Die türkische Linke und ihre Agenda

Über Preußen prägte ein französischer Adliger im 18. Jahrhundert den Satz: »Preußen ist kein Staat mit einer Armee, vielmehr eine Armee, die einen Staat besitzt.« Vor einem solchen Hintergrund lassen sich auch die laufenden Auseinandersetzungen in der Türkei verstehen: »Das Militär hält sich einen Staat und der Staat ein Volk.«

Diese Auffassung des Staates wird als natürlich betrachtet, und die Wortwahl des 68. Artikels in der nach dem Putsch vom 12. September 1980 beschlossenen Verfassung ist keineswegs auf einen grammatikalischen oder einen Tipp-Fehler zurückzuführen: »Die Satzungen und Programme der Parteien dürfen der unteilbaren Einheit von Staatsgebiet und Staatsvolk, [...] nicht entgegenstehen.« Diese Worte markieren im Verfassungstext eindrücklich, dass das türkische Staatsgebilde sich aus einem Staatsgebiet und einem Staatsvolk konstituiert. Egal welche auf die Türkei bezogenen Themen diskutiert werden, sie müssen unter dem Vorzeichen dieser Leitdoktrin erörtert werden. Im Folgenden werde ich mich mit den aktuellen Debatten in der türkischen Öffentlichkeit und insbesondere innerhalb der Linken auseinandersetzen, bitte dabei aber die LeserInnen sich das eben Gesagte immer vor Augen zu halten.

Die in der letzten Zeit gesamtgesellschaftlich und innerhalb der Linken kontrovers diskutierten Themen lassen sich in wenigen Komplexen zusammenfassen. Unter diesen rangiert zweifellos die Lösung der sogenannten »Kurdenfrage« an oberster Stelle der Agenda. Bei den übrigen Themen handelt es sich um den staatlich gelenkten Laizismus, die Minderheiten und den Nationalismus, die Islamisierung der Gesellschaft, den Einfluss der Militärs auf die zivile Politik und den Militarismus. Diese Themen sind eng miteinander verwoben, und das Gelingen wie auch Scheitern auf jedem einzelnen Gebiet hat starke Auswirkungen auf alle übrigen Themenfelder. Die Regime-DebatteMan spricht in der Türkei von der Regime-Debatte oder vom Infragestellen des Regimes, wenn man meint, dass die bisherige Republik kemalistischen Zuschnittes durch die Politik der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) Gefahr läuft in eine islamische Republik transformiert zu werden. Als »Debatte über die richtige Staatsform« ließe sich der Begriff daher am treffendsten fassen. der letzten zehn Jahre bildet den Aufhänger, anhand dessen diese Auseinandersetzungen geführt werden.

Minderheiten und Nationalismus

Die Debatte um die Lösung der »Kurdenfrage« beherrscht den politischen Alltag der Türkei. Seit dem ersten Anschlag der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) im Jahre 1984 hat sie bis heute nicht an Brisanz verloren, weder auf parlamentarischer Ebene noch innerhalb der Linken. Genau genommen hat der ihr zugrundeliegende Missstand eine weit zurückreichende Geschichte. Mehr als 40.000 Menschen starben in diesem schon bald 30 Jahren dauernden Bürgerkrieg, Tausende Dörfer wurden von staatlichen Einheiten in Brand gesetzt und entvölkert, Millionen von Menschen wurden vertrieben und mussten in die Großstädte fliehen, Abertausende mussten als AsylbewerberInnen das Land verlassen, Zehntausende wurden angeklagt und verurteilt, Tausende befinden sich wegen laufender Verfahren in Untersuchungshaft.

Die kurdische Unabhängigkeitsbewegung stellte anfangs die Forderungen nach Souveränität und Autonomie. Auch wenn diese zunächst formulierten Ziele aktuell bei den kurdischen Organisationen nicht mehr zur Sprache kommen, muss an ihnen festgehalten werden. Um die »Kurdenfrage« ein für alle mal zu klären, müssen die konkreten und umsetzbaren Forderungen der KurdInnen erfüllt werden. Diese Forderungen sind die Zulassung der kurdischen Muttersprache im Schulunterricht, die gesetzliche Anerkennung der kurdischen Identität, das ersatzlose Streichen von Bezügen auf und die Hervorhebungen der türkischen Identität in Gesetzestexten – inbesondere in den Artikeln der Verfassung –, die Gewährung von mehr Autonomie durch den Ausbau der Befugnisse der Kommunalverwaltungen, die Debatte um die Einführung eines föderalen Systems und die Abschaffung der Zehn-Prozent-Hürde bei Wahlen, um den Einzug von kurdischen VertreterInnen in das Parlament zu erleichtern.

Die Positionen der Linken zu diesen Vorschlägen könnten nicht unterschiedlicher ausfallen. Die atatürktreue und stark von den Aufklärungs- und Nationalismusidealen der Jakobiner geprägte türkische Linke vermag sich in ihrer Auseinandersetzung mit der »Kurdenfrage« nicht von ihrer nationalistischen Grundhaltung zu distanzieren. Organisationen wie die Türkische Kommunistische Partei (TKP) oder die Arbeiterpartei (IP), die sich als Linke begreifen, aber in keinster Weise emanzipatorisch links agieren, stellen sich mit ihrer nationalistischen Argumentation gegen die Forderungen der KurdInnen. Sie verschanzen sich hinter der Aussage, dass die Forderungen der KurdInnen zu einer Teilung der Türkei führen würden und der andauernde Bürgerkrieg ein Spiel imperialistischer Mächte mit der Unteilbarkeit der türkischen Republik sei.

Zweifelsfrei handelt es sich bei dem kurdischen Aufstand aber um einen Aufstand der Bevölkerung und die Linke hat die Pflicht, diesem Aufbegehren der in ihrem Land unterdrückten KurdInnen ihre volle Unterstützung zukommen zu lassen, obwohl dieser Aufstand, wie alle Aufstände dieser Art, auch nationalistische Züge trägt. Die Unterwerfung und Ausbeutung eines Staates durch einen anderen ist mit den Vorstellungen einer emanzipatorischen Linken nicht vereinbar. Und es liegt in der Verantwortung der Linken, sich gegen diese Art von Aggression zu erheben und diese zu kritisieren. Aus denselben Gründen muss die Linke eines Landes sich auch der Unterwerfung und Ausbeutung einer Bevölkerungsgruppe durch eine andere entgegenstellen. Solch ein solidarisches Verhalten wäre prinzipiell dazu geeignet, dem Nationalismus in der Türkei die Stirn zu bieten. Stattdessen nehmen aber linke Gruppen, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ihre ideologische Leere durch den ihnen vertrauten kemalistischen Nationalismus kompensierten, immer stärker rassistische Positionen ein.

Der sich so offenbarende Rassismus zeigt sich jedoch nicht nur unter den linken Organisationen, sondern auch auf parlamentarischer Ebene, wo sowohl die beiden Oppositionsparteien, die Republikanische Volkspartei (CHP) und die Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), als auch die Regierungspartei, Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), anlässlich der »Kurdenfrage« ihren Rassismus offen demonstrieren. So behauptet die regierende AKP einerseits, sich ernsthaft um die Lösung der »Kurdenfrage« zu bemühen, und stellt sich andererseits vehement gegen den Schulunterricht in kurdischer Sprache. Ironischerweise hat der türkische Premierminister Erdo?an bei seinem Besuch in Deutschland vor einigen Jahren die zwei bis drei Millionen in Deutschland lebenden Exil-TürkInnen dazu aufgerufen, sich für den Unterricht ihrer Kinder in deren türkischer Muttersprache einzusetzen.

Die Repression des Staates richtet sich nicht nur gegen die KurdInnen, sondern gegen alle Minderheiten. Die Auseinandersetzung der Linken mit den in der Türkei lebenden Minderheiten prägte vor dem Putsch von 1980, als der kurdische Aufstand noch kein großes Thema war, von wenigen Ausnahmen abgesehen die Vorstellung, dass eine Revolution eines Tages alle Probleme lösen wird. Insbesondere die immer stärkere Thematisierung des Massenmordes von 1915 an der armenischen Minderheit im Osmanischen Reich, wie auch die sich immer stärker zuspitzende »Kurdenfrage«, ließ die Linke jedoch erkennen, dass eine wie auch immer geartete Revolution derartige Probleme nicht lösen würde. Beide Themen sind konkrete Beispiele dafür, wie stark die türkische Linke vom Kemalismus und Nationalismus beeinflusst ist.

Die Gründungsväter der Republik setzten sich vornehmlich aus Jungtürken zusammen, die unter dem Einfluss jakobinischer Ideen aus der Zeit der Französischen Revolution standen. Diese Konstellation beherrscht seitdem die 87-jährige Geschichte der Republik. Es galt schon immer die Minderheiten zu unterdrücken, sie zu vernichten oder, wenn dies nicht möglich war, sie zu assimilieren. Seien es die antijüdischen Pogrome in Tekirda? im Jahre 1934, sei es die Vermögenssteuer, die zwischen 1942 und 1944 den Minderheiten auferlegt wurde, sei es das Massaker an AlevitInnen in Dersim im Jahre 1938, seien es die Pogrome von Beyo?lu in Istanbul im Jahre 1955, das alles waren keineswegs vereinzelte Vorfälle. Vielmehr sind sie auf die systematisch betriebene Unterdrückung der Minderheiten in der türkischen Republik zurückzuführen. Der Umgang mit den Minderheiten wurde so in den vergangenen 90 Jahren zum Lackmustest für die Linken. Die Staatspolitik war schon immer eine traditionell nationalistische, und auch die Linke war in ihrer Auseinandersetzung mit dem Nationalismus zunächst nicht in der Lage aus dieser Traditionslinie auszuscheren.

In diesem Zusammenhang ist es wichtig, auf die Ereignisse von 1915 näher einzugehen: den ersten Völkermord des vergangenen Jahrhunderts. Im Verlauf des 1. Weltkrieges, noch vor der Gründung der türkischen Republik, wurden einigen Quellen zufolge 1,5 Millionen ArmenierInnen – andere Quellen sprechen von 400.000 bis 500.000 ArmenierInnen – auf Befehl der osmanischen Führung aus verschiedenen Gegenden Anatoliens in die heute in Syrien gelegene Wüste deportiert. Die Führung hat das Sterben der Menschen im Zuge der Deportationen billigend in Kauf genommen und diese staatlich organisiert. Frauen, Kinder und alte Menschen wurden gezwungen, Tausende Kilometer zu marschieren, wobei sie nur soviel mitnehmen durften, wie sie tragen konnten. Sie wurden auf ihren Märschen von Einheimischen wie auch von den sie bewachenden Soldaten ausgeraubt und ermordet.

Die Republik, die sich als Erbe des Osmanischen Reiches sieht, hat die Verantwortung für jene Massaker niemals übernommen. Die offizielle Haltung ist, dass die Deportationen im Rahmen des Krieges notwendig waren, aber nur wenige Hunderttausend Menschen tatsächlich deportiert worden seien. Die Zahl der Toten sei maßlos übertrieben und der Staat habe sich damals mit seinen Aktionen im Recht befunden. Die Erörterung der genauen Zahl der Todesopfer hat zwar tatsächlich keine übergroße Bedeutung. Trotzdem trägt es zur Aufklärung bei, wenn man sich vergegenwärtigt, dass zum damaligen Zeitpunkt die offizielle Zahl der ArmenierInnen im Osmanischen Reich bei 750.000 lag, dagegen heute in der Türkei zwischen 40.000 und 50.000 beträgt. Am wichtigsten ist es, festzuhalten, dass der Staat damals seine eigenen Menschen deportierte. Als Grund für die Maßnahmen wurden die Aufstände der ArmenierInnen angeführt, jedoch waren die Deportierten in ihrer Mehrheit Frauen, Kinder und alte Menschen.

Dass es sich bei diesen Deportationen um einen Völkermord handelte, haben 18 Länderparlamente und sieben internationale Gremien, unter ihnen das Europaparlament und der Europarat, festgestellt. Diese Tragödie führte zu solch einem Trauma, dass in der Türkei das Wort »Armenier« bis heute als Schimpfwort und Beleidigung verwendet wird. Mittlerweile hat sich bei den (Exil-)ArmenierInnen eine historisch bedingte Feindschaft gegen die TürkInnen herausgebildet. Es wäre die oberste Pflicht des türkischen Staates, sich bei den ArmenierInnen zu entschuldigen. Dies würde aber einer Konfrontation der türkischen Gesellschaft mit ihrer Geschichte gleichkommen und dazu führen, dass die überkommenen, rassistisch-nationalistischen Vorstellungen einer Republik ohne Minderheiten, von TürkInnen, die immer nur gut und gerecht sind, und von einem Staat ohne Tadel angekratzt werden. Leider macht die türkische Linke auch angesichts dieser Herausforderung keine besonders gute Figur. Sie versucht ihren Nationalismus zu kaschieren, indem sie den von staatlicher Seite vorgegebenen Rassismus in ihre Reihen integriert und die Probleme auf internationale, geopolitische Konflikte reduziert.

Laizismus und Islamisierung

Wie der Staat sich den Laizismus vorstellt, offenbart sich bei der zwanghaften Durchsetzung der Ideale der Aufklärung. Der Laizismus wird offiziell als wertvollste Errungenschaft der türkischen Republik angesehen. Er hat aber mit dem Säkularismus angelsächsischer Ausprägung oder dem französischen Laizismus und im Vergleich zu dem, was von ihren Gründungsvätern als Republik behauptet wurde, nicht viel gemein. Generell zeichnen einen laizistischen Staat die Äquidistanz zu den unterschiedlichen Religionen und die Sicherstellung der Möglichkeit ihrer Ausübung aus. In der Türkei existiert hingegen eine Institution namens »Präsidium für religiöse Angelegenheiten«, die dem Ministerpräsidenten untersteht, inoffiziell die HanafitenDie Hanafiten sind eine der vier Rechtsschulen des Islams. (Anm. d. Ü.) unterstützt und vom Staat finazielle Unterstützung erhält. Ihre Aufgabe ist es, die Ausübung des Islam staatlich zu verwalten und zu kontrollieren. Die alevitische Religion wird als solche gar nicht erst anerkannt. Die christliche Missionarsarbeit steht unter der Beobachtung der Geheimpolizei und wird separatistischen Umtrieben bezichtigt. Wer sie betreibt, wird verfolgt und mitunter auch umgebracht.

Die in der Minderheitenfrage nationalistisch-rassistische Linke konnte sich bisher von der repressiven Politik des Staates ideologisch nicht lösen. In den letzten zehn Jahren wurde vornehmlich darüber gestritten, ob das Tragen von Kopftüchern in Universitäten dem Laizismus Schaden zufügt. Zweifellos ging es in der Diskussion nicht nur um die Frage der Kopftücher. Im Grunde nährte sich die Diskussion aus der Paranoia der staatlichen Eliten wie auch der Linken, dass die 2001 an die Macht gekommene AKP eine Islamisierung des Staates herbeiführt, den Islam als Leitideologie der Republik etabliert und ihn anschließend als Mittel der Unterdrückung gegen Nicht- und Andersgläubige benutzt. Die Ablehnung des Islam, die in den USA erst im Zuge der Anschläge des 11. September aufkam und sich dann in Europa verbreitete, existiert bereits seit der Gründung der türkischen Republik im Staat und in der Linken.

Sicher wäre es nicht hinnehmbar, wenn der Islam oder eine andere Religion sich zur Leitideologie des Staates entwickelte und als Unterdrückungsinstrument gegen Menschen und andere Religionen missbraucht würde. Aber, dass im Namen des Laizismus die Religion unter staatliche Kontrolle gestellt wird, der Staat den Menschen vorschreibt, wie und woran sie zu glauben haben, und den Frauen, wie sie sich kleiden müssen, erfordert Maßnahmen zur Verteidigung der Glaubensfreiheit, hinter denen sich auch die Linke positionieren kann. Die Linke müsste sich viel stärker dafür einsetzen, dass eins ihrer Grundprinzipien – Respekt gegenüber Andersdenkenden –, sich zum Dreh- und Angelpunkt im Umgang des Staates mit Religionen entwickelt. Und in der Tat lässt sich feststellen, dass sich gerade in den Kreisen der liberalen Linken langsam aber sicher diese Position durchsetzt, wenn es um den Laizismus im Allgemeinen und um die Kopftuchfrage im Speziellen geht.

Die beiden historischen Großereignisse, an denen sich die türkische Linke schon immer orientiert hat – zum einen die Gründung der Republik durch Atatürk und zum anderen die Oktoberrevolution und deren gemeinsame Orientierung an der französischen Revolution –, bereiten ihr in ihrem Umgang mit Religionen grundlegende Probleme. Es waren der preußische Weg und der Laizismus Bismarckscher Prägung, die sich, wenn auch indirekt, zur Zeit der Gründung der türkischen Republik als Staatsideologie durchsetzten und von späteren Generationen der Linken als Erbe akzeptiert wurden. So wie die französischen Jakobiner ihre geistigen Nachfahren enorm beeinflusst haben, war auch die Praxis des Bismarckschen Laizismus wegweisend für den türkischen Staat und die türkische Linke.

Militarismus, der Schattenstaat der Militärs und die Reaktion der Linken

In der Türkei wurden vor ungefähr zwei Jahren erstmals hochrangige Militärs festgenommen, denen die Beteiligung an Vorbereitungen zum Staatsstreich vorgeworfen wird. Bereits im Zuge der Ermittlungen löste dieses Verfahren starke gesellschaftliche Erschütterungen aus. Das Militär hatte in den Jahren 1960, 1971 und 1980 offen, im Jahre 1997 indirekt die Regierungen gestürzt, und jeder im Lande meinte, in den sich alle zehn Jahre wiederholenden Putschen eine gewisse Regelmäßigkeit zu erkennen. Die Linke kritisierte diese Staatsstreiche, weil sie sie als gegen sich gerichtet ansah. Dieser Kritik lässt sich grundsätzlich zustimmen, führt man sich die politische Situation in den Jahren 1971 und 1980 vor Augen.

Am 27. April 2007 versuchte die regierende AKP Abdullah Gül, dessen Ehefrau ein Kopftuch trägt, als Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten zu nominieren.Mittlerweile ist Gül der amtierende Staatspräsident. (Anm. d. Ü.) Diese Nominierung führte dazu, dass die Generäle einen modernen Putsch vollzogen und ihr Memorandum an die Regierung per Internet verbreiten ließen. Daraufhin kam die AKP in vorgezogenen Wahlen mit 47 Prozent der Stimmen (was einen Zuwachs von zehn Prozent gegenüber der vorherigen Wahl bedeutet) erneut allein an die Regierung. Mit gestärktem Selbstvertrauen begann die Regierung, gegen die Militärs vorzugehen und mit den Ergebnissen aus zehn Jahren Ermittlungsarbeit, die sie der Öffentlichkeit vorenthalten hatten, wurden Verfahren gegen Militärs eröffnet.

Gewichtige Teile der Linken, die sich früher als KritikerInnen der Putsche hervorgetan hatten, haben sich merkwürdigerweise diesmal auf die Seite der angeklagten Generäle gestellt. Die linke Kritik an der Durchführung des Ermittlungsverfahrens lasse ich hier außen vor, weil auch in diesen Verfahren die Ermittlungsbeamten und Gerichte in gewohnter Manier ihrer Arbeit nachgehen, sodass die gegen die Ermittlungen erhobenen Vorwürfe größtenteils gerechtfertigt zu sein scheinen. Aber an dieser Stelle sollen uns die politischen Widersprüche interessieren, in die sich linke Kreise an der Seite der angeklagten Generäle gestürzt haben. Den Anklägern wurden eine Menge Vorwürfe gemacht: die Moral der Soldaten würde untergraben, die Streitkräfte als Bewahrer und Hüter der laizistischen Ordnung geschwächt, das Land werde bald unter die Scharia gestellt werden.

Derartige Vorwürfe wurden anlässlich des Verfassungsreferendums vom 12. September 2010 erneut bekräftigt. Der Bevölkerung wurden bei diesem Referendum 26 Verfassungsänderungen zur Abstimmung vorgelegt. Von diesen 26 Änderungen sind 24 Änderungen sogar nach Ansicht jener Kräfte, die beim Referendum am Ende mit »Nein« gestimmt haben, positiv für die Rechte und Freiheiten der BürgerInnen. Gemeint sind Änderungen, die z.B. Angestellten im Öffentlichen Dienst ein Tarifverhandlungsrecht zugestehen, ArbeiterInnen mehr Rechte beim Eintritt in Gewerkschaften einräumen, Soldaten auch der Zivilgerichtsbarkeit unterstellen oder BürgerInnen das Verfassungsgericht anrufen lassen. Die Hauptkritik richtete sich gegen die Erhöhung der Zahl der Richter am Verfassungsgericht und gegen Veränderungen an deren Ernennungsverfahren wie auch an der Arbeitsweise und Struktur des Hohen Richter- und Staatsanwälterates (HSYK).

Man beharrte darauf, dass diese Veränderungen den Weg zu einem »Zivilfaschismus«Ein Begriff, der dem angestrengten Einfallsreichtum der Linken zu verdanken ist und vielleicht dankbar von der Literatur aufgenommen wird, aber letztlich keine Bedeutung erlangt hat. ebnen werden und die Gerichtsbarkeit sich nun der Exekutive zu unterwerfen habe. Kurz lassen sich die zwei Änderungen wie folgt zusammenfassen: Die Zahl der Verfassungsrichter wurde von elf auf 17 erhöht; zwei der Richter werden von nun an vom Parlament, ein Richter von der Anwaltskammer ernannt (sie wurden vorher alle vom Staatspräsidenten ernannt); die Zahl der Mitglieder des Hohen Richter- und Staatsanwälterates wurde von sieben auf 22 erhöht; und das Mitgliederauswahlverfahren des Rates wurde verändert. Wurden bisher alle Mitglieder des Rates vom Staatspräsidenten ernannt, können die Richter- und Anwaltskammern nun ihre eigenen KandidatInnen aufstellen und entsprechend einer Quote in den Rat wählen lassen.

Die durchgeführten Veränderungen lassen aber weiterhin Unzulänglichkeiten bestehen. Z.B. ist der Justizminister gleichzeitig Vorsitzender des HSYK und sein Staatssekretär wird automatisch als ordentliches Mitglied des Rates berufen. Trotzdem stellen alle vorgenommenen Veränderungen an der bisherigen Verfassung einen richtigen und vernünftigen Schritt hin zu mehr Freiheiten und Demokratie für die BürgerInnen dar. Die Beweggründe der Regierung hinter den Verfassungsänderungen und nicht die Verfassungsänderungen selbst stehen deshalb im Mittelpunkt der Kritik.

Fazit

Sowohl die des Putschversuches angeklagten Generäle als auch die 26 Änderungen an der Verfassung sind die Hauptursachen für die erdbebenartigen Erschütterungen der Staatsordnung. Regierungen, die in der Türkei über allgemeine Wahlen an die Macht kommen, haben nicht die volle Regierungshoheit über den Staat im demokratischen Sinne, weil in diesem Land seit Jahren ein sogenannter Tiefer Staat eine Parallelherrschaft ausübt. Bisher traute man sich nicht, die Personen und Strukturen, die diesen Tiefen Staat konstituieren, offen beim Namen zu nennen. In den letzten Jahren aber begannen die Menschen, mutig und offen über die Streitkräfte als die tragende Organisation hinter dem Tiefen Staat zu diskutieren.

Die Anklage der Generäle, die sich bisher unverwundbar und als Hüter und Bewahrer der kemalistischen Republik sahen, führt dazu, dass sich erste Verteidigungsreflexe beim Niedergang dieser Parallelwelt beobachten lassen. Das heißt, die Streitkräfte sind als über dem Gesetz stehende selbst ernannte Schutzmacht bei der Lösung der grundlegenden Probleme der Türkei das größte Hindernis und oft eng verbunden mit deren Ursache. Die repressiven Bemühungen der Militärs, sich eindimensionale, einfältige Menschen zu formen, sind in allen Lebensbereichen zu spüren. In der Türkei ist nicht öffentlich bekannt, wie groß der Etat Streitkräfte im Staatshaushalt ist. Worauf sich die Streitkräfteausgaben verteilen, lässt sich weder vom Rechnungshof, noch von einer anderen Institution nachvollziehen. Obwohl keine rechtlichen, strategischen oder politischen Notwendigkeiten es gebieten, unterhält der türkische Staat das zweitgrößte stehende Heer in der NATO (nach den USA). Die Zahl der Soldaten wird auf 500.000 bis 800.000 geschätzt, genaue Zahlen wurden jedoch noch nie veröffentlicht.

Die Generäle, die die Zivilverwaltung mit ihren wöchentlichen Pressekonferenzen, ihren informellen Gesprächen mit JournalistInnen und PolitikerInnen sowie ihren Kommuniqués und Memoranden über offizielle Webseiten kontrollieren, putschen alle zehn Jahre, sobald sie meinen, die Zügel aus der Hand zu verlieren. Die Zeit wird zeigen, ob diese über dem Gesetz stehende Struktur zu Fall gebracht werden kann oder nicht. Wie dieser Prozess sich beschleunigen lässt, hängt stark davon ab, ob die Linke in dieser Frage bereit ist, Verantwortung zu übernehmen, ohne dabei ihre eigentlichen Ziele aus den Augen zu verlieren.

Für einen erheblichen Teil der Linken, dessen Handeln sich auf das wehleidige Lamentieren über sich als Opfer und das Unheil der Welt beschränkte, gilt es jetzt die sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Die eine Seite der Medaille dabei ist, dass es sich bei der AKP um eine klassisch konservative Partei handelt, die sich stark islamischer Motive und Bezüge bedient. Die andere Seite ist aber, dass sie mit ihrer seit drei bis vier Jahren verfolgten Politik gegen den Schattenstaat der Militärs die Linke klar hinter sich gelassen hat, weil es dieser leichter fällt, sich hinter gängigen Klischees – »mit Reaktionären gibt es keine Zusammenarbeit«, »aus den Erfahrungen Irans müssen Lehren gezogen werden«Gemeint ist das Bündnis zwischen linken und islamistischen Kräften während der iranischen Revolution von 1979, in dessen Ergebnis die linken BündnispartnerInnen von den IslamistInnen verfolgt und in zahlreichen Fällen auch umgebracht wurden. (Anm. d. Red.), »nicht zulassen ein Spielball der Westmächte zu werden«, »die Imperialisten unterstützen die Separatisten« – zu verstecken, als sich den konkreten Problemen mit einer angemessenen Ideologie und neuen Handlungsoptionen zu nähern. Wenn man sich die ideologische Zersplitterung innerhalb der Linken anschaut, gibt es trotz unterschiedlicher Überzeugungen eine unbedingte Gemeinsamkeit, die nicht aus den Augen verloren werden sollte: sich für mehr Rechte und Freiheiten einzusetzen. Diese Rechte und Freiheiten darf die Linke aber nicht nur für sich selbst, sondern muss sie für alle, trotz aller Differenzen, einfordern. Alles andere führt zu Gewaltherrschaft und Hegemonie.

HAYDAR SIGINAK

Der Autor lebte einige Jahre in Deutschland und ist heute Anwalt in Istanbul, wo er sein Referendariat beim Türkischen Menschenrechtsverein absolviert hat. Übersetzung aus dem Türkischen: ILKER.