Die Grünen

Moderne Volkspartei ohne soziales Gewissen

Modernisierung hat nicht nur ein industrielles Design. Der Aachener Karnevalverein verlieh den Orden »Wider den tierischen Ernst« zum ersten Mal an einen Grünen: Cem Özdemir! Der Moderator sprach von drei Premieren. Er sei ein Grüner, ein Muslim und: »Seine Vorfahren kommen nicht aus Deutschland.« Ein türkischer Muslim auf einem deutschen Saufgelage – darüber können Frohnaturen mit polnischen Vorfahren sich kringelig lachen. Özdemir holte seine Frau auf die Bühne, weil alle mal sehen sollten, dass sie keine Burka trage. Ahhh! Als sie vom Orden gehört habe, sei ihr erster Gedanke gewesen: »Ich brauche einen Termin beim Frisör und ein neues Kleid.« Applaus! Die ist ja wie wir; und gut hat sie’s bei uns. Der Oberbürgermeister nannte Cem scherzhaft »Schang« – wegen China, das ihm genauso fremd vorkommt. Özdemirs Büttenrede soll gut gewesen sein, trotzdem hat man den Witz: »Mit der Beschneidung verhält es sich wie mit der FDP, der Nutzen ist umstritten«, aus der TV-Fassung entfernt. Wohl wegen der FDP, denn der Präsident des Vereins ist der FDP-Chef von Aachen-Land. Im Elferrat sitzen der Direktor der Deutschen Bank, ein Spediteur, ein Ingenieur vom Energiekonzern und Herr Flegel, der Inhaber von »Brille am Markt«. Ein Karnevalsverein ist kein Think-Tank für Geostrategie, aber ein inte­grierter Muslim passt zum arabischen Raum, wo Deutschland sich nach dem schleichenden Abschied der USA als neue Bündnismacht anbietet, und ein Grüner passt zur Energiewende.

Damit sind wir im politischen Alltag angekommen. Bei der »grünen industriellen Revolution« gehe es »um enorme Investitionen«, sagt Kerstin Andreae, die Sprecherin für Wirtschaft in der grünen Bundestagsfraktion. Das Fraunhofer-Institut habe berechnet, »dass wir allein für die Energiewende rund 233 Milliarden Euro Investitionen brauchen. [...] Wir brauchen deshalb neue Ansätze, wie wir privates Kapital mobilisieren können.« Man wolle »die besten Lösungen realisieren« und »Unternehmen Planungs- und Investitionssicherheit bieten«, müsse »für Verbraucher die Schwelle für einen nachhaltigen Lebensstil senken«. Jeder und jede Einzelne habe »zum Wandel beizutragen«. Grüne Gesellschaften »sollen privates Kapital einsammeln und damit Investitionsprojekte abwickeln«. Andreae stellt die Grünen vollständig in den Dienst der neuen Techniken und der Kapitalinteressen; ihre Worte offenbaren ein kaltes, technokratisches Menschenbild. Der Mensch kommt nur verdinglicht vor, als Verbraucher_in, Finanzierer_in, Dingwesen einer Volksgemeinschaft im Dienst des neuen Akkumulationstyps, der – wie jeder andere auch – zunächst einen höheren Investitionsbedarf hat, der zu Lasten des Konsums geht.

Die Bedeutung der Grünen für die industrielle Revolution

Der Aufstieg der Grünen basiert auf der Gleichzeitigkeit verschiedener Faktoren: das Bewusstsein, das die Atomkraft ablehnt und heute von Kindesbeinen an die Müllordnung als Elixier aufsaugt; Veränderungen im Welt-Kapitalismus, auf die Deutschland reagieren muss; ein grünes Konzept, das der nationalen Industrie Aufträge verschafft und die Profitrate durch Konsumbeschneidung nicht belastet. Hinzu kommt ein seltenes Privileg. Die Grünen sind eine Volkspartei, die im Unterschied zu den anderen großen Parteien, keine Rücksicht auf soziale Belange nehmen muss, die soziale Kälte und eine neue Kapitalethik, die die regenerative Industrie mit einem neuen Weltrettungsmythos versieht, verknüpfen kann, ohne Wähler_innen zu verlieren. Nur zehn Prozent der grünen Anhänger_innen gehören zum Proletariat, die anderen sind vor allem gut situierte Angestellte, Beamte und Beamt_innen, Selbstständige, Freiberufler_innen und Wissenschaftler_innen.

Die grüne Propaganda, deren Glaubwürdigkeit auf der Zusage beruht, die Welt zu retten, hat einen bedeutenden Anteil daran, dass die Vergesellschaftung der Modernisierungskosten als Volksaufgabe wahrgenommen wird – wie bei der freiwilligen Feuerwehr. Auch dass der zentrale Widerspruch, also die Ausbeutung der Arbeits- und Lebenskraft, aus den Köpfen verschwindet und Konflikte nur in der Distribution wahrgenommen werden, wo Emanzipation zu einer Verpackungsaufschrift oder Pfandflasche verkommt, ist Verdienst der Grünen. Ein alter Genosse stand am Leergutautomaten des Supermarktes und sagte, eines müsse man den Grünen lassen, leere Flaschen seien aus dem Straßenbild verschwunden. Dann redete er sich in Rage über schmuddelige Stadtbilder. Der Mann ist kein Sonderfall. Durch die Grünen wächst eine neurotische Volksgemeinschaft für Sauberkeit, Ordnung, Sanierung, Gesundheit und Verbraucherverantwortung heran. Die Verachtung von armen Kindern hat viel damit zu tun, dass Kinder gut situierter Öko-Familien Spielzeug und Lebensmittel, die im Ökotest nicht gut abgeschnitten haben, unmoralisch finden.

Das Dorf Jühnde in Süd-Niedersachsen ist ein Labor der grünen Gemeinschaft, in der die Individuen ihre Bevormundung für einen höheren Zweck hinnehmen. In der Vorzeige-Biogemeinde, die von Energiewendetourist_innen aus aller Welt besucht wird, gibt es Biogasanlagen, Holzhackschnitzelheizungen, Solardächer, Energiebauern; eine Photovoltaikanlage und ein Windpark auf dem Hügel sind geplant. Woanders würden Menschen sich freuen, wenn der Umweltminister den Strom durch eine Kostenbeteiligung der Öko-Profiteure verbilligen will, aber Heiko Lohrengel (SPD), der Geschäftsführer der Informations- und Bildungseinrichtung »Centrum Neue Energie«, befürchtet, dass die Maßnahme sein Dorf gefährde: »Nur wenn der Strompreis hoch ist, gibt es einen Anreiz zum Stromsparen und Klimaschutz!« Die Energiewende sei »ein Gemeinschaftsprojekt«, sagt er, »in Jühnde ziehen alle Bürger und alle beteiligten Institutionen an einem Strang.« Auch Eon macht mit: »Wir haben uns längst auf die Energiewende eingestellt« und investieren in ein intelligentes Netz. Wer die Wohnung nicht mehr bezahlen kann, verlässt das Dorf. Die marktwirtschaftlich gelenkte Demokratie könnte in Kombination mit grüner Selbsterziehung so effektiv sein, dass der Bevölkerung die Ökodiktatur erspart bleibt.

Die grüne industrielle Revolution ist vor allem die Folge großer Veränderungen im Weltkapitalismus und deutscher Besonderheiten. Die Hälfte der Menschheit befindet sich auf dem Weg zur größten Industrialisierung der Geschichte. Das Investitionsvolumen und die Warenproduktion verdoppeln sich alle 15 bis 20 Jahre. Drei Milliarden Menschen warten auf ein Auto. Die Angleichung der Verkehrsdichte ist auf bisheriger stofflicher Basis kaum zu bewältigen, die Schadensbilanzen durch die Erderwärmung, die Gewinnung von Öl und Gas in riskanten Regionen und Tiefen, Atomkatastrophen und die Kosten der Atommüll-Entsorgung belasten die Profitrate. Umweltkatastrophen drohen Weltkonzerne in den Abgrund zu reißen, wie die BP, die 40 Milliarden Dollar für einen Meeresschaden aufbringen muss. Unter diesen Umständen wird die Umstellung auf Elektromobilität (E-Autos, E-Bikes, E-Kapseln auf Schienen und an Seilen), auf Solar-, Wind- und Bioindustrie und den Anbau von Treibstoffpflanzen an Stelle der Lebensmittelpflanzen unausweichlich sein.

Als rohstoffarmes Land kann Deutschland durch den Einstieg in die regenerative Industrie seine Abhängigkeit vom Ausland verringern und dazu neue Märkte erobern. Die Bandbreite erstreckt sich von der Gebäudesanierung bis zu Solar- und Windfabriken in der Sahara. Der Ausstieg aus der Atomkraft ist insofern konsequent, als sie eine völlig unrentable Produktion ist. Sie basiert bereits auf einer politischen Entscheidung und der Finanzierung durch die Gemeinschaft, ihre Verlängerung würde durch die kostspielige und nicht akzeptierte Entsorgung ein Endlosproblem darstellen. Obendrein hat die Katastrophe in Japan vor Augen geführt, dass die Atomkraft eine verdichtete Industrienation aufs Spiel setzen kann. In dieser Situation wollte Angela Merkel nebenher verhindern, dass die Grünen auf 30 Prozent kommen. Also gab sie über Nacht bekannt, dass es nun um die »Modernisierung unseres Landes« und die deutsche »Technologieführerschaft« in der Welt gehe.

Die Bedeutung der Grünen wächst mit der Wichtigkeit des Staates in Zeiten technischer Erneuerung. Der Staat hat als ideeller Gesamtkapitalist Modernisierungen zu arrangieren und dabei die Interessen der verschiedenen Kapitalfraktionen zu harmonisieren, also den Mangel des Einzelkapitalisten auszugleichen, der erst reagiert, wenn seine Profitrate sinkt oder die Konkurrenz ihn zurückgeworfen hat. Wie der Staat bei der Finanzierung der Eisenbahn und der Atomwirtschaft half, so wälzt er heute die Kosten für Wind- und Solarfabriken, für Speicher und neue Stromnetze auf die Bevölkerung ab. Dabei wird die grüne Modernisierung alles andere als sanft sein. Sie wird Wälder, Äcker und Meere industrialisieren und die Welt nach Kupfer, Eisen und Seltenen Erden umgraben. Auf dem Land wachsen industrieller Acker- und Waldbau, Tourismus, sportive Anlagen, Stromspeicher- und Immobiliengewerbe zu einem neuen industriellen Komplex zusammen. Für das Land war früher allein die CDU zuständig, heute stellen die Grünen die meisten Landwirtschaftsminister. Wenn man einen Blick auf neue Offshore-Windparks, Kabelstrecken und Stauseen für die Stromspeicherung wirft, mutet es ulkig an, wenn Politiker, die als Anhänger des Atomkapitalismus wirkliche Fortschrittsfeinde sind, den Grünen Technikstau vorwerfen.

Rückblick

Die Diagnose, dass Franzosen die Technik lieben und Deutsche eher den Wald, war von Anfang an falsch. Die Deutschen waren immer stolz auf Autobahnen, V2-Raketen, Mercedes-Silberpfeile, Atomkraft und Chemisierung, ersetzten Antikmöbel durch Plastikmöbel und bewunderten die Ästhetik des Atompilzes. Der hoch gelobte Göttinger Appell der 18 Wissenschaftler, darunter Carl Friedrich von Weizsäcker, Werner Heisenberg und Otto Hahn, gegen die atomare Bewaffnung der Bundeswehr vom 12. April 1957 pries die Atombombe als Beitrag der »westlichen Welt gegen den Kommunismus« und für »Frieden und Freiheit«. Sie waren nur dagegen, dass »ein kleines Land wie die Bundesrepublik« sie bekäme. Die »friedliche Verwendung der Atomenergie« wollten sie sogar »mit allen Mitteln fördern«. Die deutsche Industrie und die Gewerkschaften vergötterten die Atomtechnik bis in die jüngste Zeit.

Mit der Anti-Atombewegung Mitte der 1970er Jahre kam es dann zu einem scheinbaren Bruch des Fortschrittsglaubens. Die Ausbreitung des kritischen Öko-Bewusstseins basierte auf der Erkenntnis, dass industrielle Stoffe Krebs erzeugen und Regionen auf Jahrtausende unbewohnbar machen können sowie der Entscheidung von Linken, die nach 1968 den Zug ins System bewusst ausgelassen hatten und nicht an der DDR hafteten, in ihrer Massenpolitik auf Bürger_inneninitiativen zu setzen. Kommunist_innen, Anarchist_innen, Spontis und Sozialist_innen, dazu ihre jungen Sympathisant_innen und Verwandten schlüpften in die Rolle aufgebrachter Bürger_innen, stellten zur Tarnung drei Pastoren in die erste Reihe, rissen Zäune vor Atomanlagen ein, schlugen Polizist_innen in die Flucht und predigten industrielle Alternativen. Sicher gab es auch »Waldschrate« und Anhänger des naturbelassenen Lebens, aber wirklich fortschrittsfeindlich war die Bewegung überwiegend nicht. Auf Veranstaltungen kurvten von Glühbirnen betriebene Spielzeugautos, an Wandtafeln hingen Zeichnungen von Lastenseglern, für jede Industrie gab es ein schadstoffarmes Substitut. Der Bewegung wohnte die Dialektik von Widerstand und Reparatur inne. Als der Widerstand an Kraft verlor, blieb die Reparatur, die von einer Partei wie den Grünen besser wahrgenommen werden kann als von Leuten, die Zäune zersägen. Im Unterschied zu den damaligen »Inis« sind Bürger_inneninitiativen heute echt.

Doch bald nach der Gründung der Grünen stellte sich heraus, dass viele Linke die Partei nur als letzten Zug ins System nutzen wollten. Hinzu kam, dass von außen ein dichtes Mediennetz die Kritik des Systems in die Ecke des fundamentalen Wahnsinns rückte und das Bewusstsein der meisten grünen Wähler_innen soweit unten war, dass es ihnen genügte, wenn die CDU nicht regierte. Der Gedanke, dass die Verbesserung der Lebensumstände erkämpft werden muss, dass sie nichts mit Regierungskoalitionen zu tun hat, sondern der Preis ist, den die Herrschenden zahlen, um Abtrünnige ins System zurückzuholen, kam nicht an – wohl auch deshalb nicht, weil die Wähler_innen in Ruhe gelassen werden wollten. Der Wunsch der grünen Mehrheit, den deutschen Kapitalismus regierend verwalten zu dürfen, drückte die Bereitschaft aus, ihm im In- und Ausland dienen und sich dem Status Quo unterwerfen zu wollen.

Politische Ökologie und Kommunismus

Die radikalen Linken, die daraufhin aus den Grünen austraten, haben damit einen Beitrag zur Politikfähigkeit der Grünen geleistet. Sie sorgten zunächst für das Ausscheiden der rechten Ökologen und öffneten dann mit ihrem Austritt die Partei für industrielle Alternativen, wodurch sie für Sozialdemokraten wählbar wurde und sich sozialdemokratisierte. Gleichzeitig sorgten die späteren Abtrünnigen durch ihre Radikalität und die Negation der Regierungsverantwortung für schlechte Wahlergebnisse, was sich anschließend wandelte.

Für diese Linken (Ökosozialist_innen, Radikalökolog_innen) war die Wahlbeteiligung kein Selbstzweck, sondern Mittel für die Bewusstseinsveränderung in der Gesellschaft und den Aufbau einer Partei, in der Inhalte des Widerstands überdauern sollten, statt mit dem Auf und Ab der Bewegungen verloren zu gehen. Ansätze einer antikapitalistischen Gesinnung, die sich in Forderungen nach alternativer Produktion und Gebrauchswerten finden, sollten verschmelzen mit dem Streben nach einer demokratischen Betriebsorganisation, umfassender Emanzipation und radikaler Demokratie, wie sie in der Forderung nach offenen Grenzen für Flüchtlinge zum Ausdruck kam.

Die politische Ökologie – verstanden als Beziehung des Menschen zu seiner Umwelt – wäre bei Kommunisten in den richtigen Händen. Die kapitalistische Form der Naturumwandlung ist die diktatorisch organisierte Arbeit, die Tag für Tag die Zerstörung des Natur- und Solidarverhältnisses des Menschen reproduziert. Der Marktdarwinismus, der – dem Faschismus ähnlich – das Unproduktive durch die Selektion nach »stark« und »schwach« ausmerzt, ist das Gegenmodell zur bewussten und solidarischen Regelung der Naturumwandlung, die die Aneignung der Produktionsmittel voraussetzt. Dem Kapitalismus und der Naturwissenschaft bedeuten Leben und Tod nichts. Für die Profitmaximierung kann der Tod von Arbeiter_innen sinnvoller sein als die Investition, die rücksichtsvoll mit dem Leben verfährt. Als »Tschernobyl« in die Luft flog, mussten mehrere hunderttausend todgeweihte »Liquidatoren« Aufräumdienste leisten.

Der Kapitalismus legt los, sobald Profit winkt, ohne Spätfolgen zu kalkulieren. Keine wissenschaftliche Erkenntnis kann die Radioaktivität gefahrlos machen. Mit der aktuellen »Fracking«-Methode, die in zweitausend Meter Tiefe Öl und Gas freilegt, wird die Verseuchung des Grundwassers der USA in Kauf genommen. »Gegenüber der Natur, wie der Gesellschaft, kommt bei der heutigen Produktion vorwiegend nur der erste, handgreifliche Erfolg in Betracht; und dann wundert man sich noch, dass die entfernteren Nachwirkungen [...] ganz andre, meist ganz entgegengesetzte sind«, analysierte Friedrich Engels, und Karl Marx wies auf die Dialektik hin, dass der Kapitalismus zwar die gesellschaftliche Bewegungskraft anhebt, gleichzeitig aber »nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses« entwickle, die »zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« Jede Modifikation der Produktion und der sozialen Lage ist das Ergebnis einer neuen Schadensbilanz, die Umweltkatastrophen und soziale Aufstände berücksichtigt.

Die Ruinierung der Springquellen des Reichtums ist der rationale Kern des grünen Aufstiegs. Die Grünen können den Konflikt jedoch nicht lösen. Da der Kapitalismus expandiert oder zugrunde geht, gibt es immanent nur eine Antwort auf Naturkatastrophen: die nächste Industriestufe. Die von den Grünen favorisierte »ökologische« Marktwirtschaft verhält sich besonders perfide, insofern sie das Leben ruiniert und sich gleichzeitig als Rettungsdienst anbietet. Sie wird, wenn der Meeresspiegel steigt, dem reichen Land Deichanlagen, schwimmende Städte und Fabriken verkaufen und in Bangladesch oder Afrika Millionen Menschen dem Meer überlassen. Die Grünen haben darauf zu achten, dass das deutsche Kapital bei der Auftragsvergabe nicht zu kurz kommt und die Kosten für die Umstellung der Produktion auf Deichbau und schwimmende Transportsysteme sozialisiert werden.

Wie konnte es nur soweit kommen?

Warum ist es mit den Grünen soweit gekommen? In der Frage schwingt die Unterstellung mit, es sei ausnahmsweise mit den Grünen so gekommen und nicht mit allen anderen auch. Johannes Agnoli stellt in seinem Buch »Die Transformation der Demokratie« richtig fest, dass die Utopie der Gesellschaft der Freien und Gleichen (Marx) nicht als Gesetzesvorlage eingebracht werden könne, reduziert die Integrationskraft des Systems aber auf »die Reintegration der autonom gewordenen Gesellschaft in den Staat, die zweifellos einen Sieg des parlamentarischen Regimes und des Parteisystems gegen verändernde Umtriebe darstellt«. Autonome Szenen fanden das theoretisch attraktiv und waren so intensiv damit beschäftigt, vor dem Parlamentarismus gefeit zu sein, dass sie hundert andere Fangarme des Systems übersahen – die meisten sind beruflich und familiär. So wie die Apo mit ihrer Kritik am Muff unter den Talaren ihre eigene Karriere meinte, wurden Aktivist_innen, die sich vom Parlament nicht vereinnahmen ließen, nach ihrem Examen Ingenieur_innen, Ärzte und Ärztinnen, Manager_innen, Verbraucherexpert_innen, Professor_innen, TV-Expert_innen, Finanzberater_innen, Künstler_innen, Designer_innen oder Erben bzw. Erbinnen. Sie legten sich ein Solardach zu, boten esoterische Erbauungsreisen an und schoben Modell-Kinderwagen durch die Straßen. Für viele Ehemalige sind die korrekte Warenkennzeichnung, Einhaltung der Müllordnung und Mehrwegflaschen der Kompromiss zwischen der Familiengründung mit Reihenhaus und ihrem schlechten Gewissen.

Früher waren sie junge Aktive, heute bilden sie gemeinsam mit den Grünen das Rückgrat des Staates im Beamtenapparat, in Lehr- und Forschungseinrichtungen, Firmen und Institutionen. Sie sind das innovative Fundament des Systems, das unaufhörlich wächst. Jeder fünfte Mensch mit Abitur, aber nur drei Prozent der Hauptschüler_innen sind Anhänger_innen der Grünen. Da Gebildete später höhere Ämter bekleiden und Einkommen beziehen und als Kinder gut situierter Familien mehr Geld, Immobilien und Geschäfte erben als andere, hat die grüne Basis ein materielles Interesse daran, den Kapitalismus vor Schäden zu bewahren. Soziale Zugeständnisse gefährden nicht nur den Aufbau der grünen Industrie, sondern auch das eigene Vermögen. Beides macht diese Schicht resistent gegenüber Armut. Um den, der bei der Luxusmodernisierung nicht mithält, sollen sich andere Parteien kümmern. Renate Künast sagte zum Pferdefleischskandal: Die Verbraucher_innen müssen wissen, dass sie zu niedrigen Preisen keine guten Lebensmittel erwarten können.

Der Aufstieg der Grünen wird nicht zuletzt durch die Leere der Linken begünstigt. In einem längeren Prozess schmolz Links-Sein zum Mindestlohn, der die Knechtschaft voraussetzt, zusammen – wahlweise plus Antisemitismus und Antiamerikanismus. Schon vor der Wiedervereinigung trug die Propaganda von der Globalisierung zur Auslöschung des Subjekts bei. Es wuchs die Schicksalsgemeinschaft, die sich gegen globale Machenschaften, amerikanische Shareholder und vagabundierende Finanzen wehren müsse, heran. Linke Theorien trugen zur Entmaterialisierung der Welt bei, indem sie Analyse durch globale Wucherungen oder die Schimäre von der Auflösung des warenproduzierenden Systems ersetzten, obwohl nichts so blüht wie eben dieses. Die Friedensbewegung reaktivierte den Opfermythos der Deutschen. Mit der deutschen Einheit wuchs die Suche nach einer deutschen Identität, die stets auf die pathische Abgrenzung hinausläuft. Als die Massen im Osten zur D-Mark wollten, schien die Marktwirtschaft nicht mehr nur die beste aller schlechten Welten zu sein, sondern die einzige Welt. Soziale Befreiung wurde nun als Relikt eines falschen Menschheitsbildes aus vergangenen Epochen interpretiert, Linke wollten die islamische Welt mit dem Marktdarwinismus beglücken und das Aushängeschild der Partei Die Linke, Sarah Wagenknecht, drückt heute in jeder Rede ihre Bewunderung für Ludwig Erhard aus.

~ Von Rainer Trampert. Der Autor ist Publizist. Kürzlich erschien von ihm »Kahlfraß. Die deutsche Exportindustrie setzt verstärkt auf außer­europäische Märkte« (Konkret 3/2013).