellt, die aufgrund der jüdischen Herkunft bezüglich des Holocaust überhaupt nicht objektiv sein könnten. In Deutschland konnte man anhand der Debatte einen guten Eindruck davon erhalten, wie es um den aktuellen Antisemitismus in Deutschland bestellt ist. Wie schätzen sie dies für Polen ein?

Jan T. Gross: Zu diesem Vergleich kann ich wenig sagen, denn ich kenne die Vorwürfe, die Goldhagen gemacht wurden nicht genau. Aber in Polen gibt es viele Stimmen, die sagen, dass solche Bücher nur von Outsidern geschrieben werden können. Damit meinen sie nicht Juden und es ist nicht antisemitisch gemeint, sondern eine Analyse der Situation. In gewisser Hinsicht teile ich diese Meinung. Es ist leichter, eine kritische Perspektive auf einen Gegenstand zu entwickeln, wenn man nicht eng mit ihm verbunden ist. Dadurch, dass ich nicht mehr in Polen lebe und aus einer anderen Wissenschaftstradition stamme, konnte ich womöglich eine andere Perspektive auf die polnische Geschichte einnehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich die Bücher geschrieben hätte, wenn ich noch in Polen leben würde. Alleine der Fakt, dass man finanziell und institutionell unabhängig ist, erleichtert einiges bzw. macht eine kritische Betrachtung vielleicht erst möglich. Natürlich gibt es auch Personen, die die jüdische Herkunft antisemitisch gegen einen wenden, sie sind allerdings ein marginales Problem und interessieren mich nicht weiter.

Phase 2: Vielen Dank für das Interview.