Die Grenzen des Antirassismus

ein Beitrag zum Scheitern der Forschungsgesellschaft Flucht und Migration anhand einer kritischen Lektüre ihrer Schriften.

Die Forschungsgesellschaft Flucht und Migration (FFM)(1) ist seit 1994 eine angesehene antirassistische Institution aus dem autonomen Spektrum, die sich auf die Kritik des Grenzregimes konzentriert. Ihre Analysen, entfaltet in den Heften „Gegen die Festung Europa“, enthalten etliche Schwachstellen. Schon lange vor Erscheinen des Buches Empire (Hardt/Negri)(2) wird bei der FFM davon gesprochen, dass die „Migrationsbewegungen aus den verarmten Ländern der drei Kontinente (...) defensive und revolutionäre Triebkräfte“(3) enthalten würden. Als das Empire Ende 1999 in Form des deutschen Repressionsapparates zuschlug und einen FFM-Mitarbeiter wegen Verdacht auf ehemalige Mitgliedschaft in den Revolutionären Zellen, die seinerzeit auch große Hoffnungen auf das revolutionäre Subjekt Flüchtling setzten, festnahm, schien das Ende von FFM besiegelt. Der revolutionäre Wunschtraum lebt allerdings - und verstärkt durch das Buch Empire - in der antirassistischen Szene fort, genauso wie die Buchreihe von FFM weiter erscheint.
 

Der hoffnungsvolle Beginn

Bei der Gründung von FFM im Jahre 1994 stand die Erkenntnis über die Mängel der autonomen Flüchtlingsarbeit im Mittelpunkt: Bei der aufreibenden Flüchtlingssozialarbeit und den kurzatmigen Kampagnen bleibt kaum Zeit für Analysen, Aktionen, Öffentlichkeitsarbeit, langfristige Strategien, überregionale und internationale Vernetzung sowie den Blick über den Tellerrand. Die Spezialisierung auf die Asylberatung ist zum einen besser bei den karitativen Organisationen aufgehoben, wird zum anderen immer obsoleter, je mehr die Festung Europa die Einreise verhindert bzw. die Illegalisierung fördert. Der Ansatz von FFM war, Recherchen in den osteuropäischen Staaten vorzunehmen, die bei der Vorverlagerung der Abschottung zunehmend ins Visier der MigrationsstrategInnen gerieten. Außerdem wollte sie internationale Kontaktnetze aufbauen und die Kämpfe der Flüchtlinge unterstützen. Sie stellte ihre Arbeit explizit in den Dienst der MigrantInnen und der antirassistischen Gruppen. Die Hoffnung war, dass die Recherchen zu Grenzabschottung und Fluchtrouten Flüchtlingen direkt zu Gute kämen sowie von antirassistischen Gruppen bei der Asylberatung und im Kampf gegen Abschiebungen (z.B. mittels der Informationen aus den „sicheren“ Drittstaaten) genutzt werden könnten. Die Form von FFM, die Institution der Forschungsgesellschaft, sollte durch den seriösen Anstrich auch Außenwirkungen über den autonomen Bereich hinaus ermöglichen.(4)

In den ersten Jahren war FFM mit ihrer Arbeit sehr erfolgreich. Ihre Mitglieder waren die ersten und einzigen, die sich mit den migrationspolitischen Verhältnissen in Osteuropa beschäftigten. Ihre detaillierten Vorort-Recherchen deckten zum einen Entwicklungen auf, die selbst in den bürgerlichen Medien erfolgreich als unmenschlich skandalisiert werden konnten und für politischen Wirbel sorgten, zum anderen trugen sie umfangreiche Materialien zum Thema zusammen, die den Begriff der Festung Europa fundierten und weitere Analysen und Standortbestimmungen der antirassistischen Bewegung ermöglicht hätten. Sie bauten in Zusammenarbeit mit autonomen und bürgerlichen Gruppen in Grenznähe die Dokumentationsstelle Menschenrechtsverletzungen an der Grenze auf und beteiligten sich aktiv an der Vorbereitung und Durchführung der ersten antirassistischen Grenzcamps.(5) Ihre Artikel erschienen sowohl in linken als auch in bürgerlichen Medien und FFM war die erste Adresse, wenn „Fachleute“ für Vorträge oder Diskussionen zum Thema Grenzkontrollen, Bundesgrenzschutz, europäische Harmonisierung des Asylrechts, Schengen, Grenzregime, Asylpolitik in Osteuropa uvm. benötigt wurden. FFM beschäftigte sich 1994 mit diesen Themen, als sie aktuell und viele Entwicklungen erst am Entstehen waren, wobei sich der ganze Prozess in einer juristischen Grauzone bewegte; außerdem ließ sich das antikommunistische Eintreten für Reisefreiheit bis 1989 und die panische Verhinderung der Migration aus den ehemaligen realsozialistischen Staaten nach 1989 propagandistisch ausschlachten. Das ist inzwischen anders. Die Vorverlagerung der Abschottung ist Normalität und bei Ländern angelangt, von denen der „gesunde Menschenverstand“ weiß, dass es schon seine Richtigkeit hat; die entsprechenden EU-Papiere sind alle im Internet nachzulesen und die bürgerliche Öffentlichkeit interessiert sich überhaupt nicht mehr dafür. Die aktuellen FFM-Recherchen taugen maximal noch als Länderstudien für die Asylarbeit.

Obwohl sie es sich außer in einem Interview(6) nie öffentlich eingestanden, war die direkte Unterstützung der Flüchtlinge durch die eigenen Recherchen und die internationale Vernetzung nicht so erfolgreich, wie man es sich anfangs erhofft hatte. Im schlechtesten Fall dürften die Erkenntnisse von FFM (und anderen auf dem Gebiet tätigen antirassistischen Gruppen) ungewollt ebenso zur Flüchtlingsabwehr beigetragen haben, wie die Aufklärungskampagnen der Bundesregierung über die Schwierigkeiten, die vielen Schutzwälle der Festung Europa zu überwinden.

Anfänglich fühlte sich FFM noch einem Trägerkreis, der aus der bundesweiten Vernetzung autonomer Flüchtlingsgruppen entstanden war, verpflichtet - davon und von der damit einhergehenden spezifischen Arbeitsweise wurde sich zum Glück schnell verabschiedet. Von den vielen falschen autonomen Prämissen, die im folgenden beschrieben werden, konnte sich jedoch, trotz einiger Fortschritte (z.B. dem Lösen von der Fixierung auf die Flüchtlinge, die nach Asyl nachsuchen, hin zu allen Formen der Migration), nie vollständig gelöst werden.

Es gibt zwei klassische antirassistische Denkstrukturen, die sich mustergültig auch bei FFM wiederfinden. Die eine besagt, dass es wichtig ist, gegen Rassismus vorzugehen, da die Herrschenden an Flüchtlingen das austesten würden, was sie dann gern auf die gesamte Gesellschaft anwenden wollen. Der Mythos von der gleichen, höchstens zeitlich versetzten Betroffenheit speist seine Kraft aus dem Gedicht „Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen (...) Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte“ von Martin Niemoeller und verdeckt die Tatsache, dass die Gesellschaft an den Flüchtlingen ihren Rassismus auslebt. Das Asylbewerberleistungsgesetz ist eben nicht in erster Linie ein Probelauf für den Sozialabbau gegenüber deutschen Arbeitslosen, sondern ein Abschreckungsinstrumentarium der Festung Europa, das garantieren soll, dass es selbst den deutschen Arbeitslosen weiterhin relativ gut gehen wird.

Ein Mitarbeiter vom FFM äußert sich in einem Interview über den bei FFM geprägten Begriff „Grenzregime“, der alle rassistischen Normierungs- und Disziplinierungsprozesse (Heimunterbringung, rassistische Attacken von Nazis etc.) enthalten soll: Das „Beunruhigende“ sei „die Frage nach der Übertragbarkeit (...) in andere Gebiete der Gesellschaft“.(7) Die Zwischenüberschrift lautet dann sinnigerweise: „Die Grenze ist ein Laboratorium“.

Das zweite Denkmuster will in den Flüchtlingen das neue revolutionäre Subjekt entdeckt haben. Zum einen wird behauptet, dass das Kapital keine Migration wolle und deswegen Migration per se widerständige Praxis sei. Dies ist natürlich Unsinn, denn schließlich bringt das Kapital die Migration, wie wir sie heute kennen, erst hervor (und zwar nicht nur in ungewollten, sondern auch in gewollten Ausprägungen), profitiert von der Beweglichkeit der Ware Arbeitskraft und versucht, die Migrationsströme in seinem Interesse zu regulieren und zu kontrollieren. Das widerständige Moment der Migration besteht höchstens darin, dass sie - im Gegensatz zur Bewegung toter Waren - sich nicht völlig der Logik des Kapitals unterwirft, sondern eine gewisse Autonomie bewahrt - wie ja auch die menschliche Arbeitskraft unberechenbarer ist als eine Maschine. Niemand kommt aber auf den Gedanken, allein aufgrund der Unberechenbarkeit Vulkanausbrüchen und Erdbeben zu revolutionären Objekten, auf die sich alles Hoffen und Sehnen bezieht, zu verklären - obwohl diese, im Gegensatz zur Migration, vielleicht eher geeignet wären, als widerständige und nicht zu normierende Kräfte die herrschende Ordnung zu erschüttern. Die andere Begründung für die Avantgarde-Rolle der Flüchtlinge bezieht sich auf deren schlechte materielle Situation als Grundlage ihrer Kämpfe und ihren Mut, der sich daraus speist, dass sie nichts zu verlieren haben. Dies ist zwar für sich richtig, und die Existenz der diversen Flüchtlingsorganisationen stimmt hoffnungsvoller als z.B. der Besuch bei einem deutschen Kleingartenverein, allerdings resultiert aus dem Elend und den Kämpfen, die sich in erster Linie um die minimale Verbesserung der eigenen Situation drehen, weder revolutionäres Bewusstsein noch eine entsprechende Praxis. FFM macht sich selbst klein und überhöht die „anderen“: „Wir müssen von denen ausgehen, die vor dem Nichts stehen. Wir können nur unterstützen, was von diesen Menschen alles an Kämpfen und Durchsetzungsmöglichkeiten neu erfunden wird.“(8) Die Hoffnungen auf die Widerständigkeit der Migrierenden zieht sich durch alle Texte. So sei das Scheitern des Zuwanderungsgesetzes vorprogrammiert, „wenn man sich die Eigenwilligkeit der MigrantInnen und Flüchtlinge ansieht.“(9) Und auch in Bosnien gilt: „Die Kämpfe werden nicht auf sich warten lassen“, was man schon daran erkennen könne, dass das Rote Kreuz angegriffen wurde, weil es das Flüchtlingsmanagement übernommen hat.(10)

 

Das trübe Ende

Die Flüchtlingsfrage „ist Teil eines globalen Klassenkampfes und Ausdruck eines vom imperialistischen Weltsystem gesetzten Widerspruchs, der ein Proletariat neuen Typs hervorbringt; die mobilisierten, vertriebenen, entwurzelten Massen der 3. Welt. So wie die Flüchtlingsbewegungen die Grenzen zwischen dritter und erster Welt überschreiben, muß heute der antiimperialistische Kampf auf die Metropole zurückbezogen werden.“(11) schrieben die Revolutionären Zellen im Rahmen ihrer Flüchtlingskampagne in den achtziger Jahren.

Die postmoderne Version dieser Illusion, die lediglich die Begriffe, z.B. Proletariat durch Multitude, ausgetauscht und in die völlige Unbestimmtheit entlassen hat, liest sich dann bei Hardt/Negri im Empire so: „Die neue transversale Mobilität der disziplinierten Arbeitskraft ist deshalb von Bedeutung, weil sie auf den Wunsch nach Freiheit verweist, der real und machtvoll auftritt, und auf die Herausbildung eines neuen, nomadischen Begehrens, das nicht innerhalb des Disziplinarregimes eingeschlossen und kontrolliert werden kann“(12). Die Migration ist nach dieser Logik eine machtvolle und spontane Form des Klassenkampfes, die zwar meist in Armut und Elend münde, trotzdem einen hohen Preis für das Kapital habe, nämlich „den wachsenden Wunsch nach Befreiung“.(13)

Während die Kampagne der RZ bei all ihren theoretischen Schwächen noch die theoretische und praktische Gegnerschaft zu den bestehenden Verhältnissen auszeichnet, steht bei Empire die Schönfärberei und Affirmation im Mittelpunkt: die Multitude, zu der auch die Intifada gezählt wird, ist „vollkommen positiv“, weil in ihr der Widerstand „zu Liebe und Gemeinschaft“ wird.(14) Philosophische Begriffe, wie das metaphorisch und nicht geographisch gemeinte „nomadisches Begehren“ von Deleuze/Guattari, werden entwendet, um sich einen wissenschaftlichen Anstrich zu geben. Gleichzeitig ist die Verwendung dieses Begriffes ein Hohn auf die bittere Realität, in der Menschen gezwungen sind, zu flüchten. Die Freiwilligkeit der Bewegung existiert nur bei denen, die es sich leisten können, eine Pauschalreise nach Mallorca oder Marokko zu buchen - besonders subversiv sind diese Reisen aber ebenfalls nicht; in der Regel wächst im Urlaubsparadies nicht der Wunsch nach Befreiung, sondern die Einsicht in die Notwendigkeit der Verhältnisse und bei der (durch die Sklaven des örtlichen Dienstleistungssektors unterstützten) Reproduktion der Arbeitskraft verfestigt sich das rassistische Klischee.

Das „wahre Empire“ hingegen, der bürgerliche Staat namens BRD, verfolgt leider keine schlechte Theorie - ganz im Gegenteil: das Buch Empire wird selbst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gefeiert -, sondern lediglich militante Aktionen. So kam es am 19. Dezember 1999 zu einer Durchsuchung des Mehringhofes in Berlin (dort befindet sich u.a. das Büro von FFM) wegen des Verdachts auf Lagerung von Sprengstoff und zu mehreren Verhaftungen von vermeintlichen Mitgliedern der Revolutionären Zellen/Rote Zora. Die Tatvorwürfe waren zwar allesamt verjährt, die Aussagen des Kronzeugen Tarek Mousli reichten aber für die Ermittlungen nach §129a StGB (Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung) aus. Da unter den Verhafteten und Angeklagten ein Mitarbeiter von FFM war, konzentrierte sich deren Arbeit auf die Freilassungskampagne und Prozessbeobachtung.(15) FFM trat somit nach 1999 kaum noch öffentlich in Erscheinung. Bei der Buchreihe „Gegen die Festung Europa“ fungiert FFM inzwischen nur noch als Herausgeberin. Die Texte stammen vornehmlich von FremdautorInnen. Dies kann auch seine Vorteile haben. Im Heft 7 zum Kosovo befinden sich zwei sehr lesenswerte Aufsätze(16) von Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken, die die Verknüpfung der rot-grünen Kriegsführung mit der neuen Migrationspolitik untersuchen, allerdings das Dilemma im vorderen Teil nicht wett machen können. Dort schreiben die FFM-Mitarbeiter Helmut Dietrich und Harald Glöde, dass die kosovo-albanische Bevölkerung aufgerieben wurde zwischen den gleichermaßen bösen Akteuren NATO und serbische Armee, wobei ersterer bevölkerungspolitische Ziele hatte, während letztere eine Lagerpolitik durchsetzen wollte. Die Entscheidung zum Krieg gegen Jugoslawien wurde angeblich in den USA aufgrund geostrategischer Interessen gefällt, während die BRD unter Druck gesetzt wurde mitzumachen - dann den Krieg aber nutzte, um neue Konzepte der heimatnahen Fluchtabwehr auszuprobieren.(17)

Seit 2001 ist FFM auch nicht mehr publizistisch aktiv. Die letzte Aktion war ein Kinospot gegen die „Deutsche Leitkultur“-Kampagne der CDU, der zusammen mit fünf weiteren Organisationen aus dem entwicklungspolitischen Bereich erstellt wurde und zu dessen Begründung es verharmlosend heißt: „Die Dumm- und Dumpfheit einer Deutschen Leitkultur ist vernachlassungswürdig im Angesicht der Kulturlosigkeit und Menschenunwürdigkeit im Umgang mit Flüchtlingen und MigrantInnen.“(18)

 

Die Erweiterung des revolutionären Subjekts

In dem neuesten Heft (Nr. 9) schreiben Salvatore Pittà (Solidarité sans frontières - Schweiz) und Anja Zickuhr (FFM) über die Flüchtlingssituation in Marokko. An sich kein uninteressantes Thema, immerhin ist die Meerenge von Gibraltar ein vielbefahrener und gleichzeitig der tödlichste Streckenabschnitt der europäischen Außengrenze. Marokko ist sowohl ein wichtiges Ausgangs- als auch Transitland für Flüchtlinge, so dass die EU 1999 einen besonderen „Aktionsplan für Marokko“ zur Migrationsverhinderung aufgestellt hat.(19) Das Spannendste am ganzen Buch ist allerdings ebenjener, eigentlich langweilige EU-Plan.

Im Vorwort wird den marokkanischen MigrantInnen, die trotz der Illegalisierung weiterhin nach Europa kommen, eine „außerordentliche Hochachtung“ ausgesprochen: „kaum eine andere Gruppe oder gesellschaftliche Schicht hat es in den letzten zwanzig Jahren geschafft, dem Staat und seiner gesellschaftsformierenden Kraft so stark und nachhaltig entgegenzutreten.“ (S. 7) Dass es nun grad die MarokkanerInnen sein sollen, würden Hardt/Negri zwar nicht unterschreiben, aber die darauf folgende Passage scheint direkt von ihnen abgeschrieben zu sein. „Transationale Netze“ hätten die Herrschaft übernommen, die jedoch die Festung Europa nie abdichten und die „Wünsche nach einer besseren Zukunft“ nicht befriedigen oder unterdrücken könnten. „Neue Kämpfe um Legalisierung und neue ungenehmigte Einwanderungen stehen bevor.“ (S. 8)

Die AutorInnen selbst sind mit ihrem Engagement bescheidener. Sie schlagen zur Verwendung ihrer Studie zuallererst die „rechtliche Argumentation“ vor, dass Marokko kein sicherer Drittstaat sei. Allerdings sind sie auch der Auffassung, dass „sich mit der Migration aus Marokko zu beschäftigen“ heißt, „die Geschichte zahlreicher Revolten, Aufstände und Kämpfe für eine Gesellschaft ohne Kolonialismus, ohne Ausbeutung und ohne Herrschaft wahrzunehmen“ (S. 10). Das liest sich dann im Buch so: „Die Überfahrt dauerte vier Tage. Ich hatte nur eine Flasche mit einem halben Liter Wasser bei mir und vier Sandwichs, die leider ins Meer gefallen sind. Das Wasser war nach zwei Tagen alle, und ich habe Hunger bekommen. Ich habe etwas Riskantes gemacht, nämlich in den Schiffskabinen nach Essen gesucht und bin auf einen großen Kühlschrank gestoßen, aus dem ich mir Wasser und Essen herausgenommen habe. Und Allah sei gedankt, die Reise ging gut zu Ende und nichts Ärgerliches ist passiert.“ (S. 102) Oder: „Und an normalen Tagen bettle ich und sammle ungefähr fünfzehn Dirham (1,50 Euro) und kaufe mir davon Klebstoff und Zigaretten. Ich verbrauche vier Tuben pro Tag, wovon eine vier Dirham kostet.“ (S. 92)

Da aber die Revolution kurz bevorsteht, wird all dies Elend gesühnt werden: „Dass Menschen zu Tausenden im letzten Jahrzehnt bei ihrer Flucht über die Meerenge von Gibraltar umgekommen sind, wird eines Tages als Massenverbrechen gewertet werden.“ (S. 11) Floskelhaft endet das Vorwort, ohne dass klar wird, was damit eigentlich gemeint ist: „Die Hoffnung auf eine andere Gesellschaft - davon ist seit Seattle und Genua erfreulicherweise wieder häufiger die Rede - bleibt dann nicht nur eine Parole auf einer Demonstration, wenn es gelingt, die diversen Alltagskämpfe mit dem Widerstand gegen die internationale Flüchtlingspolitik miteinander zu verbinden.“ (S. 11)

Ob eine andere Welt wirklich möglich ist, wenn als Fluchtursache der „Ausverkauf der heimischen Rohstoffe an multinationale Konzerne“ (S. 17), als Ursache für die Arbeitslosigkeit der autokratische und monarchistische Regierungsstil (S. 24) oder als Grund für die Destabilisierung der „traditionellen Dorfökonomie“ und somit der Migration die „US-amerikanischen Agarkonzerne“ (S. 72) ausgemacht werden, bleibt fraglich. Schließlich mündet diese „Analyse“ ganz schnell in ein Plädoyer für einen starken Nationalstaat, der seine Untertanen selbst ausbeutet und aufgrund seiner „demokratischen“ Effizienz noch mehr Arbeitslosigkeit schaffen wird.

Da das revolutionäre Potential der MigrantInnen nicht auszureichen scheint, widmet sich das Buch ausgiebig der Situation von (Straßen-)Kindern und Frauen. Es werden einerseits Seitenweise ganz krasse, lähmende Opfergeschichten dokumentiert, welche lediglich aus marokkanischen Studien abgeschrieben sind. Andererseits wird den NGO\'s, die diese Fälle aufgeschrieben haben und die Menschen betreuen, eine karitative Sichtweise vorgeworfen, die nicht den „Blick auf die Potentiale der Frauen, die eben nie nur Opfer sind“ richtet. Diese Einschätzung folgt unmittelbar auf das Schicksal von „Anne Marie (...) Vor vier Jahren wurde sie nach Casablanca geflogen, um ihre schweren Verletzungen behandeln zu lassen, die sie bei einem Bombenattentat(20) in ihrem Büro in Brazzaville erlitten hatte. In Casablanca wurde sie mehrmals an Bein und Auge operiert. Ein Mitarbeiter der Caritas fand Anne Marie in der Psychiatrie vor, wo sie in einem ›elenden Zustand‹ daniederlag. Sie konnte nicht mehr gehen, wurde schlecht ernährt und kaum noch gewaschen“ (S. 75f.) Zum Glück kümmerte sich der karitative Mann um sie, der dafür sorgte, dass sie gesund zurück zu ihrer Familie kam, anstatt an eine deutsche Revolutionsromantikerin zu geraten, die sich nicht um die Wunden, sondern um die Potentiale der Frau gekümmert hätte. Nämlich das Potential ganz subversiv in die Festung Europa einzudringen.

Wir erfahren in dem Buch viele vermeintlich wichtige Fakten (z.B. dass „auf Grund der unterschiedlichen klimatischen Verhältnisse sich der Norden auf den Anbau von Erdbeeren und der Süden vorwiegend auf Tomaten und Zitrusfrüchte spezialisiert“ hat, S. 73) und biographische Details (z.B. dass Mohamed früher „auf eine Koranschule gegangen“ ist, wo ihm Beten und Anstand beigebracht wurde - deswegen lässt er sich auch von Nonnen und einem Pater nicht sexuell missbrauchen, obwohl es seine finanzielle Lage verbessern würde, S. 94ff.) - eine Analyse der Verhältnisse, die diesen Namen auch verdient, und ein Aufzeigen von Widerstandsperspektiven, die über die Konstruktion von revolutionären Subjekten hinausgehen, finden aber nicht statt.

 

Die Hefte der FFM sind bis Nr. 7 als PDF-Dokumente unter: www.ffm-berlin.de/deutsch/hefte/hefteindex.htm einsehbar.

 

Fußnoten:

(1) www.ffm-berlin. de

(2) Toni Negri und Michael Hardt, Empire, Frankfurt/M. 2002.

(3) Heft 1, S. 5. Hier der erste Satz in dem Buch, in den anderen Heften taucht er in ähnlicher Form immer wieder auf. (Zu den genauen Titelangaben der Reihe siehe die Bibliographie am Ende des Textes.)

(4) Vgl. Interview in Arranca 11/1997.

(5) Zu den Grenzcamps siehe Phase 2, 01/2001.

(6) Vgl. Arranca 11/1997.

(7) Aus off limits 24/1998, S. 10-11.

(8) Ebd.

(9) Aus Jungle World, 21/2001.

(10) Ebd.

(11) Zitiert nach Klarofix 3/2000, S. 51.

(12) Negri/Hardt, Empire, S. 264.

(13) Vgl. a.a.O., S. 225 und 264.

(14) Vgl. a.a.O., S. 368.

(15) siehe die extra eingerichteten Internetseiten zum Prozess: www.freilassung.de

(16) Beide sind allerdings schon in der jungle World (16.06.1999, 08.09.1999) erschienen.

(17) Heft 7, S. 11 f.

(18) www.ffm-berlin.de/deutsch/projekt/leitkultur_index.htm

(19) Es existieren für folgende Regionen solche Aktionspläne: Afghanistan/Pakistan, Albanien/Kosovo, Marokko, Somalia, Sri Lanka, Irak/angrenzende Länder. Der Aktionsplan Marokko ist im Heft 9, der für Irak im Heft 7 dokumentiert

(20) auch ein revolutionärer Akt?



Bert Cindie
Antirassistischen Gruppe Leipzig