Die Klagen der Mindermacht

Deutschland und die NATO

Mit dem Afghanistankrieg erscheinen die inneren Widersprüche des transatlantischen Bündnisses in einer anderen Perspektive. In Deutschland wächst nun die Sorge, dass man auf dem selbstgewählten Weg der militärpolitischen Konkurrenz zur US-amerikanischen Hegemonie unter die Räder gerät. Während ein Konzept deutscher Außenpolitik auf die Vorteile einer untergeordneten Weltmacht setzt, kann eine aggressivere Variante auf den weitverbreiteten Antiamerikanismus setzen.
 

The new german issue: Save the NATO

Die Deutschen beschweren sich. In persona ihres Außenministers gab die Bundesregierung zu verstehen, dass sie sich nach dem 11. September eine stärkere Rolle der NATO gewünscht hatte. Am amerikanischen und britischen Widerstand sei dann aber eine aktivere Politik der Allianz gescheitert, die sich beispielsweise in der Planung für die internationale Sicherheitstruppe (Isaf) in Afghanistan hätte niederschlagen können. Die aus der „Süddeutschen Zeitung“ (15.05.02) abgelesene Klage ist beileibe kein Einzelfall.

In der „FAZ“ weiß man um die Sorge Fischers, die Erweiterung der NATO könne in Widerspruch zu einer Stärkung Europas in der Außen- und Sicherheitspolitik Europas stehen („FAZ“, 14.0502) und im besagten Organ (29.05.02) stößt der Generalmajor a.D. Jürgen Reichhardt, ehemaliger Chef des deutschen Heeresamtes ins selbe Horn. Durch die weltweite „selektive Terrorbekämpfung“, die im Gegensatz zu „elementaren deutschen Interessen“ stünde, sieht er gar den Niedergang der NATO begründet.

Hinter der sich immer öfter manifestierenden Angst, die transatlantische Verteidigungsgemeinschaft könne einen Bedeutungsverlust erleiden, steckt die Befürchtung, dass die Deutschen damit ihren eigenen Einfluss auf die Gestaltung der internationalen Beziehungen in starkem Maße einbüßen. Oder mit den klaren Worten des wohl auch deshalb beliebtesten deutschen Politikers gesagt, dass „uns in zehn Jahren einfach gesagt wird, wo es lang geht“ („SZ“, 04.06.02).

Auch bei Subtraktion der Paranoia, die Deutschlands Macht im Vergleich zu seinen Konkurrenten immer unterlegen sieht, ist das befürchtete Szenario kein reines Wahngebilde. Mit dem „Krieg gegen den Terror“ haben die USA nicht nur ihre, auf militärischer Überlegenheit fußende, weltpolitische Dominanz bestätigt, sie haben gleichfalls deutlich gemacht, welcher reale Stellenwert den Interessenkonstellationen der EU- und NATO-EuropäerInnen zu kommt. Obwohl die NATO nach den Anschlägen des 11. September den Beistandsfall ausgerufen hatte, fand der Kriegseinsatz „gegen den Terror“ außerhalb der Bündnisstrukturen statt. Und auch wenn argumentiert werden kann, dass heute zwei Drittel der NATO-Staaten in Afghanistan präsent sind und dort de facto mehr europäische als amerikanische Bodentruppen stationiert sind, ändert dies nichts an der Tatsache, dass Europa kaum Einfluss auf strategische Entscheidungen nehmen kann. Schon die Beteiligung alliierter Truppen an der „Anti-Terror“-Koalition vollzog sich nicht nach den Maßgaben einer multilateral abgestimmten Politik. Vielmehr buhlten die europäischen Länder um eine Beteiligung am Kriegseinsatz und versuchten sich mit ihren Angeboten von militärischen Kapazitäten, die für die eigentliche Kriegsentscheidung nicht einmal notwendig waren, gegenseitig zu überbieten. Man muss darin nicht - wie ein Kommentator der „Zeitung für Deutschland“ - die „Wiederauferstehung der Nationalstaaten“ und ihrer Kriege „nach dem Muster des Krimkrieges von 1853“ entdecken („FAZ“, 12.12.01). Richtig ist aber, dass die Anstrengungen, eine „gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) voranzutreiben, einen Dämpfer erhielten.

Enttäuschend war dies nicht nur für konservative MachtrealistInnen, die sich von der GASP mehr Einfluss auf die NATO und ganz allgemein einen weltpolitischen Handlungszuwachs versprechen, der sie nicht nur auf dem südosteuropäischen Vorhof mitentscheiden lässt. Betroffen waren vor allem die IdeologInnen, welche aus einer umfassenderen weltanschaulichen Grundhaltung darüber frohlockten, dass eine europäische Militärmacht die „angloamerikanische Weltordnung“ („TAZ“) in Frage stellt. Vor diesem Hintergrund einer selbstgewählten Konfliktstrategie sah man die NATO in der Krise, ja sprach sogar von ihrem in Kauf zu nehmenden Ende.

Nach dem die USA im Zuge des „Krieges gegen den Terror“ den Fahrplan der kommenden Weltordnungspolitik alleine festlegten, macht sich nun nach und nach Ernüchterung und Enttäuschung breit. Im offiziellen Organ des deutschen Parlamentarismus resümierte man den neuen Stand anlässlich des Bush-Besuches noch ein wenig verwundert: „Erstaunlicherweise spielt derzeit im transatlantischen Verhältnis die Verwirklichung einer europäischen Verteidigungs- und Sicherheitspolitik mit eigener Europatruppe keine Rolle mehr. Gab es darüber noch vor zwei Jahren Ärger mit der Clinton-Regierung, sieht Präsident Bush in dieser Initiative keine Herausforderung. Denn die Europäer sind weder technisch, noch finanziell, geschweige denn politisch in der Lage, mit solchen Visionen die NATO kaltzustellen. Vielmehr hat der weitgehende Alleingang der Amerikaner in Afghanistan gezeigt, dass die Weltmacht den von den NATO-Mitgliedern erklärten „Bündnisfall“ gar nicht brauchte – und vielleicht auch bei künftigen Militäreinsätzen nicht brauchen wird, da Europa militärtechnisch soweit hinter den USA herhinkt, dass die NATO-Verbündeten im Konfliktfall eher hinderlich sind“ („Parlament“, 24.05.02).

Unabhängig vom propagandistischen Subtext, der auch in diesem Fall auf die Forderung nach höheren deutschen Militäranstrengungen hinauslaufen muss, steht diese Einschätzung nicht unbegründet für einen Bruch zu bisherigen Wahrnehmungen. Danach war es nicht nur die Zielvorstellung derjenigen, die in den letzten Jahren nicht Müde wurden, die „erwachsene, selbstbewusste Nation“ auszurufen, sondern auch ein Bestandteil vieler linker Analysen, die EU-Militärpolitik bereits als realiter auftretende Konkurrenz im Weltordnungskampf aufzufassen. Letzteres mag zum Teil auf kritisch intendierte Phantasien von euro-deutscher Omnipotenz zurück zuführen sein. Völliger Quatsch war es allerdings nicht.

 

Emanzipation auf europäisch

Bis zum 11. September legte Europa den Weg einer militarisierten Außenpolitik mit Siebenmeilenstiefeln zurück. Besonders die Intervention der NATO in Jugoslawien hatte die Bestrebungen der großen europäischen Staaten befördert, eine eigenständige, also von den USA unabhängige Militärpolitik zu ermöglichen. Deutschland und andere europäische Potentaten fühlten sich damals von den USA gleichermaßen überfordert und übergangen. Überfordert, weil sie den Krieg nicht auf dem selben technisch hohen Niveau führen konnten und übergangen, weil im Laufe des Krieges richtungsweisende Entscheidungen immer öfter in Washington und nicht in Brüssel getroffen wurden.

Infolgedessen machte die europäische Staatengemeinschaft Nägel mit Köpfen. Dass die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik seit dem EU-Gipfel von Köln (Juni 1999) auch durch ein personelles Amt repräsentiert wird, steht wie alle symbolische Politik für einen materiellen Hintergrund. So wurde die WEU, bisher eher eine Karteileiche, die über die Konzeption militärischer Zusammenarbeit nicht hinauskam, nicht nur durch die Zuordnung von Truppenkontingenten reaktiviert, sondern auch offiziell als militärischer Arm in die Europäische Union eingegliedert. Im selben Zeitraum wurde der Beschluss gefasst, eine europäische Eingreiftruppe mit 50000 bis 60000 Einsatzkräften aufzubauen, die bis zum Jahr 2004 dazu in der Lage sein soll, unabhängig von den USA und der NATO in allen Gebieten der Welt intervenieren zu können. Waren die europäischen Staaten schon vorher kein „Papiertiger“, immerhin war das Eurocorps bereits seit 1995 mit 55000 Soldaten und Soldatinnen einsatzbereit, wurde damit ihr Anspruch, als militärpolitischer Faktor weltweit ernst genommen zu werden, unmissverständlich untermauert.

Und nicht nur damit. Die Ernsthaftigkeit mit welcher die Militärunion betrieben wurde, ließ sich auch an der Neustrukturierung der westeuropäischen Rüstungsindustrie beobachten. Mit der European Aeronautic Defence and Space Company (EADS) entstand in direkter Folge des Jugoslawienkrieges aus dem Zusammenschluss der deutschen Dasa, der französischen Aerospatiale Matra S.A. und dem spanischen Rüstungsunternehmen Constructiones Aeronauticas S.A. das größte kontinentaleuropäische Rüstungsunternehmen. Mit strategisch geplanten Großprojekten wie dem Eurofighter, dem Truppentransporter A400M und der Installation eines europäischen Satelliten-Navigationssystems war der notwendige Auftragseingang abgesichert. Die Bildung eines geschlossenen militärisch-industriellen Komplexes wurde allerdings nicht erreicht, weil der größte europäische Rüstungskonzern, die britische BAe Systems sich nicht in diesen Zusammenschluss integrierte.

Rund gemacht wurde die, in betriebsamer Hektik vollzogene, Schaffung einer europäischen Militäroption, dann mit der Etablierung eigenständiger Planungs- und Entscheidungsgremien in Brüssel. Ein „Militärstab“, ein „Militärausschuss“ und ein „ständiger Ausschuss für politische und Sicherheitsfragen“, sind nun für „Frühwarnung“, „Lagebeurteilung“, „politische Kontrolle und strategische Leitung“ der europäischen Streitkräfte verantwortlich.

 

Des einen Freud des anderen Leid

Dass quer zur gängigen politischen Richtungseinteilung als Emanzipation von der US-amerikanischen Hegemonie gefeierte Konzept einer deutsch-europäischen Militarisierung, führte zwangsläufig zum Konflikt mit den außenpolitischen Strategien der USA. Bis heute hat sich an der paradigmatischen Einschätzung des Washingtoner Staatssekretärs Talbott nichts geändert: „Wir wünschen keine ESDI (Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität), die anfangs in der NATO entsteht, die dann aus der NATO herauswächst und die schließlich außerhalb der NATO aufwächst und sogar mit ihr im Wettstreit liegt“ („The Washington Times“, 8.10.99) Die Kriegspolitik nach dem 11. September zementierte diese Position. Die gewaltigen Militärausgaben, die bilaterale Bündnistaktik, die Erweiterung der NATO sowie die spezielle Einbindung Russlands in die Sicherheitsarchitektur des Westens sind gleichzeitig auch Instrumente der Disziplinierung des euro-deutschen Aufbegehrens. Dabei waren und sind die USA immer große Freunde gesteigerter europäischer Militäranstrengungen, die im Rahmen des gemeinsamen Bündnisses, also unter amerikanischer Kontrolle, zur ihrer Entlastung beitragen können. Es bleibt hingegen ausschließlich IdealistInnen und PropagandistInnen vorbehalten, sich über die Klarheit zu echauffieren, mit der von den Vereinigten Staaten schon immer der Aufbau von militärischen Parallelstrukturen hintertrieben wurde. Noch dazu wenn diese in aller Deutlichkeit damit legitimiert werden, einer Politik zu dienen, die sich jenseits einer transatlantischen Interessenidentität bewegen kann.

Auf die wiederholt vorgebrachten Warnungen der Vereinigten Staaten reagierte man im außenpolitischen Diskurs Deutschlands recht doppelzüngig. Während von einer moderaten, pragmatischen Position deutscher Interessenpolitik die Gemeinsamkeiten mit Amerika betont werden, weil die Meinung vorherrscht, den größten Handlungsspielraum könne man derzeit im US-amerikanischen Fahrwasser erreichen, wurde von der aggressiveren Option die Verschärfung des transatlantischen Widerspruchs bewusst in Kauf genommen oder vorangetrieben. Während also einerseits Fischer & Co. gebetsmühlenartig die Floskeln von der ungebrochenen Tragfähigkeit der nordatlantischen Allianz bemühten, wendeten sich die anderen mit drohender Geste gegen die „amerikanisch diktierte NATO-Philosophie“ (R. Augstein).

 

Ordnungsmacht zweiten Ranges

Im Prinzip hat sich an dieser Matrix außenpolitischer Orientierungen in Deutschland auch nach dem 11. September nichts geändert. Die pragmatisch-realistische Orientierung, die auf die transatlantische Einbindung setzt, argumentiert angesichts der aktuell vorgeführten US-Dominanz mit weniger Leidensdruck. Grundsätzlich unkritisch gegenüber militärisch durchgesetzter Interessenpolitik etc., aber eben auch relativ unverklärt, sieht man die Perspektive der USA, welche „nur noch dann in die Nato ordentlich politisches Kapital investiert, wenn sie überzeugt ist, dass sie ein wirksames, potentiell global einsetzbares Instrument darstellt“ („FAZ“, 29.05.02).

Auch die VertreterInnen dieser Positionen treibt die Angst um, die NATO könne bedeutungslos werden, allerdings läge es an den europäischen Staaten selbst, ob es soweit kommt. Damit dies nicht passiert, werden kühl berechnend die Anforderungen an die deutsche Außenpolitik gestellt. Dazu gehören die Anerkennung der amerikanischen Hegemonie und eine signifikante Aufstockung der Verteidigungshaushalte. Die Militarisierung der europäischen Außenpolitik wird hier in erster Linie nur noch innerhalb der NATO-Strukturen gedacht. Vor allem für Spanien und Großbritannien gilt dies als gemachte Sache. Gemeinsam forderten die Staatschefs beider Länder eine Initiative zur Verbesserung der militärischen Fähigkeiten, die auf dem NATO-Gipfel in Prag im November dieses Jahres beschlossen werden soll.

Zwar werden die separaten europäischen Projekte nicht gänzlich eingestellt und lauthals verkünden Deutschland und Frankreich immer wieder - wie jüngst auf dem Gipfel in Schwerin - ihren Willen zur militärischen Stärkung der EU. Jedoch scheint dies eher eine „Politik der Deklaration“ („FAZ“, 31.07.02) zu sein.

Das wirkliche Kräfteverhältnisse deutet zumindest nicht darauf hin, dass Brüssel auf absehbare Zeit Washington das Wasser reichen kann. Schon der Blick auf die 329 Milliarden Dollar des amerikanischen Verteidigungshaushaltes, der damit größer ist als die weltweit nächstgrößten neun nationalen Verteidigungsausgaben zusammen, spricht für die These, dass sich die europäische Außen- und Sicherheitspolitik nicht zu einer drohenden Konkurrenz entwickelt, sondern vorerst mit einer Ergänzungsrolle vorlieb nehmen muss.

Der Platz als zweitrangige Ordnungsmacht ist wiederum nicht so schlecht dotiert, dass man mit ihm nur Miese macht. Eine solches Horrorszenario entwerfen nur hartgesottene Ideologen. Nicht einmal zur geostrategischen Enthaltsamkeit sind die betroffenen Nationen gezwungen, wie deutsche Außenpolitik von Pristina bis Kabul zeigt. Die Positionierung basiert zudem auf dem gemeinsamen Nutzen an der Aufrechterhaltung des freien Kapital- und Warenverkehrs, der gegenüber realen und potenziellen Unruheherden (Flüchtlingsströme, Terrorismus, polit. Widerstand, u.a.) abzusichern ist. Der politikwissenschaftliche Diskurs bezeichnet diesen handlungsleitenden Zusammenhang in seiner Diktion als die „Interessenidentität an sicherheitspolitischer Stabilität“. Und in etwa dies meint auch die US-amerikanische Sicherheitsberaterin Condoleeza Rice, wenn sie die Welt nicht mehr von Großmachtrivalitäten geprägt sieht: „Der 11. September und die Zeit danach haben die fundamentale Spaltung zwischen den Mächten des Chaos und den Mächten der Ordnung sichtbar gemacht. Und alle großen Mächte stehen eindeutig auf der selben Seite dieser Trennungslinie. Und sie handeln danach.“(1)

Dass sie das aktuelle Ranking unterschlägt, dieses Zitat also entgegen der Wirklichkeit den Eindruck nahe legen könnte, es handele sich bei den Ordnungsmächten um eine Art egalitäres Hausmeisterkollektiv, ist banaler Professionalität und der Gelassenheit der Sieger geschuldet. Nachtreten ist Sache der Verlierer.

 

Gemeinsamer Feind: USA?

Während Interessenübereinstimmung und die ganz banale Einsicht in die derzeitigen Machtverhältnisse aktuell die deutsche Außenpolitik bestimmen, gewinnt im außenpolitischen Diskurs die andere, konfrontative Option aber immer mehr an Gewicht. Grund dafür ist ein weit verbreiteter Antiamerikanismus, der sich aus verschiedenen Quellen speisen kann und unabhängig von unterschiedlichen politischen Grundhaltungen für eine Zurückdrängung der Vormachtsrolle der USA eintritt.

Ein ganzes Heer von sogenannten FriedensforscherInnen, alternativen und sozialdemokratischen außenpolitischen StrategInnen propagierte in den letzten Jahren die militärische „Emanzipation Westeuropas von der amerikanischen Führung“ (Ernst-Otto Czempiel ) u.a. mit den Argumenten, dass damit die Zivilisierung der internationalen Beziehungen gewährleistet werden könne sowie die normativ höher zu bewertenden europäischen Kapitalismusmodelle auf der Welt mit mehr Nachdruck zu ihrem Recht kämen. Egon Bahr, sozialdemokratischer Stratege leitet die europäische Pflicht, Weltmacht zu werden, aus dem angeblich sozialerem Selbstverständnis Europas ab, welches gegen das auf „Effizienz gerichtete Streben Amerikas“(2) verteidigt werden müsse. Der Ex-Bundeskanzler und „Zeit“-Herausgeber Schmidt ficht nicht weniger motiviert für die weltpolitische Selbstbehauptung Europas. Die Europäer müssten sich endlich von der „Hilfspolizisten-Rolle“, von der „politischen, geistigen und ökonomischen Abhängigkeit“ befreien. Befreiung heißt bei Schmidt auch, sich gegen die „Überflutung mit amerikanischer Trivialkultur zur Wehr zu setzen“, welche die Menschen mit „abseitigen Vorstellungen von der Normalität des Lebens verführt“ und die „geschichtlich gewachsenen kulturellen Traditionen der Europäer“ überdeckt.(3)

Diese Begründungen für eine aggressivere deutsche und europäische Außenpolitik verweisen schon auf einen breiten, von weltanschaulichen Ressentiments, verkürzter Kapitalismuskritik und anderen Lügen getragenen Motivationshindergrund. Angesichts des Streits um den Internationalen Strafgerichtshof ist es der jüngste Renner, zu behaupten, den europäischen Staaten wäre die „Verrechtlichung“ der internationalen Beziehungen innigste Herzensangelegenheit, die tief in ihrem zivilisierten Selbstverständnis verwurzelt sei. Es ist keine drei Jahre her, da hatte Europa mit der gegen das geltende Völkerrecht getroffenen Entscheidung zur Bombardierung Jugoslawiens, seine Rechtstreue unter Beweis gestellt. Und auch die von Großbritannien durchgesetzte und von den Deutschen stillschweigend und unkritisch in Kauf genommene Befreiung potentieller Kriegsverbrecher der Isaf von der Überstellung an internationale Tribunale, zeigt, wie wichtig Europa eine internationale Gerichtsbarkeit ist. Jetzt gelten jedenfalls nur noch die Vereinigten Staaten als Feinde einer internationalen Rechtsordnung. Der leicht durchschaubare Zweck der Forderung – vor 200 Jahren waren es übrigens die USA, die gegenüber der traditionellen Machtpolitik der europäischen Staaten für eine internationale Ordnung auf der Basis des Rechts eingetreten sind – scheint der Verbreitung des Arguments keinen Abbruch zu tun. Der immer wieder als „Atlantiker“ gepriesene Außenminister gibt seinen alternativen Restbeständen Futter, in dem er die abwehrende Haltung der USA mit großen Worten kritisiert. „Es geht um die Überwindung eines machtgestützten Systems der internationalen Beziehungen“, so zitiert der „Spiegel“ Fischers Aussage gegenüber der Grünen-Fraktion. Postwendend gab es Unterstützung durch den CDU-Außenexperten Karl Lamers: „Grundsätzlicher kann die Auseinandersetzung nicht sein“(„Spiegel“, 28/2002). Das findet dann auch einer der prominentesten deutschen Globalisierungsgegner, Oskar Lafontaine. Für den Attac-Neuzugang ist Globalisierung nur ein „anderes Wort für das Vordringen der amerikanischen Vorherrschaft und Lebensweise auf dem Erdball“, welches nur durch die Unterwerfung der USA unter das internationale Recht gestoppt werden könne.(4)

Wenn es gegen Amerika geht, werden sogenannte FriedenspolitikerInnen zu ProtagonistInnen der europäischen Militarisierung, konservative MachtrealistInnen gemeinsam mit VertreterInnen der neuen sozialdemokratischen außerparlamentarischen Opposition zum Sprachrohr einer instrumentellen internationalen Rechtsordnung.

 

Fight Club

Derzeit wird das Gemisch des Antiamerikanismus nicht eins zu eins in Entscheidungen der Außenpolitik umgesetzt, die konfrontative Option bleibt aber besonders deshalb gefährlich, weil sie sich gleichfalls aus rationalen und irrationalen Motiven speisen kann.

Die krisenhafte Entwicklung des kapitalistischen Weltmarktes enthält das Potential zunehmender ökonomischer Konflikte zwischen den Weltmarktkonkurrenten. Protektionistische Maßnahmen zur Gewährleistung von Vorteilen der einzelnen Triadenmächte, bzw. der Einzelstaaten überhaupt, zeigen, dass das gemeinsame Interesse an einer internationalen Wirtschaftsordnung keine Selbstverständlichkeit ist. Würde die EU bei einem offenen Marktzugang immer mehr zum wirtschaftlichen Verlierer, stiege die Wahrscheinlichkeit, dass auch bei den außenpolitischen Eliten eine konfrontativere Variante deutsch-europäischer Außenpolitik immer mehr an Plausibilität gewinnt. Bildet die kapitalistische Kosten-Nutzen-Abwägung zumindest ein Hindernis gegen überbordenden Antiamerikanismus so lange Deutschland über die Hälfte seiner Exporterlöse auf Dollarmärkten realisiert, kann sie sich beim Durchschlagen der amerikanischen Wirtschaftskrise in einen Katalysator wandeln.

Noch drängt das euro-deutsche Kapital nicht zum großen Bruch. Käme es dazu, müsste es sich um die Emotionen eines Großteils der Intellektuellen und der Massen keine Sorgen machen. Die Amerikanisierung der deutschen Gesellschaft mag zwar oberflächlich weit fortgeschritten scheinen, doch vielen gelten die Amis immer noch als fremde Wesen, deren Werte- und Politikvorstellungen grundlegend von einer deutschen Identität unterschieden werden. Zudem haben die USA in zwei Weltkriegen deutscher Weltgeltung einen Riegel vorgeschoben, nicht nur Neonazis haben ihr das bis heute nicht verzeihen. Dies gehört zur Beantwortung der Frage, warum sich bei den Protestaktionen gegen George Bush wirklich Massen beteiligten. Im kulturell und geschichtspolitisch motivierten Antiamerikanismus liegt somit eine eigene, in ihrer Entstehung von kapitalistischen Nützlichkeitserwägungen abgekoppelte Antriebskraft der aggressiven außenpolitischer Option.

Weil die Gegnerschaft zur USA das Potential zur Vermittlung zwischen den politischen Positionen hat, steht und stand linke Kritik vor einem Abgrenzungsproblem. Auch die grundsätzliche, also die Triebkräfte angreifende, Positionierung gegen eine Kriegs- und Militarisierungspolitik, die nicht nur den USA, sondern ebenso den europäischen Mächten und insbesondere Deutschland angelastet wird, kann in der öffentlichen Wahrnehmung auf den Nenner des Antiamerikanismus runtergekürzt werden. Selbst bei einer explizit vorgebrachten Distanzierung und dem Verweis auf die umfassende Kritik des kapitalistischen Waren- und Tauschsystems verliert der radikale Ansatz die Deutungshoheit über die eigenen Inhalte, wenn er bei der symbolischen Aktion die ideologischen Kräfteverhältnisse nicht mitbedenkt. In einer Situation, in welcher die realpolitische Unterlegenheit der militärischen Konkurrenzbestrebungen Europas deutlich wird und für Frustrationen sowie Konzepte aggressiver Kompensation sorgt, wird der Druck feindlicher Umarmungen noch größer werden. Daraus sollte weder eine Stillhalte-Strategie abgeleitet, noch der Trugschluss nahegelegt werden, die Kriegspolitik der USA sei als emanzipatorische Wohltat zu verteidigen. Allerdings muss die notwendige Abgrenzung vom Antiamerikanismus mehr sein als hilflose Rhetorik. Schon mit Blick auf die im November geplanten Proteste gegen den NATO-Gipfel in Prag, muss aufs neue abgewogen werden, ob sich beim dort zu erwartenden DemonstranInnenspektrum antikapitalistische und antinationale Kritik überhaupt vermitteln lassen. Bisher ist noch kein Konzept bekannt, welches es verhindert, dass man sich gemeinsam mit Attac, alternativen und rechten AntiamerikanerInnen, sozialdemokratischen NationalistInnen und anderen falschen „BündnispartnerInnen“ zu einem Sprachrohr der aggressiveren Option der deutschen Außenpolitik macht, das nichts gegen eine kapitalistische Weltordnung und ihre Durchsetzungskriege, aufgrund der eigenen Machtambitionen aber viel gegen die derzeitige Vormacht vorzubringen hat.

 

Fußnoten:

(1) Condoleeza Rice: The War on Terrorism and the Bush Administrations Foreign Policy, Rede vom 29.04.02, zit.n.: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 25/02, S. 19.

(2) Hier zit. n. Arno Neuber: Europäer an die Front, in: Jürgen Elsässer (Hg.): Deutschland führt Krieg, konkret-texte, Hamburg 2002, S. 90.

(3) Alle Zitate aus: Helmut Schmidt: Die Selbstbehauptung Europas. Perspektiven für das 21. Jahrhundert. München 2002.

(4) Oskar Lafontaine: Die Wut wächst. Politik braucht Prinzipien. München 2002.

Phase 2 Leipzig