Die Mobilmachung der Zivilgesellschaft

Da zwischen dem formalen Anspruch auf gewaltfreie Konfliktregulierung und ihrer faktischen kriegerischen Praxis ein Widerspruch besteht, meint die Zivilgesellschaft sich legitimieren zu müssen.

Die Zivilgesellschaft(1) stilisiert sich zum einen selbst als die Instanz, die entscheidet, wo zugunsten der Menschenrechte getötet werden darf und wo nicht. Zum anderen entstand im zivilgesellschaftlichen Kontext in verschiedenen Variationen das Narrativ vom neuen Krieg, welches beinhaltet, dass immer das, was die anderen (GegnerInnen in einem Krieg oder unliebsame Alliierte) führen, Krieg heißt oder bedeutet, nicht aber das eigene Agieren.(2)
 

Krieg der Anderen und eigenes Tun

Das zentrale Symbol des Narrativs von den neuen Kriegen ist ein Pick-Up, dessen Ladefläche besetzt ist mit finsteren, mit Kalaschnikows bewaffneten Menschen, allesamt wahnsinnig und auf der Suche nach dem nächsten Massaker.(3) Eine empirische Infragestellung der einzelnen Argumente im Kontext des Diskurses kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Neben etlichen empirisch tragfähigen Befunden, wie denen über veränderte Waffentechnologien, Interventionstrategien und einer veränderten und dynamisierten militärpolitischen Weltlage, einigen in der Regel sofort verabsolutierten, überhöhten und damit falsch erfassten Tendenzen (v.a. Denationalisierung, Warlordisierung), wird allerlei lässig daher historisierter Mumpitz angeboten. Auffällig ist dabei, wie bei der Historisierung der „neuen Kriege“ der größte Krieg der Deutschen und die Art, wie sie ihn führten, unterbelichtet oder ausgeblendet ist.(4) Die „Neuen Kriege“ führen die anderen, der Westen, respektive die Deutschen, wehrt sie ab, verhindert sie oder wird schlimmstenfalls hineingezogen. Geführt werden sie aufgrund der kurzfristige Gewinne ausgerichteten Habgier der AkteurInnen (Warlords, gelegentlich US-Administrationen) oder aus religiösem oder ideologischem Wahnsinn. Sie seien in einem der Moderne unbekanntem Maße brutal und gegen die Zivilbevölkerung gerichtet, deterritorialisiert und gleichzeitig-ungleichzeitig, die Kräfteverteilungen (auch dies sei neu) seien oft asymmetrisch.

Die Zivilgesellschaft inszeniert eine Denkwelt, in der auf der einen Seite der schmutzige, illegitime, unkontrollierte und menschenverachtende Krieg steht und auf der anderen Seite die eigene Intervention. Diese ist postmateriell, orientiert nur an den Menschenrechten und, so der US-Stratege Luttwack,(5) postheroisch. Die eigene Intervention setzten deswegen primär auf exakte Luftschläge.(6) Die zivilgesellschaftlich legitimierte Intervention wird gemäß der Inszenierung von exakt arbeitenden SpezialistInnen durchgeführt, die sich und die ihnen unterstellten, exakt funktionierenden Technologien jederzeit im Griff haben. Die Interventionen der Zivilgesellschaft seien ausreichend legitimiert durch Menschenrecht und internationales Recht und gemäß dieser Universalität multilateral organisiert. Die Zivilgesellschaft wolle eigentlich gar keine Kriege führen, denn „Tod und Sterben sind keine Anliegen der Liberalen“, so der Nationalismus-Forscher Benedict Anderson. Die Intervention der Zivilgesellschaft sei zwar ideell motiviert, durchaus aber pragmatisch-rational, wenn zu bedenken gegeben wird, dass der militärische Einsatz humaner sein könne als ein Embargo. Die Entscheidungen der Zivilgesellschaft über Krieg und Frieden wird kritisch begleitet von einem Heer von zentralen AkteurInnen der Zivilgesellschaft: die Friedens- und KonfliktforscherInnen (hervorgegangen aus Ex-NATO-GegnerInnen etc.), die auch mit abweichender Meinung Teil des Legitimationszusammenhangs sind. Die Vorstellung, bei den Interventionen würde es sich um Polizeieinsätze im Rahmen einer weltgesellschaftlichen Verrechtlichung handeln (was sie nicht sympathischer machen bräuchte), ragt mit Empire weit hinein in die sich am Rande der Zivilgesellschaft befindende Linke.(7) Letztlich fundiert die Zivilgesellschaft ihre Interventionen erinnerungspolitisch. Die Shoah taucht als Legitimation aller zivilgesellschaftlichen Interventionen seit dem Kosovo auf.(8)

Bei der militärischen Mobilmachung mit erinnerungspolitischen Mitteln, vor allem mit Verweisen auf die Shoah, kann auf eine argumentative Triade rekurriert werden, deren Eckpunkte sorgsam besetzt werden. Die AggressorInnen/TäterInnen/VerfolgerInnen werden dabei möglichst nahe an Ideologie oder Praxis des Nationalsozialismus gerückt. AkteurInnen sind vorrangig Diktatoren, ihr Militär und die Sicherheitsdienste. In der Opferposition werden unschuldig Verfolgte inszeniert.

Die Rollenverteilung darf dabei nicht durch die Empirie oft ambivalenter Gewaltverhältnisse gestört werden. Bevorzugt in Szene gesetzt werden „kleine schwache“ Ethnien, Frauen, Kinder oder Zivilbevölkerungen. Die Öffentlichkeit der jeweiligen Zivilgesellschaft wird rhetorisch vor die Wahl gestellt, einerseits weiterhin „Zuschauerin“ sein zu können und damit die Schuld auf sich zu laden, weiteres Leid für die Opfer zu tolerieren oder sogar die TäterInnen weiter zu motivieren, oder andererseits durch die Unterstützung eines beherzten Eingreifens zur Rettung der Verfolgten beizutragen.

 

Die Zivilgesellschaft und ihr bewaffneter Arm

Seit Ende der 1970er Jahre läuft eine intensive Debatte um die Rolle des Militärs in der zivilen Gesellschaft, die im angloamerikanischen Sprachraum als institutional/ occupational (I/O) thesis bekannt ist.(9) Ihr zufolge besteht innerhalb der militärischen Sphäre der westlichen Welt der Trend von einer Organisierung, die primär institutionell geprägt ist, hin zu einer, die den Berufscharakter (occupational character) des Militärischen betont. Im ersten Fall dominieren die internen Regeln des Subsystems Militär, die sozialen Kontrollen und Sanktionen sind stärker. In institutionellen Modellen wird davon ausgegangen, dass dort integrierte Mitglieder dazu motiviert werden können, mehr zu tun als formal von ihnen erwartet wird. Im zweiten Fall können die Mitglieder motiviert werden, genau das zu tun, was formal von ihnen erwartet wird. Der Trend zum Occupational-Modell könnte als Entwicklung hin zur Zivilgesellschaft verstanden werden. Das Militär möchte also „in die Gesellschaft“. Zu diesem Befund gehört die Vorstellung, dass die Rolle der militärischen Logik bei der nationalstaatlichen disziplinierenden Vergesellschaftung („Schule der Nation“) eine immer geringere Bedeutung zukommt.(10) Die paradoxe Situation besteht nun darin, dass zivilgesellschaftliche ExpertInnen-Verehrung erfordert, dass in der Armee hochspezialisierte Militärfachleute sitzen, die nichts mit den Massenheeren, die seit Napoleons levée en masse das Bild der Kriege der Moderne maßgeblich bestimmen, gemein haben, sondern in der Lage sind, die angeblich neuen chirurgischen Kriege zu führen. Saubere Kriege erfordern, so die immanente Logik, eine funktional-differenzierte Gesellschaft mit einem elaborierten Subsystem Militär. Die Zivilgesellschaft fordert einerseits eine Öffnung des Militärs (in Deutschland: die Einbeziehung von Schwulen, Frauen, Grünen und „AusländerInnen“), seine Transformation hin zu flexibleren Operationsmodi und die bedingungslose Unterordnung unter das Regime der Zivilgesellschaft, andererseits ein ausdifferenziertes, sich selbst steuerndes Subsystem, das in der Lage ist, Einheiten für solche Einsätze bereitzustellen. Im deutschen Fall musste sich das Militär, abhängig vom Militärhaushalt, unter das rot-grüne Oberkommando begeben, konnte aber hier die Erfahrung machen, dass es erst die Außenpolitik dieser Regierung war, die es ermöglichte, in größerem Umfang militärisch zu intervenieren.

 

Sturmgeschütz der Zivilgesellschaft - Menschenrechte:

Das deutsche Narrativ der Kriege um der Menschenrechte willen, das in diesen Fällen NATO erwähnt und Deutschland meint, bedauert, die NATO habe es versäumt, sich rechtzeitig auf die Konflikte der neuen Weltordnung einzulassen und v.a. militärisch und argumentativ in der Lage zu sein, zu mobilisieren und zu intervenieren, wenn Menschenrechte bedroht sind, wie sich in den Konflikten in (Ex-)Jugoslawien gezeigt habe. Dies habe man aber, so das Narrativ weiter, überwunden, wäre jetzt endlich in der Lage, mit der militärischen Option als „ultima ratio“ zu agieren. Nun sei es anerkannt, dass „zum Schutz der Opfer vor böser Gewalt auch militärische Mittel bereit gehalten werden müssen“.(11)

Die evangelische Kirche stand Gewehr bei Fuß und legte 1994 mit „Schritte auf dem Weg des Friedens“ ein Strategie-Papier vor, das Kriterien nannte, nach deren Einhaltung in den Krieg gezogen werden dürfe. Nach denen dürfe erstens kein Staat/Staatenverband eine humanitäre Intervention selber legitimieren, müssen zweitens die Ziele für eine Intervention angegeben werden, sollen drittens die Erfolgsaussichten nüchtern kalkuliert sein und habe viertens Klarheit zu herrschen über das Wann und Wie einer notwendigen Beendigung der Intervention. Die Attraktivität dieses Kriterienkatalogs, der so oder so ähnlich tatsächlich durchexerziert wird und damit von paradigmatischer Bedeutung ist, liegt in seiner Windelweichheit, da die Kriterien zwei bis vier von vorneherein erfüllt sind, wenn Kriege so geführt werden wie bisher (also geplant und mit dem Ziel zu gewinnen). Das handfestere erste Kriterium wird, die UNO ist hier als Akteurin zu unsicher, so interpretiert, dass nicht UN-Gremien, sondern die eigene Interpretation der UN-Charta zur Entscheidungshilfe werden soll.

Zu den bevorzugt fokussierten Opfergruppen der Zivilgesellschaft gehören „Völker“ (unterdrückt), „Ethnien“ (bedroht), „die Zivilbevölkerung“ (leidet am meisten) und Kinder (leiden noch mehr). Auf die Konstruktion der Opfergruppe „Frauen“ sei an dieser Stelle eingegangen, da ihr, aufgeladen durch die Islam-Diskurse einerseits und die zunehmende Partizipation von Frauen an Kampfverbänden andererseits, eine besondere Bedeutung zukommt.

Frauenrechte sind zentrales Feature der Zivilgesellschaft, sozialisiert in partikularen Diskursen, und menschenrechtliches Klimmbims in einer Welt, in der Frauen zu einem Prozent am globalen Privatbesitz und Produktionsmitteln partizipieren. Es ist vor allem das Schleier-Argument, das als zivilgesellschaftliche Graphit-Bombe wirkt und dazu dient, differenzierte Argumentationen auszuschalten: „Veiling – to Western eyes, the most visible marker of differentness and inferiority of Islamic societies – became a symbol now of both the oppression of women […] and the backwardness of Islam, and it became the open target of colonial attack and the spearhead of the assault on Muslime societies“.(12) Wessen Rechte als Frau eingeschränkt sind, bestimmt die Zivilgesellschaft, Frauen müssen in der Logik der patriarchalen Kriegsmobilisierung Objekt und Opfer sein. Die globale patriarchale Ordnung führt dazu, dass, wer mit Frauenrechten argumentiert, immer genügend Munition vorfindet, ein Sozialwesen bombardieren zu lassen.

Der zivilgesellschaftliche Militarismus argumentiert mit Menschenrechten, um einen Krieg, der aus Sicherheits- oder ökonomischen Interessen geführt wird, zu legitimieren und für ihn zu mobilisieren. Für die Zivilgesellschaft, belastet noch durch pazifistische Restbestände, hat diese Argumentation Entlastungsfunktion. Kriege werden geführt, weil sie sich lohnen könnten. Das Regime, das nach einem erfolgreichen Krieg um der Menschenrechte willen installiert wird, bringt vor allem dann mehr Menschenrechte mit sich, wenn dies ideologisch-strategisch notwendig erscheint (für die Legitimität militärischer Folge-Operationen) oder wenn es sich (gesamtbilanziert) zu lohnen scheint, im Sinne eines kapitalistisch organisierten gesamtgesellschaftlichen Betriebsfriedens. Dies ist in den marginalisierten Krisenökonomien, die eher den Charakter eines transnationalen informellen Sektors haben, selten der Fall. Die entwicklungspolitische Debatte hat sich schon in den 1980er Jahren von den Vorstellungen vom Erfolg nachholender Entwicklung verabschiedet,(13) ambitionierte Projekte aufgegeben und wieder Humankapital vor die Pflüge der Subsistenzwirtschaft spannen lassen. Heute, 20 Jahre später, kann man

mit den mittels Menschenrechten rundum erneuerten Ideologemen von der nachholenden Entwicklung wieder Kriege legitimierten und führen.

 

Die zivile Gesellschaft und ihre Feinde

Die mit Abstand größte Bedeutung der derzeitigen Feindbilder(14) in der westlichen Welt erfährt der „islamische Fundamentalismus“, der oft implizit oder explizit in eins gesetzt wird mit „Islam“. Zum Inventar dieses Feindbildes gehören die standardisierten Zuweisungen von Aggression, Brutalität, Mittelalterlichkeit und Frauenfeindlichkeit. Kernbestand dieses Feindbildes ist, schon lange vor dem 11. September, der Terrorismus. Der Diskurs über den unzivilisierten und barbarischen Islam bildet die Gegenfolie zur eigenen kollektiven Identität als Zivilgesellschaft. Die teilweise massiven (Re-) Islamisierungstendenzen liefern dabei das Material zur Konstruktion der kommenden, die Blockkonfrontation ablösenden Weltkonflikte. Beide Seiten des „neuen Weltkonflikts“ haben das Religions-Argument schon gegen den atheistischen Kommunismus in Anschlag gebracht: Im Inneren, um jeweilige (vermeintlich) systemgefährdende Oppositionen zu brechen, nach Außen, um gegen Feinde zu mobilisieren. In beachtlicher Reibungslosigkeit wurden Anfang der 1990er Jahre die Feindbilder überblendet. „Der islamistische Extremismus stellt ohne Frage die beunruhigendste Bedrohung dar. […] Er nimmt den Platz ein, den der Kommunismus inne hatte als Widerstandsform gegen die westliche Welt“, proklamierte programmatisch das französische Verteidigungsweißbuch von 1994. Der damalige NATO-Generalsekretär Willi Claes dachte 1995 gar mit Wehmut an die guten alten Zeiten, als er prognostizierte, dass der islamische Fundamentalismus möglicherweise eine größere Bedrohung darstelle, als dies der Kommunismus je war. Bei der Entfaltung des islamischen Feindbildes konnte auf eine Jahrhunderte alte Tradition rassistischer Konstruktion des Orients im Okzident gebaut werden.

Die für die Tragfähigkeit von Feindbildern notwendige Vorstellung einer angegriffenen territorialen Integrität ist dabei heute aufgeweicht. Wenn nicht, wie im Fall des 11. Septembers, die nationalstaatliche Integrität tatsächlich angegriffen wird, ist in einer globalisierten Welt faktisch immer schon durch Botschaften, Stützpunkte, Investitionen oder Tourismus „Territorium“ gegeben. Im Zweifelsfall wird es durch den eher virtuellen Raum der Interessens- und Sicherheitssphären oder, wenn der Feind als universeller Feind gedacht wird, durch die Welt, innerhalb derer Menschenrechte militärisch durchgesetzt werden müssen, ersetzt. Der Sicherheitsbegriff ist ein offener geworden, hat sich wegbewegt einerseits von direkt bedrohten Nationalstaaten und andererseits von der übersichtlichen Bedrohungslage, in der stabilen overkill-basierten Paralyse der konkurrierenden Blöcke in den letzten Jahrzehnten, eher hin zu einer flexiblen und schnellen Bündnispolitik in den Trikont hinein und der Installation sicherheitsimperialistischer Operationsplattformen.

Die Feindbilder werden auch im Inneren personalisiert. Wurde im Kalten Krieg in der (radikalen) Linken die Brückenköpfe Moskaus ausgemacht, kommt diese Funktion des inneren Feindes heute nur noch den MigrantInnen als ImporteurInnen von Krankheiten, Seuchen, Terror und Fundamentalismus zu. In beiden Fällen wurden auf in der Regel kreuzbrave BürgerInnen scharf konturierte Feindbilder projiziert, leicht gebremst weniger durch bürgerrechtliche, sondern durch strategische Erwägungen.

Der Islam ist u.a. deswegen als Feindbild attraktiv, weil in dieses Feindbild die Zukunftsängste der westlichen Gesellschaft integriert werden können. Die Menschen im Westen ahnen, dass der Islam sich eignet, „dank seiner Einfachheit und inhärenten Militanz, zur Ideologie für die Verdammten der Erde zu werden“.(15) Mit dem Islam bedrohe die „Dritte Welt“ die Metropolen. Prognosen wie die Huntingtons vom niedergehenden Westen und von aufsteigenden „Kulturen“ Islam (arabische Staaten) einerseits und Konfuzianismus (China) andererseits, zeitigen gerade dann Wirkung, wenn die Angesprochenen meinen, diesen „Trend“ schon am eigenen Geldbeutel erkennen zu können.

Wenn die westlichen Zivilgesellschaften zunehmend weniger bereit sind, bei militärischen Interventionen eigene SoldatInnen zu opfern, wissen sie, dass sie einem Feind gegenüber stehen, der dies als Schwäche versteht. Völlig an den tatsächlichen weltweiten Machtverhältnissen und Gewaltursachen vorbei, wird die eigene Gesellschaft als offene und durch ihre Zivilität benachteiligte gegenüber den skrupellosen Aggressoren, die von den Rändern her die freie Welt bedrohen würden, apostrophiert.(16)

Der neben der Gewalt den Fanatismus begrifflich ausmachende Irrationalismus hat, darüber herrscht Konsens, seine Heimstatt in der arabischen Welt. Die kollektiv attestierten Beschädigungen reichen (neben dem Fanatismus) von Paranoia über Masochismus und unterentwickeltem Bewusstsein für „Identität“ bis zum schlichten Wahnsinn. Wahnsinnige sind unsichere InteraktionspartnerInnen, ökonomisch wie politisch, und deswegen werden Flugzeugträger gebraucht, und deswegen müssen Präventivschläge geführt werden können. Entgegen der offenen Feindbildmodulation verweisen alle sicherheitsimperialen Strategien implizit in ihrer Anlage darauf, dass die jeweiligen AggressorInnen als planende, als Handel treibende, als rationale AkteurInnen ernst genommen werden. Jenseits der eher kühlen Strategien der politischen Eliten denkt die Zivilgesellschaft „nach Außen“ bevorzugt in ethnischen und kulturalistischen Kategorien und laviert dabei damit, dass „die angebliche Demokratiefähigkeit des Islam je nach Bedarf, einmal zu kulturellen Recht, einmal zu entscheidenden Makel erklärt wird“.(17)

Der Terror entsteht auf einer zunehmend jüngeren, sich zunehmend vergrößernden und zunehmend marginalisierten gesellschaftlichen Basis. Mobilisierend durch quasi-sozialstaatliche Leistungen und getrieben, weniger durch religiösen Fanatismus, sondern vielmehr von politisch kalkulierten Ideologien durch Gruppen im Kampf um die Vorherrschaft in der jeweiligen Gesellschaft. Der Terror ist dabei vor allem taktisches Mittel und Ausdruck konventioneller militärischer Inferiorität, gerichtet weniger gegen den Westen, sondern primär gegen die diesem angeblich ergebenen und korrupten Eliten. Lässt sich „Islam“ auf Milchmädchen-abstrakter Ebene noch relativ geschlossen versimpeln, fällt das bei dessen angeblich herausragenden RepräsentantInnen, den TerroristInnen, ungleich schwerer. In Netzwerken organisiert, staatenunabhängig und mobil, „geben sie nun eines der diffusesten Feindbilder ab, das die Geschichte je kannte“.(18)

Verdichtet sind die Ängste des Westens im Begriff des Djihad, der Verbindung zwischen islamischer Massenmobilisierung und Terrorismus. Was „Djihad“ ist, darüber besteht im Westen größere Einigkeit als in der arabischen Welt. Unter Gläubigen deckt das Verständnis von Djihad ein Spektrum von der missionarischen und militanten Verbreitung des Glaubens über seine aktive Verteidigung bis hin zu spirituellen Vorstellungen von innerer religiöser Perfektionierung ab. Im politischen Diskurs ist der Begriff umkämpft. Der säkulare Saddam Hussein versuchte, ihn im zweiten Golfkrieg auszurufen, dabei unterstützten ihn islamische Geistliche, während andere zum Djihad gegen ihn aufriefen und wieder andere, wie der islamische Rechtsgelehrte Abdal’aziz ibn Baz, den Krieg der NATO gegen den Irak als heiligen Krieg verstanden wissen wollten.

Faktisch militärisch bedroht und angegriffen von einem Teil der „arabischen Welt“ ist der Staat Israel, der unabhängig von seiner eigenen Verteidigungsfähigkeit alle Unterstützung verdient, wenn er sich dieser Aggression erwehrt. Dieser faktischen Bedrohung gegenüber verwässert ihre Verallgemeinerung, aufgeladen und verstärkt durch die diffusen Ängste vor einer als homogen halluzinierten „fremden Kultur“, das Bewusstsein für die spezifische Bedrohung. John Esposito beschreibt die Konstruktion des Mythos der islamischen Bedrohung als eine dreifache: eine politische, eine demographische und eine sozio-religiöse/kulturelle.(19) In der passenden Bebilderung sieht man oft fanatisierte Massen, kaum jedoch einzelne Muslime, abgesehen von den hohen terroristischen Repräsentanten.

Die Überzeichnung und Verdichtung von abschaffungswürdigen sozialen Tatbeständen und religiösem/ideologischem Blödsinn zu Feindbildern ist nicht problematisch, weil sie nur einen kleinen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der arabischen Welt erfasst, sondern weil damit zum Töten von Menschen mobilisiert wird, weil Rassismen konturiert werden, die nach innen und nach außen wirken, weil sie dazu dienen, die eben nur relativ repressiven Verhältnisse in den Metropolen zu verschärfen, zu idealisieren oder gar auszublenden, weil sie die eigene Verantwortung ausblenden, und v. a. weil sie, kulturalistisch argumentierend, ökonomisch intendiert, den Clash of civilsations/cultures erst Wirklichkeit werden lassen.

 

Die Zivilgesellschaft der Deutschen

Colonel S.L.A. Marshall, ein Oberst der U.S.-Streitkräfte, befragte während des Zweiten Weltkrieges Soldaten in ca. vierhundert Infanteriekompanien, um ihr Verhalten während Schlachtsituationen zu erforschen. Das Ergebnis erschütterte die amerikanischen Militärs. Im Schnitt schossen, auch wenn ihre Stellungen direkt angegriffen wurden und ihr Leben in Gefahr war, nur 15% der Soldaten. Auch die Soldaten waren überrascht, da sie vermuteten, dass sie mit ihrem Verhalten allein wären. Nicht Angst war der Grund für ihr Nicht-Schießen, sondern der Unwillen zu töten, „wenn es keinen Anlass dazu gab“. So ungefähr mag eine Armee in einem Staat funktionieren, der einen Teil dessen, was die Zivilgesellschaft vorgibt zu sein, implizit einlöst. Es war dies die Geburtstunde der Militärsoziologie, die ihren Teil dazu beigetragen hat, dass so etwas nicht wieder vorkommen sollte.

Der Anlass zu töten wäre damals gegeben gewesen. Die amerikanischen Soldaten hatten die widerlichste Armee der Weltgeschichte vor den Flinten, und den erprobten Vernichtungskriegern in ihr waren solche Skrupel völlig fremd. Um die aus dieser Armee hervorgegangene Bundeswehr wieder salonfähig machen zu können, d.h. sie an die Front schicken zu dürfen, bedurfte es eines gründlichen und glaubwürdigen gesellschaftlichen Einsatz-Briefings. Die Deutschen taten sich aber schwer mit der Zivilgesellschaft. Jahrzehntelang mussten sie sich von SozialwissenschaftlerInnen, was Partizipation betrifft schwere Defizite attestieren lassen. Mit der Diffusion der 1968er in die Institutionen war diese Nuss leidlich geknackt und als diese in der Regierung angekommen waren, konnte eine Art Zivilgesellschaft von oben inszeniert werden. Die Shoah wurde in einer Art Schubumkehr zum Garanten deutscher Sensibilisierung für Genozide verwandt. Wenn die Deutschen Krieg führen möchten, verweisen sie auf Auschwitz, wenn sie gerade keinen führen möchten, verweisen sie egalisierend auf zwei schreckliche europäische Kriege, die ihnen noch in den Knochen stecken würden.

„Wir sind eben ein Land, das inzwischen wieder Krieg führt“, erklärte laut Spiegel der Berliner Militärhistoriker Rolf-Dieter Müller das grundsätzliche brennende Interesse deutscher StudentInnen an seiner Stalingrad-Vorlesung, sie wollen eben wissen, „was eine Division ist oder wie eine Panzerarmee funktioniert“.(20)

Die Deutschen schickten ihre Soldaten hinaus in die Welt, und es ist Ausdruck neuen deutschen Selbstbewusstseins, wenn aufgrund von wahltaktischen, v. a. aber um eigene strategische und materielle Interessen im Nahen Osten trotz einer relativen militärischen Impotenz durchzusetzen, der Krieg gegen den Irak abgelehnt wird. Kriege, die nicht in die deutschen außenpolitischen Konzepte passen, sind plötzlich nicht mehr postmateriell, sondern dann geht es wieder einzig und allein, ganz nach Antiimperialismus-Hausmacher-Art, ums Öl.

Die Bundeswehr gelangt, links, zwo, drei vorwärts, zwei zurück, zum neuen Kernbestand der deutschen Zivilgesellschaft, zu dem die Friedensbewegung als Altgediente bereits gehört.(21) Letztere ist immer schon zur Stelle, wenn es gegen die USA zu protestieren gilt. Mit Menschenrechten gegen den Krieg zu mobilisieren, ist der Versuch, Profil zu gewinnen, indem aus der Not (relative militärische Schwäche) eine Tugend (Menschlichkeit) gemacht wird, mit der (strategischen) Intention, deutlich zu machen, dass der Dienstweg über Deutschland geht. Wer den zivilgesellschaftlichen Militarismus angreifen will, kann ihn deshalb auch in seinem Friedenswillen treffen.

 

Fußnoten:

(1) Unter Zivilgesellschaft sei hier verstanden: Die aktuelle Formation der bürgerlich formal-partizipativen kapitalistischen Gesellschaft mit starken und wirkungsmächtigen Ideologien, wie die des Anspruchs auf Autonomie gegenüber dem Staat. Zu ihr gehören außerdem liberale Wirtschaftspolitik, ein hoher Politisierungsgrad (ausgerichtet an den jeweiligen Partikularinteressen mit den dazugehörigen „Menschenrechten“) und der Anspruch auf gewaltfreie Konfliktregulierung. Die Funktionen der Zivilgesellschaft besteht im Ausloten von Modernisierungsmöglichkeiten für die kapitalistische Gesellschaft, dem sozialen Krisenmanagement und der reproduktiven Vergesellschaftung. Im deutschen Fall kann die Zivilgesellschaft als eine von oben verstanden werden, vor allem in ihrer Spielart als „Tätigkeitsgesellschaft“, die einen repressiv-disziplinierenden Kern mit einer demokratisch repräsentative Hülle umgibt. Einen Teil der Merkmale liefert idealisierend: Georg Kneer, Die Zivilgesellschaft, in: ders. u.a. (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe, München 2002.

(2) Krieg heißt dann (teilweise gemäß der offiziellen Nomenklatur der NATO) „humanitäre Intervention“, „Schutz von Menschenrechten“, „peacekeeping“ und in schärferen semantischen Formen „Friedenserzwingung“ (peace enforcement), preventive deployment und „Show of force“.

(3) Das Motiv des wahnsinnigen gunman taucht in abgewandelter Form auch im Antiamerikanismus des schießwütigen Cowboys auf.

(4) Mit „neuen“ bzw. „postklassischen“ Kriegen ist zur Zeit sehr öffentlichkeitswirksam: Herfried Münkler, Die neuen Kriege, Reinbek b. Hamburg 2002; Ders. und Eberhard Sens, Postklassische Kriege, Staatszerfall und Gewaltepidemie im Schatten der Gloablsierung, in: Lettre international 59 (2002).

(5) Edward Luttwack, Post-Heroic Military Policy, in: Foreign Affairs 75 (4/1996). Post-heroisch (ein Begriff der sonst noch im Zusammenhang mit (post)modernen Management-Strategien kursiert und von Peter Sloterdjik als Attribut von „old Europe“ benutzt wird) besagt, dass es unter den Intervenierenden keine Opfer mehr geben dürfe.

(6) Michael Ignatieff, Virtuell War. Kosovo and Beyond, London 2000. Die US-Generalität musste das für den Angriff auf den Irak bereitstehende Großaufgebot an Bodentruppen mühsam durchsetzen, mit der Argumentation, dass ohne diese der Krieg nicht wirklich gewonnen werden könne.

(7) Vgl. Michel Hardt und Antonio Negri, Empire, Frankfurt/M. 2002. Negri musste schon für den kommenden Krieg gegen den Irak verkünden, dass in diesem Falle ein backlash in das Vor-Empire stattfände.

(8) In der US-Variante argumentierte Clinton damals, dass die Shoah nicht hätte stattfinden können, wenn die AmerikanerInnen sich rechtzeitig in Europa engagiert hätten. Teilweise wird die Verwendung der Shoah als Messlatte für die Relevanz von Interventionsgründen in einer radikal-universalistischen „Lesart“ auch theoretisch explizit begrüßt. Vgl. Daniel Levy und Natan Sznaider, Erinnerung im globalen Zeitalter. Der Holocaust, Frankfurt/M. 2001.

Auf die deutschen (außenpolitischen) Argumenationsmuster in diesem Zusammenhang wird an späterer Stelle eingegangen.

(9) Charles Moskos und Frank R. Wood (Hrsg.), The Military. More Than Just a Job?, Washington 1988.

(10) Martin Shaw, Post-Military Society. Militarism, Demilitarization and War at the End of the Twentieth Century, Cambridge 1991.

(11) Hartmut Löwe, Krieg führen um des Frieden willen? Über einige ethische und sicherheitspolitische Probleme bei der Durchsetzung der Menschenrechte, in: Führungsakademie der Bundeswehr (Hrsg.), Schriftreihe der Führungsakademie der Bundeswehr Hamburg, Akademie-Information 8 (2000).

(12) L. Ahmed, Women and Gender in Islam, New Haven 1993: „Verschleierung - in westlichen Augen das sichtbarste Zeichen von Verschiedenheit und Minderwertigkeit der islamischen Gesellschaften - wurde jetzt zu einem Symbol sowohl der Unterdrückung von Frauen [...] als auch der Zurückgebliebenheit des Islam. Sie wurde das offene Ziel kolonialer Attacken und die Speerspitze des Angriffs auf muslimische Gesellschaften.“

(13) Die Vorstellungen der nachholenden Entwicklung beinhalteten, dass die Staaten des Trikonts durch „Anschubfinanzierungen“ in Form von ökonomischen Kapital (z.B. Industrialisierung) und sozialem Kapital (v.a. Eliten) in Fahrt gebracht werden könnten und schließlich den Lebens- und Produktionsstandard der kapitalistischen Zentren erreichen.

(14) Die Konstruktion von Feindbildern dient der Mobilisierung des angeblich bedrohten Kollektivs. Zum Drohszenario gehören der Angriff auf die territoriale Integrität oder die Besitzstände einer Gesellschaft, der Angriff auf die körperliche Integrität der Mitglieder einer Gesellschaft und ihren ideologischen und identifikatorischen Haushalt.

Ein Teil der in diese Feindbilder eingelassenen Urteile über Repression, mörderische Ideologien und Praxen hat seine Berechtigung. Grob verdichtet, homogenisiert, schlampig ausargumentiert und instrumentalisiert für die Produktion und Reproduktion globaler Hegemonien unterminieren sie jedoch die notwendige Kritik an diesen Zuständen.

(15) Vgl. Freitag vom 10. Dezember 2002. Diese Angst würde sich verstärken, wenn die Menschen im Westen wissen würden, dass die meisten der ehemals reichen Golfstaaten bankrott sind.

(16) Bei völliger Fehleinschätzung der eigenen Möglichkeiten fallen Großmäuler wie Saddam Hussein auf diese Argumentation herein, wenn sie die US-Gesellschaft folgendermaßen einschätzen: „Die können doch nicht einmal zehntausend Tote verkraften“.

(17) Freitag, 12.10.2001

(18) Ebd.

(19) John Esposito, The Islamic Threat. Myth or Reality, New York/Oxford 1992.

(20) Der Spiegel 51 (2002). In ein ähnliches Horn bläst Gerd Krumreich, wenn er fordert: Militärgeschichte für eine zivile Gesellschaft, in: Christoph Cornelßen, Geschichtswissenschaft. Eine Einführung, Frankfurt/M. 2000.

(21) Am Nähesten kommen sich beide in ihren Affinitäten, wenn es darum geht, „Ethnien“ zu befreien und mit Staaten zu beglücken.

Jochen Faun
BgR Leipzig