Die Linke vor der sozialen Frage

Zum Schwerpunkt dieser Ausgabe

Die fetten Jahre sind vorbei. So oder ähnlich kann man den Abbau sozialstaatlicher Standards in der Bundesrepublik in den letzten Jahren zusammenfassen. Egal ob Hartz-Programm, die angestrebte Einschränkung des Kündigungsschutzes, die Ausweitung des Zwangs zur Arbeit oder die Kürzung von Sozialleistungen – wie immer es genannt wird, das Netz sozialer Sicherungssysteme wird eingeschränkt und zunehmend in den Bereich individueller Verantwortung überwiesen.

Konträr zu ihrem sozialen Engagement steht die tendenzielle Betroffenheit auch der radikalen Linken als Teil der Gesellschaft, abzulesen auch an der nur geringen Begeisterung, in der Phase 2 einen Schwerpunkt eben zu diesem Thema zu machen. Spätestens seit dem Epochenbruch von 1989, verstärkt noch durch die Diskussionen um Kritik oder Politik der letzten drei Jahre, pflegt die Radikale Linke ein ambivalentes Verhältnis zur sozialen Frage, und das bisweilen aus gutem Grund. Die Ambivalenz lässt sich dabei ableiten aus der Zweiteilung des Begriffs »sozial« in einen gesellschaftlichen, die Ordnung der menschlichen Gesellschaft betreffenden und in einen menschenfreundlichen, die Beziehungen der Mitmenschen emanzipierenden Aspekt. War die soziale Frage immer ideell-konstitutiver Bestandteil linker Politik, die an der Durchsetzung menschenfreundlicherer Bedingungen interessiert war, so ist man doch daran gewöhnt, dass fernab von Gewerkschafts- oder Parteienpolitik relativ wenig politische Gruppen existieren, die auf diesem Gebiet tätig sind.

Der Grund für den Unmut ist am ehesten wohl in der Befangenheit des Sozialen in den kapitalistischen Verhältnissen zu suchen. »Sozial« im Sinne menschlicher Beziehungen heißt im Zeitalter des Kapitalismus zuvorderst, als Objekt dem Feld der Reproduktion vorbehalten zu sein, ja selbst der Begriff des Sozialen ist nur schwer über den Kapitalismus hinaus bzw. ohne ihn zu denken. Demnach liest sich das Verhältnis der radikalen Linken zur sozialen Frage notwendigerweise als ein Spagat zwischen Reformismus und Revolution und muss sich an der Frage messen lassen, einem der beiden Pole zuzuarbeiten – als ein Spagat zwischen dem elementaren Auftrag, die Verbesserung reeller Lebensbedingungen anzustreben, damit aber gleichzeitig dem System, das diese Verhältnisse erst hervorbringt, zuzuarbeiten. Zur Veranschaulichung reicht ein Blick in die Geschichte der deutschen ArbeiterInnenbewegung, die sich ausgehend von der verkürzten und bewegungsorientierten Rezeption der Marxschen Lehre über die Stationen diverser, durch Städtenamen symbolisierten Programme mehrheitlich immer für die reformistische, systemimmanente Variante entschieden hat.

So sehr dieser Reformismus zu kritisieren ist – und das macht den Spagat nur noch schmerzhafter –, so sehr steht eine Linke immer vor der Notwendigkeit, auf den vom System ertrotzten Leistungen zu bestehen, besser aber, ihre Notwendigkeit überhaupt zu überwinden. Soziale Leistungen in Anspruch zu nehmen und das Leben so angenehm wie möglich zu gestalten, daran ist als Grundbedingung festzuhalten.

Befördert wird der derzeitige Unwillen, sich dem Thema zu nähern, zudem durch die Verfasstheit der deutschen Gesellschaft. Es besteht beileibe kein Subjekt, an das man auch nur denken könnte, positiv anzuknüpfen – die Deutschen wollen um jeden Preis arbeiten gehen, und potentielle BündnispartnerInnen wie Gewerkschaften etc. tun ihr Möglichstes, ihnen diesen Wunsch zu erfüllen. Daran schließen sich bis in die Linke hinein Konzepte an, die die Frage des Sozialen zwar richtig vorrangig durch den Aspekt der Arbeit bestimmt sehen, sie zugleich jedoch dadurch beantwortet wissen wollen, durch mehr Arbeit oder ihre »gerechtere« Verteilung eine Lösung herbeizuführen. Derartige BündnispartnerInnen schließen sich von vornherein aus und engen den Rahmen möglicher Aktivität nicht unerheblich ein.

Quer dazu liegen zugleich nicht minder problematische Fragen, die sich an die individuelle oder kollektive Ausformung des Sozialen koppeln. Die Kritik an der steigenden sozialen Verantwortung des Einzelnen gerät schnell in den Verdacht, einer kollektivistischen Auffassung Vorschub zu leisten, die einzig dem Staat die Rolle der sozialen Fürsorge zuweist. Da sich die »Solidargemeinschaft« zumal in Deutschland an Kriterien von aus Geschichte und Tradition gewachsenen national-ethnischen Anwartschaften orientiert, verbietet sich auch hier weitere Identifikation.

Das nicht weniger problematische Gegenteil stellt die vornehmlich in antideutschen Zusammenhängen beliebte allzu positive Bezugnahme auf das amerikanische Sozialmodell dar, dem die Idee des Sozialstaats überhaupt fremd ist und wo die individuelle Freiheit auf Kosten einer sozial regulierten Gleichheit durchgesetzt ist. Problematisch insofern, als die zur Zukunft aller zu werden drohende, in den Vereinigten Staaten gegebene größtmögliche Entfaltung individueller Verwertung ebenso wenig als emanzipative Perspektive taugt wie die traditionelle europäische, da die bisweilen hochgelobte amerikanische Gesellschaft von Individuen letztlich auch nur ein geschickteres, den Ansprüchen kapitalistischer Vergesellschaftung besser entgegenkommendes Konstrukt ist.

Vor diesem ernüchternden Hintergrund, der die tendenzielle Unzufriedenheit über die Schwierigkeit der »Beantwortung« der sozialen Frage nicht gänzlich aufheben, sie jedoch genau als solche benennen kann, sind im Schwerpunkt dieser Ausgabe folgende Texte versammelt, denen als kleinster gemeinsamer Nenner der kritische bis abwartende, nie jedoch romantisierende Blick auf die soziale Frage eigen ist. Das Unbehagen der Linken vor der sozialen Frage wird deshalb auch nach diesem Schwerpunkt nicht überwunden sein. Dafür steht auch die Heterogenität der Beiträge, die sich nicht zu einem stringenten Ganzen zusammenführen lassen oder eine ganzheitliche Perspektive der Beantwortung anstreben, sondern eher die damit verbundenen Probleme in den Mittelpunkt rücken.

Einleitend beschäftigt sich Marek Mausebär mit Anspruch und Wirklichkeit der Anti-Globalisierungsbewegung als gegenwärtig präsentester Vertreterin zur Durchsetzung sozialer Verbesserungen, die von sich behauptet Mentorin einer sozialverträglicheren Welt zu sein. Aus wertkritischem Hintergrund, der angesichts des globalen Absturzprozesses des Kapitals die soziale Frage nicht mehr entlang bekannter systemimmanenter Pole beantwortet sehen kann, formuliert er die Notwendigkeit, eine Sozialkritik zu etablieren, die über die »katastrophische Wertgesellschaft hinausweist«. Diese Erkenntnis ist bei den sozialreformerischen GlobalisierungsgegnerInnen längst noch nicht vertreten. Im Gegenteil, anhand der Kritik ihrer Metaphorik, die sich notwendig auf die Verteidigung bürgerlicher Ideale wie Gleichheit, Freiheit und Vernunft bezieht, wird die Regression von Kritik zum Ressentiment nachgezeichnet.

Wie aber kann eine soziale Utopie, die diesen Einlassungen gerecht wird, aussehen? An der Beantwortung dieser gern vernachlässigten Frage versucht sich Christoph Spehr. Sein Ansatz der freien Kooperation, der zwischen der reformistischen Anti-Globalisierungsbewegung auf der einen und der oft besserwisserischen und agitierenden Wertkritik-Fraktion auf der anderen Seite zu vermitteln sucht, ist grundsätzlich anzuerkennen. Er hält als Hoffnung aufrecht, was Utopien ihrem Wesen nach nun einmal versprechen können – den Glauben an eine bessere Welt.

Der folgende Text von Phase 2 Leipzig stöbert daraufhin in den »Archiven der Ich-AG« und stellt heraus, wie das »Individuum« als Grundvoraussetzung der Gegenübertretung auf dem Markt – ohne Individuum kein Warentausch – konstitutiv für die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft wurde. Das Individuum ist demnach keine gottgegebene unveränderliche Größe, sondern nicht weniger Konstrukt als die oftmals abgelehnten kollektiven Zusammenschlüsse auch.

Ein weiterer Beitrag von Phase 2 Leipzig zur deutschen Sozialpolitik stellt mit dem Modell der Regulationstheorie ein Instrumentarium vor, dass über Wirkungsweise von sozialstaatlichen Regulationen – gegenwärtig der Aufkündigung jahrzehntelang gültiger sozialer Kompromisse – informiert und das wohl den ersten Schritt darstellt, nicht in die Falle der Verschwörungstheorie vom ›bösen Staat‹ zu tappen.

Der Beitrag der Ortsgruppe Lichtenrade der Gruppe Fels führt diesen Blickwinkel praxisorientierter fort, indem er die eigene ›Arbeit‹ als eine der wenigen linken Gruppen, die sich in der Bundesrepublik überhaupt noch zur sozialen Frage äußern, vorstellt. Anhand der Darstellung eigener oder unterstützter Aktivitäten gegen die Sparpolitik der Stadt Berlin wird ein Praxisbezug eingefordert, der über die bloße Denunziation der Verhältnisse hinausgeht.

Der Artikel der Berliner Gruppe brutes, der bereits im Titel die Relevanz der abstrakten Arbeit für die Beantwortung der sozialen Frage herausstellt, greift abschließend den bereits eingeführten Aspekt der Individualität noch einmal auf und verlängert ihn kollektiv um eine Betrachtung des Klassenbegriffs und ihres Zerfalls. Neben der kritischen Herleitung, inwieweit »Klasse« als politisches Subjekt für soziale Kämpfe überhaupt dienen konnte oder kann, leistet der Beitrag auch eine Kritik daran, dass die auf den ökonomischen Verhältnissen basierende soziale Frage mittels der Konstruktion von Race- und Gender-Beziehungen in den Bereich der Identität verwiesen und so jeglicher emanzipativer Anspruch der Überwindung in eine »Akzeptanz der Geschichte« verkehrt wird.

Graphisch begleitet wird der Schwerpunkt schließlich von einer Bilderserie, die die brutale Realität der sozialen Frage an einem öffentlichen Feld des Sozialen schlechthin – dem Bereich der Architektur – darstellt. Hier wird deutlich, dass sich über die soziale Frage zwar trefflich philosophieren lässt, oftmals aber nur ein Blick genügt, ihrem unmittelbaren Abbild zu begegnen. Mike Davis schreibt dazu: »Schließlich deutet die neomilitärische Syntax der Gegenwartsarchitektur unterschwellig Gewalt an und beschwört eingebildete Gefahren. In vielen Fällen ist die Semiotik des sogenannten ›zu verteidigenden Raumes‹ ungefähr so subtil wie ein großspuriger Polizist. Die schicken, pseudo-öffentlichen Räume von heute – Luxus-Einkaufspassagen, Bürozentren, Kulturakropolen usw. – sind voll unsichtbarer Zeichen, die den ›Anderen‹ aus der Unterschicht zum Gehen auffordern. Architekturkritikern entgeht zwar meist, wie die gebaute Umwelt zur Segregation beiträgt, aber die Parias verstehen diese Bedeutung sofort.«(1)

 

Fußnoten:

(1) Vgl. Mike Davis, City of Quartz. Ausgrabungen der Zukunft in Los Angeles, Berlin/ Göttingen 1994, 262. Mike Davis war früher Fernfahrer sowie Mitherausgeber der New Left Review und unterrichtet heute Urban Theory am Southern California Institute of Architecture.



Phase 2 Leipzig