Die »Wende« für immer

Warum die Deutschen nach einem Roman suchen, den es nicht geben kann

Seit Jahren wird landauf, landab in allen Feuilletons, in den Literaturhäusern, auf Websites, von den Verlagen und von wo auch immer der so genannte »Wenderoman« eingefordert, auch LektorInnen und schließlich sogar AutorInnen selbst glauben an dieses Wunderding. Und seit ebenso vielen Jahren wird, zumeist enttäuscht, festgestellt, dass auch dieses oder jenes Buch nicht der »lang erwartete Wenderoman« sei, egal, ob das Buch überhaupt als ein solcher von Verlag und AutorIn angepriesen worden ist oder nicht. Schließlich, und das ist nicht ohne Komik, wird sogar der »Wenderoman« als Gattung – und eben nicht nur dieses oder jenes infrage kommende Buch als dieser – von einigen linken PublizistInnen vehement bekämpft. Dabei handelt es sich beim »Wenderoman« um ein merkwürdiges Phänomen. Es ist eher eine Behauptung als eine Tatsache, dass es ein solches Buch gäbe. Und es ist fraglich, ob und wie es das überhaupt geben kann. Denn »der Wenderoman« ist, nach allem, was man bislang über Literatur, Literaturbetrieb und beider Funktionsweisen weiß, noch nicht geschrieben worden und kann wahrscheinlich gar nicht geschrieben werden. Ebenso wenig, wie es – dies nur als Beispiel – »den« 1848er-Roman gibt oder einen literarisch bedeutenden Roman zum Thema »die Neutronenbombe«. Weder ist »die Wende«, also der Mauerfall, noch ist 1848 oder die Neutronenbombe ein Thema an und für sich. Die Letztere ist ein Ding, die anderen sind Bezeichnungen für Ereignisse, und sie allesamt sind hochkomplex, und begeistern HistorikerInnen oder BombenexpertInnen, doch einen Roman ergeben die Ereignisse als solche nicht. Wäre Deutschland eine Person, und die Mauer Synonym für eine Persönlichkeitsstörung wäre mit dem Ganzen vielleicht noch etwas zu machen. Denn ein Roman kann allein aus einem Konflikt heraus entstehen, der wiederum in einem Plot bearbeitet wird. Die »Wende« an und für sich ist kein Thema. Anders aber als in der Literaturwissenschaft sonst üblich – auf deren Forschungen sich die Literaturkritik ja beruft –, wurde der »Wenderoman« dennoch bereits im Jahr 1990 als Konzept in die Welt gesetzt und seine Umsetzung verlangt. Die Forschung erschuf sich also selbst ein Subgenre, das erst mal definiert werden musste. Dass aber die Wissenschaft, die eigentlich die Phänomene zu beschreiben hat, nicht von denjenigen, die diese Phänomene hervorbringen, einfordern kann, was sie künftig beschreiben möchte, liegt auf der Hand. Dennoch geschah dies. Warum? Der Wenderoman ist zunächst einmal eine Wunschvorstellung. Er wurde von engagierten LiteraturkritikerInnen, die nach dem Fall der Mauer einen politischen Höhenflug erlebten, ebenso wie von LiteraturwissenschaftlerInnen aufgebracht, die sich aus ihren Studierzimmern plötzlich ins Leben herausgerissen, ja in den Mittelpunkt der Geschichte hineingerissen sahen. Der Wunsch nach einem »Wenderoman« ist ein Produkt der nach 1990 vorherrschenden Euphorie in diesen Kreisen, er ist, wenn man so will, Ausdruck eines egozentrischen Verlangens. »Und da komm ich drin vor« wollen die Leute sagen können, sie wollen selbst zu diesem für sie schönen Augenblick in die Buchstabenwelt verfrachtet, ihr Ebenbild soll dort gebannt werden, gefangen eben in Goethes schönem Augenblick. 1989/1990 brachte für LiteraturwissenschaftlerInnen Erleichterung, politisches Denken konnte man noch, hatte sich aber bis 1989 nicht mehr getraut, es anzuwenden, stattdessen pflegte man Stifter oder die neueste Literatur der Innerlichkeit. Das beflügelte sie. Um Christa Wolf beispielsweise und ihre »Verstrickung« in das niedergeworfene System wurde heftigst, und ohne Rücksicht auf jede Höflichkeits- oder Respektsbezeugung gestritten, wie nie wieder danach. Grass wurde für seine Einwände gegen die »Wiedervereinigung« attackiert, und seine Literatur für überholt erklärt (was ja aus anderen Gründen auch stimmt, siehe unten). Ihre Euphorie und die Ereignisse selbst wollten die LiteraturbehandlerInnen nun zugleich, nachdem sie Gruppe 47 und die DDR-Literatur weitgehend entsorgt hatten, in Literatur verfrachtet wissen, für die Ewigkeit aufbewahrt. Die Lektüre von Romanen bestimmt eben immer auch der Versuch der Identifikation, daran hat sich offensichtlich auch nichts geändert, als die Form des Romans grundsätzlich revolutioniert und infrage gestellt wurde. Noch immer gilt in den Feuilletons der Roman als »Königsgattung«. Und dies auch Jahrzehnte nachdem der »Tod des Erzählens« deklamiert wurde, über 100 Jahre nachdem die modernen SchriftstellerInnen für sich feststellten, dass ihnen ein Romananfang á la »Morgens um fünf schlich sich die Gräfin heimlich aus dem Haus…« einfach nicht mehr gelingen könne, dass sie bekannten, dass jeder neue Gesellschaftsroman, der verfasst war wie einer, den Zola und Fontane nicht nur schreiben konnten, sondern – zu ihrer Zeit – geradezu auch mussten, ihnen bereits wie ein Rückschritt erschiene. Viele, viele Jahre nach all diesen, die Literatur gründlich durchrüttelnden Jahren glauben viele GermanistInnen und RezensentInnen an den Gesellschaftsroman, der zwar nicht restlos unmodern sein darf, aber auch nicht allzu modern. Das wiederum erklärt sich nicht nur mit geschmäcklerischen Ansichten oder gar mit Dummheit, sondern vor allem ökonomisch. Eine Kritikerin muss, will sie ihr Zeilengeld verdienen oder sich – sofern sie, die restlos Glückliche, denn fest angestellt ist – als wichtiges Mitglied des Literaturbetriebs etablieren, zwei bis drei Bücher pro Woche lesen, und dazu die Feuilletons der großen Tageszeitungen zumindest wahrnehmen. Allein das ist schwer zu bewerkstelligen, schwieriger ist es, wenn die zu lesenden Bücher dann auch noch komplex und/oder umfangreich sind. Die Bücher wiederum, die es zu lesen gilt, sucht sich die Kritikerin nicht allein aus. Um sich im Literaturbetrieb, wie er so schön und niedlich heißt, zu etablieren ist es wenig hilfreich, allein Lyrikbände oder Texte aus den siebziger Jahren zu rezensieren, man gilt als desinteressiert, verbohrt oder zumindest als »spleenig«. Zudem bedrängen diese Kritikerin die Presseabteilungen der Verlage, je mehr, je bekannter sie ist. Und Publikumsverlage kündigen als »Spitzentitel« eben nicht jene Bücher an, die sich schwer verkaufen werden oder die sie selbst für hochliterarisch halten, im Gegenteil, dann wiederum aber muss sich das viele, viele Werbegeld, dass man in den »Spitzentitel« investiert hat, wieder schnell einspielen. Und es ist sehr schwer sich dem Druck dieser Presseabteilungen, die unsere Kritikerin schließlich auch mit anderen Informationen versorgen, ihnen auch die wirklich ersehnten Bücher zuschicken, gänzlich davon abzubringen, dass man Buch A oder B eben nicht rezensieren mag. Schließlich und letztlich freut sich auch das Feuilletonpublikum, so jedenfalls unterstellen es die Chefredaktionen, wenn Bücher und AutorInnen besprochen werden »die man kennt«. Das alles befördert zum einen, dass immer mehr Porträts geschrieben werden, die die Auseinandersetzung mit dem Buch ersetzen und an ihrer Stelle den Autor in seiner Küche präsentieren, ohne jeden präziseren Kommentar zum eigentlichen Gegenstand des Textes, der selbstredend der »aktuelle« Roman (sic!) ist. Zum anderen hat es angesichts dieser Verhältnisse der konventionell geschriebene, nicht völlig blöde Roman einfach leichter als das komplexe Werk, die erschöpfte Kritikerin kann ja nun wahrlich nicht alles lesen. Ähnlich geht es dem Germanisten, der gleichfalls den Konjunkturen unterworfen ist. Nicht nur, dass es ungeheuer anstrengend ist, das Werk Friederike Mayröckers behandeln zu müssen, wenn die StudentInnen viel lieber über Sarah Kuttners »Mängelexemplar« reden wollen (weil sie glauben, dass letzteres, siehe oben »ihnen näher«, ja mithin »aktueller« ist), nein, auch in der Germanistik ist Flexibilität gefragt, nicht zuletzt in der Hinsicht, dass man nun StudentInnen auch offiziell allein für den Arbeitsmarkt und nicht mehr »für die Wissenschaft« auszubilden hat. Insofern ist auch der Germanist, will er denn, dass seine Schützlinge nicht automatisch TaxifahrerInnen werden, gezwungen, die literarischen Moden zumindest zu verfolgen. Für komplexe Werke bleibt keine Zeit. Dementsprechend wenig verwunderlich ist es, dass vor allem weitgehend konventionelle Gesellschaftsromane für wirklich »bedeutende Werke« ausgegeben werden, derweil andersartige Romane – etwa Neid von Elfriede Jelinek oder Die Abschaffung der Arten von Dietmar Dath – zurzeit höchstens als »wichtige« Exoten wahrgenommen werden. Doch obwohl manche AutorInnen sich durchaus redlich für den Feuilleton-Erfolg abmühten, gehorchte die Literatur nicht. Der »Wenderoman« nämlich, der jenen, die ihn fordern, wenigstens annehmbar erscheint, kann nicht so einfach gelingen, wie man denkt. Das hat mehrere Gründe. Einer ist die Form: Der Roman ist kein gutes Format für dramatische Ereignisse, schon gar nicht kann er auf die Schnelle erfassen, worum es geht. Dafür eignet sich das Drama weitaus besser. Und die deutschen Bühnen können sich nicht nachsagen lassen, dass sie in den vergangenen 20 Jahren zu wenige Stücke und Inszenierungen zum Thema Wende gebracht hätten. Inwieweit diese gelungen sind, steht auf einem anderen Blatt. Ein Roman hingegen braucht, wenn er gut sein soll, Zeit. Gerade dann, wenn er auch eine Chronik der Ereignisse sein soll. Es braucht Abstand um weitgehende Erkenntnisse über das aktuelle Geschehen formulieren zu können. Es braucht umfangreiche Recherchen und Materialsammlungen. Und es braucht HelferInnen, die ebenfalls bereits genügend Abstand zum Geschilderten haben und die den Roman bewerten können und dem Autor oder der Autorin Ratschläge oder gar ein Lektorat anbieten können. Mithin: es braucht Zeit. Eine reine Chronik der Ereignisse nämlich kann nicht Grundlage eines Romans sein. Wie man weiß, braucht selbst ein Buch, das keine Liebesgeschichte beinhaltet, glaubhafte Charaktere und es braucht Verwicklungen dieser Personen untereinander, um die Geschichte transportieren zu können. Demzufolge stellt sich die Frage: Kann und soll ein Roman überhaupt ein Buch zur Jetztzeit, ein aktueller Kommentar sein? Der Untergang des Bürgertums ist ein abstraktes Thema, bei dessen Bearbeitung ein Thomas Mann beispielsweise sehr viel Zeitkolorit in seine Buddenbrooks einfließen lassen konnte. Das Thema erlaubte das. Der erste Band des »Mann ohne Eigenschaften« hingegen erschien 17 Jahre nach den zeitgeschichtlichen Ereignissen, die Teil seines Settings sind. Und er war, wie das gesamte Romanfragment, weit mehr als ein Roman über das zerfallende Kakanien im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg, obschon er sicher auch als Zeitroman gelesen werden konnte. Dies allerdings war nie die einzige Lesart. Eine aufwühlende Zeit muss nicht unbedingt ein hinreichendes Thema ergeben. Was am Fall der Mauer, was am Ost-Westkonflikt vor und nach 1989 kann Thema eines Romans sein, das nicht besser in einer Reportage oder einem Essay aufgehoben wäre? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Es sei denn, man glaubt, dass über alles und jedes ein Roman geschrieben werden sollte. Es stimmt, dass der Roman neben der Erzählung die am wenigsten festgelegte literarische Gattung ist: Während der Novelle, der Tragödie oder der Glosse enge Grenzen gesetzt sind, ist im Roman vieles möglich. Trotzdem muss ein Roman, der die Wende beschreibt, mehr sein als ein papiernes Thesenwerk zum Fall der Mauer, in dem die Figuren hölzern agieren. Daher verwundert es nicht, dass ein wunderschöner, wenngleich auch ziemlich konventioneller Roman, der den Ost-West-Konflikt erklärt, erst jetzt erscheint: nämlich Rayk Wielands Ich schlage vor, dass wir uns küssen. Ein ironisches Buch, das das heutige Verständnis von der DDR als Missverständnis beschreibt, welches wiederum auf einem Missverständnis fusst, dass die DDR selbst von sich und ihren BürgerInnen hatte. Auf diese Weise kann man den Untergang der DDR verstehen. So ist er verständlicher als all jene Bücher, die, wie etwa Günter Grass mit seinem Roman Ein weites Feld, sich in die Gegenwart einmischen wollen, in die Politik der Jetztzeit von 1995. Derartige Romane haben keine Zukunft, da sie allzu schnell altern. Das alles aber wissen letztendlich alle, die am Literaturbetrieb teilnehmen, mögen sie nun Uwe Tellkamps Turm, diesen geschickt platzierten Buddenbrooks-Wiedergänger (der also den, nein, DEN bürgerlichen Roman der letzten 120 Jahre bis hin in sprachliche Varianten zum Vorbild hat), für den ersehnten »Wenderoman« halten oder lieber doch nicht. Trotzdem wird weiterhin nach ihm verlangt. Denn der »Wenderoman« wird noch aus einem anderen Grund gefordert als dem der Identifikationssucht (die Tellkamp übrigens aufs schönste bedient). Da wäre zum einen selbstverständlich der Versuch, mit dem Roman – als »Königsgattung« – endlich auch die Literatur insofern auf Linie gebracht zu haben, dass sie endlich ihren Beitrag zur Wiedervereinigung und zum neu erstarkten Nationalbewusstsein zu leisten hat. Anders nämlich als die Malerei, die Musik, das Schauspiel, der Pop und wie die Künste immer heißen mögen, hat die Literatur, einiger Essays, Gedichte und Dramen zum Trotz noch immer nicht ihr nationalkulturelles Meisterwerk abgeliefert. Die Malerei hat eine Leipziger und eine Dresdener Schule, die zusammen unter »Neue deutsche Malerei« Erfolge feiert. PopmusikerInnen haben sich wieder die deutsche Sprache erkoren, um ihre Gefühle oder »Neue Deutsche Härte« mitzuteilen, und wenngleich Tokio Hotel im Ausland englisch singen, so sind sie doch ein deutscher Schlagerexport. Deutsche Filme bekommen Oscars (ironischerweise ein Film über einen »guten« Stasi-Offizier), Til Schweiger darf drei Minuten in Hollywoodfilmen posieren, die Tanztheater touren um die Welt. Nur die Literatur hängt hinten an – nicht einmal Daniel Kehlmanns Millionenseller Die Vermessung der Welt hat es geschafft, der deutschen Literatur solchen Weltruhm zu verschaffen. Es wird weiterhin, obschon die literarische Produktion zurzeit, wenn auch etwas sehr langweilig, so doch hinnehmbar ist, jener »Wenderoman« gefordert werden müssen, der zugleich die Öffnung des »Eisernen Vorhangs« – die zwar, wenn man's genau nimmt, in Ungarn stattfand, doch lassen wir das beiseite – als »Mauerfall« und der Berlin als Hauptstadt beschreibt, der literarisch bedeutend ist und der nicht nur für sich, sondern für die ganze deutsche Literatur einstehen soll. Denn es gibt noch einen Grund, warum es ein »Wenderoman« sein muss, während ein Mauerfalldenkmal weitaus weniger nachdrücklich gefordert wird. »Was bleibet aber, stiften die Dichter«, weiß man mit Hölderlin. Und es ist eine urdeutsche Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, dass Denkmäler und Bilder zerstörbar sind, dass Plätze, ja Städte umbenannt werden, dass Filme und Aufnahmen verschwinden können, dass alles, was dreidimensional ist, Bilderstürmern oder Bomben zum Opfer fallen kann. Texte hingegen haben eine lange Lebensdauer, Bücher erhalten sich heutzutage auch abseits der Archive. Und die Ewigkeit ist ja nun das mindeste, was Deutsche für sich und ihre Taten fordern. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass KritikerInnen und WissenschaftlerInnen – wie so oft, wenn der deutsche Nationalkomplex in Menschen wütet – wider besseres Wissen und mit Vehemenz ein Ding einfordern, das es in der Form nicht geben kann. Sie wollen es dennoch haben.

~Von Jörg Sundermeier. Der Autor lebt als Verleger (Verbrecher Verlag), Autor (Der letzte linke Student) und Journalist in Berlin.