Dig it like Bentham.

Krise, Krieg und die Bewegung für Zivilisation und Demokratie

»Der Irak war das erste Land, in dem die Öl-Ressourcen verstaatlicht wurden, was zu einem gigantischen ökonomischen und sozialen Aufstieg dieses Landes geführt hat. Der Analphabetismus wurde ausgerottet und der Prozeß einer tiefgehenden Säkularisierung eingeleitet.

Der [irakische Angriff auf Kuwait] ist nicht auf die gleiche Weise zu verurteilen wie der Krieg gegen den Iran. Kuwait und die anderen Golfstaaten sind völlig illegitime Öl-Enklaven des Imperialismus. Es wäre durchaus ein demokratisches Anliegen, den Ölreichtum zum Nutzen der Volksmassen in der gesamten arabischen Welt einzusetzen.«

 

Interview von Werner Pirker mit Willi Langthaler, Junge Welt, 8. Februar 2003.

 

»Ja, wir wünschen uns eine Welt, in der Menschenrechte und Demokratie geachtet werden.

Was diese Welt braucht, ist mehr Verteilungsgerechtigkeit, mehr Demokratie und mehr Völkerrecht. Und das ist keine Frage der Moral oder der Humanität, das ist in der globalisierten Welt eine Grundvoraussetzung für Frieden und Stabilität«

 

Rede von Claudia Meyer, DGB-Jugendsekretärin, auf der Berliner Friedensdemo, 15. Februar 2003.

 

»Vielen Irakern gilt Deutschland als besonderes Beispiel, wenn nicht Vorbild für die Transformation einer zentralistisch verwalteten, militarisierten Diktatur in einen föderal organisierten Bundesstaat. Aus Deutschland sind in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder Initiativen zur Unterstützung und Beratung beim Aufbau föderaler und demokratischer Rechtsstaatsstrukturen in anderen Ländern ausgegangen.«

 

Thomas Uwer / Thomas von der Osten Sacken / Hans Branscheidt, Memorandum Irak, Februar 2003.

 

»Angesichts des wohlüberlegten Vorgehens in Afghanistan und dem Irak gibt es gute Gründe für die Annahme, dass die US-Strategie des Nation Building gegen das ethnische Reinheitsgebot der Selbstbestimmung der Völker gerichtet ist und für das Territorialprinzip optiert. (...) Dass die USA (...) [für Entwicklungshilfe] mehr aufwenden als jedes andere Land der Welt (...), wird von der weltweiten Antiimp-Propaganda verdrängt.«

 

Sören Pünjer, Die Strategie der vorbeugenden Selbstverteidigung, Bahamas 41/2003, 21.

Eine Kritik aktueller Spielarten der bürgerlichen Modernisierungs- und Demokratisierungsideologie hat in Zeiten des Kriegs- und Friedensgeschrei etwas von Krämerarbeit, zur sehr scheint die polarisierende Frage Pazifismus oder Bellizismus die Analyse zu besetzen. Doch auch wenn es altbacken anmuten mag: die Schürfarbeit danach, was manche antideutsche Linke mit so vielen Friedensfreunden oder aufgeklärten Zeit-Lesern, und alle zusammen mit Jeremy Bentham(1) gemein haben, ist auch nach dem Krieg gegen die Baath-Diktatur notwendige Bedingung einer Kritik des kapitalistischen Krisenmanagements, das auch in Zukunft kriegerische oder »polizeiliche« Interventionen als demokratischen Sachzwang vorsehen wird. Nur diese Kritik kann zugleich Waffe im Kampf gegen Islamfaschismus und die antisemitische Internationale sein.

 

I. Die Kunst des Lesens und der Kommunismus

Starten wir die Suche bei den sogenannten Antideutschen, aber nicht ohne unser eigenes Süppchen zu kochen. Im letzten Heft der Phase 2 versuchte sich Karl Rauschenbach von den Antideutschen Kommunisten Berlin an einer Kritik des Positionspapiers des Leipziger Bündnis gegen Rechts über »Die Möglichkeit der Revolution« sowie unserer »Basisbanalitäten über bürgerliche Gesellschaft und ihren Export«.(2) Gegenstand unserer ideologiekritischen Skizze waren die jüngsten Ideologeme im antideutschen Spektrum, die vom Wiederaufleben affirmativer Geschichtsphilosophie bei der Bahamas bis zum Demokratisierungs-Kanon eines Thomas Uwer und Thomas von der Osten-Sacken reichen.(3) So wenig Rauschenbach unsere Argumentation zur Kenntnis nimmt, so übereifrig denunziert er uns als postmodern-irrationalistische Amokläufer, die gleichgültig das Bestehende theoretisch verdoppeln, um so »den Kommunismus überhaupt zu exorzieren.« Nichts liegt uns ferner. Im Gegenteil richteten sich die Basisbanalitäten gegen den Missbrauch des Kommunismus zur nachtrabenden Legitimation der derzeitigen Weltordnungskriege durch Leute, nach deren Meinung kein Hahn kräht, und die ergo wie Grundschüler Dankesbriefe an »Bush, the man of peace« (Bahamas) aufsetzen. Sie richteten sich gegen die Annahme, diese Kriege stellten die historischen Voraussetzungen des Kommunismus her und seien daher zu begrüßen. Sie waren sich nicht einmal zu schade – deshalb hießen sie ja auch Basisbanalitäten –, auf die herzerfrischende Vorstellung Uwer’s einzugehen, die bürgerliche Demokratie sei eine Veranstaltung zur Hebung der Lage der arbeitenden Klassen, und das überfällige arabische 1789 (powered by Pentagon & State Department) bringe das Öl endlich in die Hände der Massen.

Rauschenbachs vorgebliche Replik geht auf all dies mit keiner Silbe ein und skizziert statt dessen eine Geschichtsphilosophie, die vom Alten über das Neue Testament zu Goethe und Beethoven führt, um schließlich mit Auschwitz abrupt zu enden. Seitdem sei einerseits jede Transzendenz perdu – »kein Ziel wird mehr gedacht« –, andererseits kann Rauschenbach trotzdem eine »dramatische Welt« heraufbeschwören und die »Alternative ›Kommunismus oder Barbarei‹« formulieren.

Wir halten es eher mit einem Begriff von Geschichte als Geschichte von Klassenkämpfen, deren Scheitern nicht rückblickend zur historischen Notwendigkeit zu verklären ist (»mangelnde Reife« etc.), sondern im Gegenteil als so kontingentes wie katastrophales Ergebnis bedauert werden muss. Und umgekehrt halten wir die Vorstellung für obskur, nach den Verbrechen des Nazi-Faschismus sei weltweit jede Vorstellung und jeder praktische Versuch der Emanzipation verschwunden. Es ist allerdings diese Vorstellung, die derzeit viele Linke zu Parteigängern von freedom & democracy macht und allerlei Hoffnungen in die USA setzen lässt. Während Rauschenbach vom »Krieg gegen den Terror« nun »höchstens [!] eine Atempause« erwarten will, die dazu genutzt werden könnte, »dem Kommunismus als Idee wieder Leben einzuhauchen«, machen sich seine Freunde von der Bahamas schon mal Gedanken über die »pragmatische Elendsverwaltung« der USA, die irgendwas mit einem zu begrüßenden »Optimismus des Westens« zu tun haben soll. Dieser Eiertanz zwischen einer mal mehr, mal weniger optimistischen Bezugnahme auf die USA und der notorischen Kommunismus-Akklamation, die so krampfhaft an die Traktate dran gehängt wird, als ahnten die Verfasser ihre Willkür, kommt letztlich doch nicht ohne den Glauben an Stadien- und Revolutionstheorie aus, auch wenn dies selten explizit ausgewiesen wird: Die Roßkur einer Totalisierung des Kapitalverhältnis, die die Menschen aller bornierten Bande entreißt, sie zwingt, sich zu nackten Subjekten der Konkurrenz und der Vergleichung zu »entwickeln« als Voraussetzung eines dann nicht mehr aufzuhaltenden Anspruchs auf Glück, dessen zwingende Dementierung durch die kapitalistische Realität schließlich alle zu Kommunisten werden läßt.(4)

 

II. »Demokratie« als Schwundstufe des bürgerlichen Fortschritts

Aber steigen wir jetzt aus den Tiefen des Besonderen zum allgemeinen Fortschrittsfuror auf.

Der alte Gegner, die Sowjetunion und ihr Ostblock, war noch am Zucken, als die westlichen Herrschenden, am lautesten die USA, die Schurken der Welt als Folgehauptfeind entdeckten. Diese Entdeckung war naheliegend – angesichts der Modernisierungsruinen, die allerorten in der Peripherie herumstanden und den Boden für Staatszerfall und unappetitliche Massenideologien boten, sowie angesichts der Tatsache, dass sich der eine oder andere Schurke den westlichen Weltordnungswünschen nicht fügen wollte. Andererseits wurde diese Entwicklung vom Westen natürlich in erster Linie nicht entdeckt, sondern mitproduziert: Denn so sehr »Demokratie« auch der Abgrenzung vom sowjetischen Staatskapitalismus diente, so wenig war man allzu pedantisch, wenn zwecks containment des »Kommunismus« despotische Regime zu stützen waren.

Genau dieses Mitproduzieren wurde nicht erst seit dem 11. September 2001 von den besorgten Herrschenden und ihrer Politikberatungswissenschaft notgedrungen verstärkt reflektiert, sondern bereits mit dem Ende der »friedlichen Koexistenz« Anfang der neunziger – wie taktisch und bürgerlich verkürzt auch immer: Die Weltordnungspolitik mußte sich ändern und diese Änderung wurde als eine zum Guten verkauft.(5) Dementsprechend wurde mit einigermaßen großem propagandistischen Getöse, nicht zuletzt seitens der USA, eine neue entwicklungspolitische Ära des Kampfes für Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte verkündet. Das schlug sich nieder zum einen in zahlreichen entwicklungspolitischen Papieren(6), in der Reanimation akademischer Entwicklungstheorie-Debatten – in denen der ein oder andere Abschied von der »großen Theorie« zelebriert wurde, auf der Grundlage freilich großer Ideologie des Nachbetens des neuen entwicklungspolitischen Paradigmas – und in der linken Kritik, die den Regierenden Heuchelei unterstellte und sich, wie heute, als die bessere Demokratisiererin bewarb. Zum anderen sind die praktischen Folgen nicht zu übersehen: Verstärkt schwärmten freiheitliche Grundordner des Westens zu den peripheren Bürokratien aus, vor allem nach Afrika; Demokratisierungs- und Rechtsstaatspunkte wurden zur Kondition von Entwicklungshilfe; und an einigen Stellen versuchte man kriegerisch Ordnung und Demokratie herzustellen, zum Beispiel in Somalia und im Kosovo.

Francis Fukuyamas frohgemute Erklärung von Demokratie & Menschenrechten zum »Ende der Geschichte« fand ihre Kehrseite in Samuel Huntingtons pessimistischem Szenario vom »Clash of Civilizations«, in dem sich nicht die Ausbreitung, sondern die Krise der westlichen Ordnung ausdrückte. Huntington hat selbstredend nicht den Hauch einer Ahnung von der Krise der kapitalistischen Produktionsweise als Grund der von ihm beschriebenen Entwicklung, deren Resultat – die Regression auf archaische Identitäten – er daher zum Motor des Geschehens machen muss. Doch schon immer besaßen die düsteren Denker des Bürgertums mehr Realitätssinn als ihre optimistischen Kollegen; so auch in den neunziger Jahren. Dass in Ex-Jugoslawien die »demokratische Ordnung« blutig und ethnisch sortiert ist und das Kosovo von der völkischen UCK und anderen mafiosen Rackets mitbeherrscht wird, ist allgemein bekannt; ebenso, dass Somalia auch nach der Militärintervention ein Clangewaltmarkt geblieben ist. Die von den westlichen Experten begleitete »Demokratisierungswelle« in Afrika ist schnell abgeebbt und endete teils in Bürgerkriegen – siehe als trauriger Höhepunkt Ruanda und aktuell Elfenbeinküste –, teils in Strukturanpassungsprogrammen mit dem Schwerpunkt »good governance«, also in erster Linie schnelles und korruptionsfreies Verwaltungshandeln. Im übrigen ist offensichtlich, dass das ganze Zivilisierungsunternehmen von Beginn aufs offensichtlichste konterkariert wurde, indem weiterhin mit genehmen Schurken paktiert wurde, etwa seitens der USA mit Hussein im Irak und islamistischen Rackets in Afghanistan.

Wie eh und je – und das ist keine besonders spektakuläre Enthüllung – pflegen die westlichen Metropolen einen taktischen Umgang mit ihren Bündnispartnern in der Peripherie. Die Kumpel von gestern sind die Gegner von morgen und umgekehrt. Nach dem 11. September 2001 gerieten die Taliban und das Baath-Regime ins Visier. Wieder geht es um Demokratie und Menschenrechte gegen Schurkenstaaten, insbesondere wieder in Perspektive Terrorismusbekämpfung, insbesondere wieder seitens der USA.

Alles wie gehabt: Profundes Regierungshandeln eines ganz profunden Souveräns. Doch ganz so nüchtern verpackt kommt das Krisenmanagement dann doch nicht daher. Ohne den moralischen surplus des Geredes von den zivilisatorischen Werten scheint es nicht zu gehen und gerade ehemalige Linke taugen als deren Verkünder bekanntlich bestens. Das historische Wissen um die Unmöglichkeit »zivilisatorische Werte« wie in frühbürgerlichen Zeiten und ohne Reflexion auf das praktische Dementi während Jahrhunderte dauernder Barbarei im kapitalistischen Zusammenhang in den Mund zu nehmen: Vergessen. Die Einsicht, dass »die Zivilisation« letztlich genau das ist, was wir derzeit weltweit erfahren, nämlich die allerorten praktisch nicht realisierte und kaum mehr geglaubte bürgerliche Ideologie: Geschenkt. Diese Aufgabe der Kritik objektiver Verhältnisse ist um so erstaunlicher, weil sich zum einen bereits andeutet, dass die Neuauflage des »guten Willens« aus den neunziger Jahren hinsichtlich der propagandistischen Ziele ähnlich ergebnislos bleibt wie ehedem und weil zum anderen die krisengeschüttelte innere Verfasstheit des vermeintlichen Agenten des Fortschritts zu wenig Vertrauen Anlass gibt. Demokratie und Menschenrechte werden auch mit dem naiven Hoffen auf die »gute« Bourgeoisie aus dem home of the Glücksversprechen weder gegen Islamismus und Antisemitismus helfen, noch weltweit nachhaltig Einzug halten. Aber im einzelnen:

 

III. Afghanistan und Irak: Die Herrschaft der Warlords und völkischen Rackets

In Afghanistan ist man »der Aufklärung um drei Zentimeter Bartlänge näher gekommen« (La Banda Vaga). Die islamistische Schreckensherrschaft der Taliban ist ersetzt worden durch einen international tolerierten Islamismus der Nordallianz. Programmatisch ließ einer der mächtigsten warlords dieser Allianz, Sayyaf, in seiner Rede vor der Loya Jirga im letzten Jahr verlautbaren: »Wer Gott und dem Propheten nicht gehorcht, ist es nicht wert, dass man ihm folgt.« Der spätere Präsident Karzai hat verstanden: Mitorganisiert vom Tugend-Geheimdienst der Nordallianz und begleitet von einer Kampagne gegen »antiislamistische« Kräfte, sicherten sich islamistische Warlords die lukrativen Posten in seiner Regierung. Eine Regierung, die aber ohnehin kaum Kabul kontrolliert und den Rest des Landes erst Recht der Bandenökonomie überläßt. Auch der Oberste Richter, Shinwari, der ein Befürworter der Scharia ist, inklusive Steinigungen und Amputationen, wurde von der Loya Jirga bestätigt. Die Scharia ist weiterhin gängige Sanktionspraxis, sogar in Kabul. Säkulare und vor allem demokratische Kräfte sind in Afghanistan jedenfalls weitgehend einflusslos.(7)

Außerdem haben bekanntlich auch viele der Staaten, die sich auf der »Achse des Guten« befinden, keine säkular und demokratisch reine Weste. Pakistan und Saudi-Arabien beispielweise bieten gleich beides: In Pakistan feierten Islamisten jüngst große Wahlerfolge, die allerdings in dem nur formal demokratischen Land wenig bewirken werden; die Herrschaft der saudischen Königsfamilie – wohl Hauptfinanzier des islamistischen Terrorismus – bleibt unangetastet.

Und im Irak: Auch wer kein Freund der friedensbewegten Zahlenspielereien über die zu erwartenden Opfer des Irak-Kriegs war, wird erleichtert zur Kenntnis nehmen, dass der Leichenberg deutlich kleiner ausgefallen ist, als nach dem Massaker am Golf 1991 zu befürchten stand. Zu verdanken ist dies der mangelnden Opferbereitschaft für das faschistische Baath-Regime seitens der Irakis. Zur Enttäuschung des vollends auf den deutschen Schäferhund gekommenen Antiimperialismus etwa der Jungen Welt, die einen irakischen »Blutzoll« für ein »Leben in nationaler Unabhängigkeit« entrichtet sehen wollte; in auffälligem Kontrast aber auch zur antideutschen Projektion der deutschen Volksgemeinschaft auf die arabischen Gesellschaften, wie sie mustergültig ein Arthur Harris und Donald Rumsfeld, Dresden und Bagdad vermengendes Plakat der Antideutschen Kommunisten Berlin leistet. Für die Zukunft des Irak deutete schon die Zusammensetzung des Iraqi National Congress (INC), dem von den USA lancierten Exilparlament vor dem Krieg, an, welche Hoffnungen man in die säkulare Demokratisierung des Landes setzen darf: Wenige Liberale standen einer Mehrheit von Vertretern gegenüber, die auf ethnische, islamistische und andere reaktionäre Politikkonzepte setzen. Mit dem Boykott der vom amerikanischen Militär organisierten ersten Konferenz von politischen Kräften im Irak nach dem Krieg durch die größte schiitisch-irakische Oppositionsgruppe Oberste Versammlung der Islamischen Revolution in Irak (SCIRI) werden die Zweifel größer; ebenso wegen der zunehmenden islamistisch motivierten Proteste gegen die amerikanische Besatzung. Es ist zu fragen, wie völkisch-nationalistische Kurdenrackets, islamistische Schiitenorganisationen und der Kampf der meisten politischen Gruppen um die Ölrente, und zwar nicht gerade in klassenkämpferischer Absicht, Demokratie und Menschenrechte hervorbringen sollen.(8) Letztlich kann man über den Irak mit einiger Sicherheit das sagen, was Justus Wertmüller einmal über die Türkei wusste: »Die zivile (...) Gesellschaft, die das Demokratieprojekt erheischt, gibt es nicht und wird es heute weniger denn je geben können. Im Angebot steht allein kapitalistische Elendsverwaltung. Der Trend geht auf weiteren Zerfall von Zentralstaatlichkeit und Gesellschaft. Der (...) Staat verwandelt sich schleichend in eine sich ethnisierende und kulturalisierende Bandengesellschaft. Einziger Sieger in der aktuellen Auseinandersetzung kann der Islamismus als autoritärer Versöhner sein. (...) Für eine andere Perspektive bräuchte es Kommunisten – aber die machen ja in Volk und Demokratie.«(9)

 

IV. Grenzen der Zivilisation

Die Beispiele deuten die Aussichtslosigkeit des Kampfes für einen – auch nicht gerade zu emanzipatorischen Begeisterungsstürmen hinreißenden – zivilisierten Kapitalismus im Weltmaßstab an. Die Demokratisierungsgläubigen überbieten in dieser Hinsicht sogar die alte Modernisierungstheorie noch in ideologischer Hinsicht, da sie den Zusammenhang zwischen ökonomischer und politischer Entwicklung kaum reflektieren. Dieser Idealismus in Reinform will den demokratischen Rechtsstaat, z.B. im Irak, mehr oder weniger aus dem Nichts schaffen, mit den Mitteln des Krieges oder der UNO.

Noch grotesker mutet die Rede vom Massenwohlstand an, die manche Demokratisierer artig als Forderung hinzufügen, um sich nicht dem Verdacht auszusetzen, Brecht nicht gelesen zu haben. Mittels Demokratisierung, so zeigt die Erfahrung, wird weder eine oligopolistische Ökonomie durchbrochen – im Gegenteil, wie einige afrikanische Staaten zeigen – noch wird die Weltmarktposition eines Landes verbessert. Die Marshallisierung der Welt nach Vorbild des postfaschistischen deutschen Demokratie- und Wirtschaftswunders – das im übrigen weitestgehend den einmalig günstigen Akkumulations- und Verwertungsbedingungen des sogenannten fordistischen Zyklus geschuldet war – ist eine Illusion. Sie hat nicht einmal im zerbombten Schwellenland Jugoslawien hingehauen, erst recht ist das für die Peripherie abzusehen, auch für den Irak. Dort ist eine eigenständige Akkumulation, die außer Öl etwas exportfähiges und konkurrenzfähiges in den Weltmarkt einspeisen könnte, genauso illusorisch wie für große Teile des Nahen und Mittleren Ostens insgesamt. Und ob das Öl, das in den Visionen der Demokratisierer ja die Grundlage eines Volkswohlstandes im Irak bilden soll, in einer privatwirtschaftlich und von westlichen Ölkonzernen abhängigen Ökonomie tatsächlich Rente für die Menschen abwerfen wird, ist mehr als fraglich.

 

V. Land of the free, home of the Glücksversprechen

Was als Projektionsfläche bleibt ist der Hinweis auf den vermeintlichen Agenten des Fortschritts, dessen krisengeschüttelte innere Verfasstheit jedoch zu wenig Vertrauen Anlass gibt.

Nach dem Ende des New Economy Boom der USA, der hauptsächlich auf Sand, sprich auf einer gigantischen Ausweitung der Kreditschöpfung gebaut war, steht die ökonomische und soziale Basis der USA im krassen Missverhältnis zu ihrer militärpolitischen Potenz. Das Handelsbilanzdefizit ist einzigartig, die private und öffentliche Verschuldung exorbitant. Dabei steht die Entwertung des fiktiven Kapitals in Form von Aktien und Immobilien erst am Anfang, was für die Mittelklasse verheerende Auswirkungen haben wird. Die Klassenpolarisierung ist an einem historischen Höhepunkt angelangt, die Bruttolöhne sind seit der Reagan-Ära für drei Viertel der Arbeitenden um 20 Prozent gesunken. Das Durchschnittseinkommen der Schwarzen liegt 60 Prozent unter dem der Weißen. Die Arbeitszeiten wachsen ständig. Überhaupt erinnert das Ausmaß, das die absolute Mehrwertproduktion und damit die extensive Ausbeutung der Arbeitskraft angenommen hat, an frühkapitalistische, die Arbeitsverhältnisse im einfachen Dienstleistungssektor – beispielsweise in der Putzindustrie – an feudale Ausbeutungsverhältnisse.(10) In historischer Perspektive betrachtet ist also eine Art Flucht zurück nach vorn zu konstatieren, signalisiert durch das, was Demokratisierungssoziologen den Rückgang »funktionaler Differenzierung« nennen würden, aber auch durch ein rückwärtsgewandtes Ausbremsen der durchschnittlichen Arbeitsproduktivität, indem beispielsweise statt zu rationalisieren auf Billiglohnjobs gesetzt wird.(11)

Der Zustand des gelobten Landes zeigt also selbst schon die Grenze der Demokratie und der individuellen Freiheit an, die eben immer schon eine Grenze des Geldbeutels war und es zunehmend sein wird. Es herrscht eine Situation, in der einiges dafür spricht, dass der american way of life und sein pursuit of happiness immer weniger den ideologischen Kitt einer zerfallenden Gesellschaft bilden kann, weil das Mindestmaß an plausibler Realisierbarkeit fehlt. Wenn der Begriff des Neoliberalismus auch wenig taugt, um die reale kapitalistische Entwicklung zu erfassen und viel, um den rheinischen Kapitalismus zu verteidigen, so nützt der Begriff doch, um jüngste Entwicklungen amerikanischer Massenideologie zu erkennen: Das ideologische Programm, das die skizzierten realen Entwicklungen befördert, heißt wohl weniger individuelles Glück, sondern mehr individuelle Leistungs- und Verzichtbereitschaft sowie Zero Tolerance. Das Sicherheitsbedürfnis, das sich mit Zero-Tolerance-Polizei, der Inhaftierung von mehr als einem Prozent der Bevölkerung sowie der Gründung privater Hochsicherheitsstädte für Reiche manifestiert, ist ein Indiz unter vielen.

Enduring freedom stellt daher auch den Versuch einer reaktionären politischen Elite dar, in der außenpolitischen Flucht nach vorn der innergesellschaftlichen und globalen Krise in einer Weise zu begegnen, die den Verfall von Zivilität nicht aufhält, sondern ihn eher noch befördert.(12) George Bush jr. hatte Recht, als er die Illoyalität des »alten Europa« geißelte, nicht anzuerkennen, dass die USA letztlich auch für diese Staaten die Drecksarbeit erledigt – eine Miterledigung, der allerdings deren eigenes hegemoniales Interesse, das antiamerikanisch und mit Hilfe von Völkerrecht verfolgt wird, bisweilen im Weg steht.

Urkomisch nimmt sich deshalb die Stilisierung Amerikas zum letztem Hort eines schwachen Abglanzes des bürgerlichen Glücks aus, wie sie seitens antideutscher Linker betrieben wird. Dabei greift die vermeintliche »kommunistische Kritik« auf den abgeschmackten Gegensatz von Gesellschaft und Gemeinschaft zurück. Hierzulande, wo derzeit im Namen größerer individueller Verantwortung der Sozialstaat zerschlagen wird, soll »völkischer Antikapitalismus« herrschen; im Falle Amerikas, wo die viel gepriesenen bürgerlichen Freiheitsrechte nach dem 11. September zu Teilen ausgehebelt wurden, will man vom Zusammenhang von Krise und autoritärer Formierung plötzlich nichts mehr wissen. Wenn dann auch noch ausgerechnet Rudolph Giulani, der Erfinder von Zero Tolerance, als Garant des unverbrüchlichen amerikanischen Liberalismus herhalten muss, ist der Bankrott der antideutschen Weltsicht offenkundig.(13)

 

VI. Conclusio

Es ist das Drama der Emanzipation, einer »zivilisierten« Welt ins Auge sehen zu müssen, die von Armut, politischer Destabilisierung, religiösem Wahn und despotischer Barbarei geprägt ist. Angesichts dieses globalen Kapitalismus kann von einer Wahl zwischen Schurkenstaat und Demokratie nur sprechen, wer ihren Zusammenhang verdrängt. Die aberwitzige kapitalistische Produktionsweise, die längst die ganze Welt wenn auch oder gerade im negativen Sinne integriert, führt zwar nicht automatisch und direkt zu solch brutalen Gesellschaftsformationen wie dem Baathismus oder Islamfaschismus. Als deren notwendige Voraussetzung bildet sie aber die Grenze der Demokratisierungsperspektive überhaupt. Die fetischisierte Grenze des Fortschrittsglaubens bleibt die Grenze seiner Realisierbarkeit: das Kapitalverhältnis.

Deshalb ist es alles andere als emanzipativ, sich an den virtuellen Tisch des kapitalistischen Krisenmanagements zu setzen, um die Weltkarte nach politischen und wirtschaftlichen Elendsregionen abzusuchen, die mittels Bomben oder Friedenstauben einer illusionären Entwikklung zugeführt werden sollen. Wenn Kommunismus mehr als eine Phrase werden soll, müssen die keineswegs abgerissenen Klassenauseinandersetzungen auf der Welt ins Zentrum gerückt werden, anstatt in dieser wie in einem Kaffeesatz zu lesen und nach der akzeptabelsten Elendsverwaltung zu suchen. Die iranischen Arbeiter, deren Kämpfe seit Wochen erneut das Mullah-Regime erschüttern, sind zwar bedauerlicherweise schlechter ausgerüstet als die US Army; wer jedoch am Kommunismus als Ziel der Geschichte festhalten will, dürfte in ihnen eher Verbündete finden als im State Department. Aber wer in jeder Kritik des Klassenverhältnisses den Antisemitismus wittert, weil die »Kapitalistenfrage ... stets und notwendig zur Judenfrage wird«(14), hat sich die kommunistische Option ohnehin selbst aus den Händen geschlagen.

 

 

Fußnoten:

(1) Unser Titelheld, der also schon für Karl Marx` Polemik »Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham« herhalten musste, war seinerzeit glühender Verfechter des Freihandels, Liberalismus und – man höre – des Pazifismus.

(2) Vgl.: Karl Rauschenbach: Von der Notwendigkeit eines Ziels der Geschichte, in: Phase 2, Nr. 7, 3/03, 76ff. Und: BgR/Leipzig: Die Möglichkeit der Revolution, in: Phase 2, Nr. 6, 1/02, 9ff. Sowie: Initiative: Kritik im Handgemenge: Basisbanalitäten über bürgerliche Gesellschaft und ihren Export, S. 21f.

(3) Eine differenziertere Kritik antideutscher Positionen hätte sich noch mit jenem beispielsweise z.T. von der Freiburger Initiative sozialistisches Forum (isf) vertretenen Strang auseinanderzusetzen, der den Krieg gegen den Terror weder geschichtsphilosophisch noch demokratisierungsideologisch legitimiert, sondern als »Zeichen gegen den euro-islamistischen Vernichtungsantisemitismus« betrachtet. Mit Zeichen u.ä. gegen Antisemitismus angehen zu wollen, mutet idealistisch an; ebenso die mitschwingende Hoffnung, die Produkte des Kapitalismus nachhaltig zu bekämpfen und ihren Produzenten ungeschoren zu lassen. Wenn von einer »Atempause für Israel« gesprochen wird oder von einer »Milderung der Verhältnisse« im Irak, wird schon eher ein Schuh daraus. Daß diese realitätsnäheren Hoffnungen trotzdem keine Parteinahme für die USA legitimieren, da die Hoffnungen und der Krieg ihres Hoffnungsträgers selbstverständlich nicht darauf gerichtet sind, die Wurzeln des Übels anzupacken, sondern eben nur darauf, eine kurze Unterbrechung der Barbarei zu gewähren, wird in diesem Beitrag gezeigt, auch wenn wir nicht explizit auf diesen Strang eingehen.

(4) Dieser orthodox marxistische Histomat ist mit Karl Marx selbst zu kritisieren. Im Brief an Vera I. Sassulitsch aus dem Jahr 1881 hat er den Glauben an die Notwendigkeit einer bürgerlichen Revolution als Durchgangsstadium zum Kommunismus von sich gewiesen. Sein Argument verweist zudem darauf, wie einseitig, und damit falsch das ständige Beharren auf ideellen Voraussetzungen von Emanzipation, wie dem Glücksversprechen, ist: Marx betonte die kollektiven Verkehrsformen in einigen russischen Agrargesellschaften als Grundlage für mehr. Hinzuzufügen ist noch, dass in der bürgerlichen Gesellschaft möglicherweise erstmals der universelle Anspruch auf individuelles Glück zur Massenideologie wurde. Formuliert war er allerdings schon seit Jahrtausenden, und zwar nicht nur als Ideologie, sondern als Subversion. Vgl. Johannes Agnoli, Subversive Theorie, Freiburg 1999, wo auf Seite 12 einleitend zu lesen ist: »Es wird sich bei der Verhandlung der Sache selbst zeigen, daß das Utopische sich der Subversion immer beimischt (...), das sich nicht im Mitleid für das geknechtete Wesen und in barmherziger Hilfe erschöpft, sondern für sein freies Glück kämpft.«

(5) Und natürlich auch zu diesem Zeitpunkt nicht zum ersten Mal – man denke etwa an die Menschenrechtstümelei des US-Präsidenten Carter Ende der siebziger Jahre – aber wohl in zuvor nicht gekannter Weise mit dem Augenmerk auf Schurkenstaaten und Terrorismus.

(6) Vgl. Organization for Economical Cooperation and Development, Entwicklungszusammenarbeit in den neunziger Jahren, Grundsatzerklärung, in: epd-EP 8/1990, m 17f.

(7) Zur Loya Jirga und ihren Ergebnissen: Jan Heller, Beihilfe zur Geiselnahme in Afghanistan, in: Subtropen, 7. August 2002.

(8) Im übrigen ist es schon fast zu offensichtlich, um wiederholt zu werden, dass die Parallele des Kampfes gegen Islamfaschismus und Baath-Faschismus zum notwendigen Kriegseintritt der USA im Kampf gegen den Nationalsozialismus hinkt. Wir können uns auf eine knappe Wiedergabe der Quintessenz bereits vielfach erörterter Argumente beschränken: Die Charakteristika des Nationalsozialismus, der im Begriff war, die Möglichkeit von Emanzipation weltweit zu tilgen und gegen dessen Mordkollektiv Widerstand alsbald zwecklos bzw. kaum mehr vorhanden war, kennzeichnen die massenhafte Hinwendung zum Islamismus in einigen Staaten und die faschistischen Regime wie ehemals in Afghanistan und Irak genauso wenig wie Ende der neunzigerer das »Auschwitz« im Kosovo.

Das Baath-Regime saß nie fest im Sattel. Bekanntlich haben die Alliierten nach dem zweiten Golfkrieg den massiven Widerstand von Kurden und Schiiten gegen das Regime dem Giftgas des Chemical Ali überlassen. Vor dem letzten Golfkrieg haben sie eine Demokratisierung von innen, gegebenenfalls mit Hilfe von Aufstandsunterstützung, gar nicht erst in Erwägung gezogen. Im Hinblick auf ihr Interesse an Hegemonie in der Region ist das wenig erstaunlich, im Hinblick auf das verkündete Demokratisierungsziel wäre dieser Weg aber angesichts der ablehnenden Haltung der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber dem Regime und dem Umfang der organisierten Opposition im In- und Ausland vermutlich nicht versperrt gewesen. Vgl. Sabah Alnasseri: Die unendliche Geschichte: Die USA, der Irak und der Krieg, in: www.linksnet. de.

(9) Justus Wertmüller, Jungle World, März 1999.

(10) Vgl. Britta Grell; Jens Sambale; Volker Eick: Workfare zwischen Arbeitsmarkt- und Lebensstilregulierung, in: Prokla, Dezember 2002.

(11) Vgl. Josef Reindl: Das Wachstum industrieller Dienstleistungen – Dienst am Kunden oder »Amerikanisierung« der Produktion? In: WSI-Mitteilungen 9/2002; Monthly Review-Redaktion: Eine Krise nach der anderen für das Leben des Systems, in: Krise der US-Ökonomie, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 2/2003.

(12) Was die Bahamas auch mal wußte. Anton Landgraf schrieb in 19/ 1996 über die USA: »Panisch erleben die Privilegierten den Rest der Welt nur noch als Bedrohung – als Ungeziefer und Parias, als Sozialschmarotzer und Kriminelle, die es mit allen Mitteln zu bekämpfen gilt. (...) Ökonomische, soziale und kulturelle Gemeinsamkeiten sind immer weniger gesellschaftsübergreifend.« Und über die Entwicklung des globalen Kapitalismus: »Aus den Ruinen einer ›nachholenden Entwicklung‹ steigt ein neuer Kapitalismus – barbarischer als seine Vorgänger, aber effizient funktionierend. Die Ideale der bürgerlichen Gesellschaft von einer ›höheren Zivilisation‹ wandeln sich zur negativen Utopie.«

(13) So geschehen auf dem Freiburger Kongress »Antideutsche Wertarbeit« 2002, auf dem ein Bahamas-Redakteur unter Beifall die Sonntagsreden Giulanis anführte, die große Einigkeit seit dem 11. September sei ihm als gutem Demokraten nicht ganz geheuer, da Widerspruch zum Wesen der Demokratie gehöre. In gewisser Hinsicht ist Giulani tatsächlich ein Mann des Liberalismus – insofern dieser realiter immer mit dem sozialen Krieg gegen die Verelendeten einherging und, wie Johannes Agnoli einmal formulierte, der Nachtwächterstaat der Bourgeoisie stets der Tagespolizist gegen das Proletariat war. Rätselhaft ist allein, was Kommunisten daran in Verzückung versetzt.

(14) Aufruf zur antideutschen »kommunistischen« Konferenz »Gegen die antisemitische Internationale« (Juni 2003) von Bahamas, ISF, Antideutschen Kommunisten Berlin u.a..

Initiative: Kritik im Handgemenge
Freiburg