Drei Lieder (nicht nur) über Lenin 

Bolschewiki, Identität und das Problem des Universalismus 

Der real existierende Sozialismus bleibt auch dreißig Jahre nach seinem Untergang ein Thema, an dem linke Selbstvergewisserung stattfindet. Der in der bisherigen Geschichte großflächigste und andauerndste Versuch, die radikalen linken Ideen zu verwirklichen, wirkt abschreckend auf die einen und gilt als Beweis für die Machbarkeit von Gesellschaftsveränderung für die anderen. Gerade in den aktuell omnipräsenten Debatten um die Identitätspolitik fungiert der Verweis auf die »traditionelle Linke«, womit vor allem die leninistischen Parteien im Zeitalter ihres größten Erfolgs gemeint sind, mal als Negativfolie einer vom universellen Wahrheitsanspruch befreiten und für viele unterdrückte Perspektiven sensibilisierte Linken, mal als Gegenbild zu einer in unzählige Ismen zerklüfteten und im Lifestyle versunkenen Szene, die keinen Bezug mehr zu den Massen aufweist. Wie im Folgenden anhand von drei zeitlich weit auseinanderliegenden Episoden aus der Geschichte des Bolschewismus gezeigt wird, sind solche Gegenüberstellungen unabhängig von ihrer Intention historisch nicht korrekt. Vielmehr waren auch die Erbauer:innen des Realsozialismus mit den einschlägigen Fragen konfrontiert und zogen bisweilen Schlüsse, die denen heutiger linksidentitärer Kritiker:innen nicht unähnlich sind. 

 

Episode 1: Organisatorischer und inhaltlicher Separatismus 

1903, fünf Jahre nach ihrer Gründung, erlebte die Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands (SDAPR) ihre erste identitätspolitische Debatte. Auf dem erst in Brüssel und anschließend in London stattfindenden zweiten Parteitag stritten sich die Delegierten über die Forderungen des Allgemeinen jüdischen Arbeiterbundes in Litauen, Polen und Russland, der seit der Gründung der Partei einen autonomen Status besaß und diesen weiter behalten wollte. Während die radikale Strömung der Partei um Wladimir Uljanow (Lenin) auf strikte Zentralisierung drängte, wollte der Bund nicht nur seine Autonomie wahren, sondern als alleinige Vertretung für die Interessen des jüdischen Proletariats in der Sozialdemokratie anerkannt werden.Mario Keßler, Lenin und der jüdische Arbeiterbund 1903–1914, in: Theodor Bergmann (Hrsg.), Lenin. Theorie und Praxis in historischer Perspektive, Mainz 1994, 219-231; Wladimir Medem, Die nationale Frage und die Sozialdemokratie, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit 20 (2016), 69–104; Aleksandr Efimovič Lokšin, Bund: meždu internacionalizmom i nationalizmom, in: Voprosy Istorii 7 (2020), 215–234.  Was auf den ersten Blick wie eine eher nebensächliche Frage in der Geschichte einer längst aufgelösten Partei erscheint, weist unverkennbare Parallelen zu Situationen auf, die jede:r in den letzten Jahrzehnten linke Politik an bundesdeutschen Hochschulen miterlebt hat, wiedererkennen dürfte. Jedes autonome Referat, ob es Frauen, FrauenLesben oder FLINTA+ im Namen trägt, realisiert die bundistische Idee der Autonomie und stößt dabei auf ähnliche Widerstände. Das Problem der Bundist:innen, die ihre Organisation übrigens noch vor den russischen Marxist:innen gegründet hatten und anfänglich die zahlenmäßig stärkste sozialdemokratische Gruppe im Russischen Reich waren, bestand nicht nur darin, dass es umstritten bleiben musste, welche Fragen die jüdischen Werktätigen in ihrer Eigenschaft als Juden betrafen. Vielmehr pochten sie ihren nichtjüdischen Genoss:innen gegenüber darauf, dass diese trotz ihrer Ablehnung des Antisemitismus die speziellen Probleme der jüdischen Arbeiterklasse weder erkennen noch wirksam beheben konnten. Damit rechtfertigten sie die Notwendigkeit einer eigenen Organisation. 

Als Antwort ernteten die Bundist:innen den Vorwurf, mithilfe des Nationalismus die jüdischen Arbeiter:innen von den nichtjüdischen zu isolieren. Zwar erkannten ihre Kontrahent:innen, dass eine Sprachbarriere die jiddischsprachige Bevölkerung für die russischsprachige Agitation unerreichbar machte, sie erwarteten aber, dass die anderssprachig geführte Agitation keine inhaltliche Abweichung von der Parteilinie aufwies. Die zukünftigen Bolschewiki und Menschewiki waren sich in der Ablehnung der bundistischen Forderungen zunächst einig. Auf den Hinweis des Bundes, in der Arbeiterklasse sei Antisemitismus verbreitet, antwortete Lenin kontrafaktisch, dass dies ein Phänomen der Bourgeoisie sei.Wladimir Iljitsch Lenin, Braucht das jüdische Proletariat eine »selbstständige politische Partei«?, in: ders., Werke 6, Berlin 1971, 324–329; Ilse Yago-Jung, Die nationale Frage in der jüdischen Arbeiterbewegung in Russland, Polen und Palästina bis 1929, Frankfurt a. M 1976, 111–122, 158–167.

Generell überwog unter den Sozialdemokrat:innen im Russischen Reich die Vorstellung, Antisemitismus werde sich mit dem Sturz der Monarchie erledigen und der Abfall von der Religion den Assimilationsprozess der jüdischen Bevölkerung in Gang bringen, was mit Fortschritt gleichgesetzt wurde. Der Bund dagegen forderte die nicht ans Territorium geknüpfte Kulturautonomie, bei der eine säkulare jüdische, eigentlich aschkenasisch-jiddischsprachige, Nationalidentität gepflegt werden sollte.Arye Gelbard, Der jüdische Arbeiter-Bund Rußlands im Revolutionsjahr 1917, Wien 1982, 2f.; Israel Getzler, The Jewish Bund and the dignity of man. Religion, Ideology and Nationalism in Europe and America Essays Presented in Honor of Yehoshua Arieli, Jerusalem 1986, 341–354; Guido Franzinetti, Lenins heimlicher Gegner: die zwei Leben des Liebmann Hersch, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte 3 (2020), 89–98; Liebmann Hersch, Eine neue Auflage eines alten Fehlers. Zur nationalen Frage, in: Arbeit – Bewegung – Geschichte 3 (2020), 99–105.  Dabei bedeutete die Hinwendung zur nicht assimilierten Bevölkerung für viele Aktivist:innen auch den Wechsel vom längst gewohnten Russisch zum volkstümlichen Jiddisch. Bezeichnenderweise wurde erst ab dem achten Parteitag 1910 komplett auf Jiddisch getagt.Gertrud Pickhan, Gegen den Strom. Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund »Bund« in Polen 1918–1939, München 2001, 48. 

Der organisatorische Separatismus des Bunds ging nie so weit wie jener der Black Panters oder von Teilen der zweiten Frauenbewegung. Dennoch warf er prototypisch Debatten darüber auf, ob die organisatorische Trennung der als besonders benachteiligt ausgemachten Gruppen auch zur inhaltlichen Trennung vom Rest der Bewegung führen müsse. Das Phänomen, das Sylke van Dyk als »Delegitimierung von Identitätspolitik durch die Vorwürfe der Spaltung«Silke van Dyk, Identitätspolitik gegen ihre Kritik gelesen. Für einen rebellischen Universalismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 9–11 (2019), 25–32, hier 32. beschreibt, ist also keineswegs neu. Die einfachste Art zu kontern, wäre ein Hinweis darauf, dass Diskriminierung die Spaltung von Lebenswelten und Interessen bereits zur Realität macht und Identitätspolitik diesem Umstand lediglich Rechnung trägt. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Denn Identitätspolitik – und die Bundist:innen sind noch ein sehr moderates Beispiel dafür – nimmt nicht nur die reale Spaltung zur positiven Grundlage ihrer politischen Forderungen, sondern kommt auch nicht umhin, zu postulieren, worin die richtige Antwort auf die Diskriminierung bestünde und welche Identifizierung politisch geboten sei. Im Falle des Bundes war dies ein klares »Nein« sowohl zur Assimilation, die vielen jüdischen Revolutionär:innen als ein Ausbruch aus der Rückständigkeit und Isolierung erschien, als auch zum Zionismus, der alle von Antisemitismus Betroffenen unabhängig von Sprache oder Haltung zu Religion und Klasse zu einem kollektiven Subjekt erhob. 

Doch der bundistische Alleinvertretungsanspruch war von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Die Mehrheit der jüdischen Delegierten des zweiten Parteitags stand auf der gegnerischen Seite und sah gerade im Recht auf Assimilation die emanzipatorische Antwort auf den Antisemitismus. Den Bund-Anhänger:innen warfen sie vor, lediglich inkonsequente Zionist:innen zu sein. Der Vorwurf musste besonders ärgerlich wirken, da der Bund sich von Anfang an in dezidierter Feindschaft zum Zionismus formiert hatte und mit dem Konzept der doykeyt (»Hiesigkeit«) für das Leben und Kämpfen in der Diaspora eintrat. Am Anfang war der Kampf des Bundes gegen den Zionismus ein Kampf von linken gegen bürgerliche Kräfte. Ab 1900 kamen jedoch explizit sozialistische und marxistische Strömung des Zionismus hinzu, deren Parteien, allen voran die Poale Zion (»Arbeiter Zions«), den Bundist:innen und der SDAPR Konkurrenz machten. Besonders bitter für den Bund dürfte gewesen sein, dass die linken Zionist:innen häufig als orthodoxe Verteidiger:innen des Marxismus auftraten.Die linken Zionisten sahen in der Assimilation ein Klassenprivileg und im Diaspora-Leben ein Hindernis für die Entwicklung des jüdischen Proletariats. Dass die Poale Zion von der Zweiten Internationale nicht als Teil der weltweiten Sozialdemokratie anerkannt wurde, ging vor allem auf die Bemühungen der Bundist:innen zurück, ihren Alleinvertretungsanspruch zu verteidigen.Jonathan Frankel, Prophecy and Politics: Socialism, Nationalism, and the Russian Jews, 1862–1917, New York 1981, 329–363; Xoav Peled, Class and Ethnicity in the Pale. The Political Economy of Jewish Workers’ Nationalism in late Imperial Russia, New York 1989, 77–90; Pickhan, Gegen den Strom, 53f. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Lenin dank des weichen Separatismus des Bunds die frontale Begegnung mit dem harten Separatismus der zionistischen Sozialist:innen erspart blieb. 

Selbstverständlich war es unter diesen Umständen einfach, den Bundist:innen nachzuweisen, dass ihr Anspruch, die gesamte jüdische Arbeiterbewegung zu repräsentieren, in der Realität keine Anhaltspunkte hatte. Der Bund repräsentierte nicht einmal alle marxistisch-jüdischen Arbeiter:innen, daneben gab es noch religiöse, zionistische, territorialistische, sozialrevolutionäre, anarchistische und unpolitische. Wer schon einmal eine von einem autonomen Referat einberufene Frauen/Flinta-Vollversammlung zahlenmäßig erfasst hat, dem dürfte die Kluft zwischen dem Anspruch auf Repräsentanz und der realen Reichweite drastisch vor Augen stehen. Nur: ein ähnliches Problem wie der Bund in Bezug auf die jüdischen Arbeiter:innen hatte die Sozialdemokratie – nicht nur in Russland – in Bezug auf die Arbeiter:innen insgesamt. Das kollektive Subjekt, in dessen Namen agiert wurde, musste erst noch davon überzeugt werden, eines zu sein. Die Wahlbeteiligung bei AStA-Wahlen ist meist ähnlich niedrig wie die bei der Wahl von autonomen Referaten. 

Obwohl das autonomistische Konzept des Bundes sich nicht durchsetzte und seine soziale Basis durch die Shoah vernichtet wurde, nahmen die an die Macht gekommenen Bolschewiki stillschweigend Abstand vom Konzept der völligen Assimilation. Bis 1930 war die Jüdische Sektion, der viele ehemalige Bundist:innen und Zionist:innen angehörten, mit dem Aufbau einer sowjetisch-jüdischen Kultur beschäftigt. Danach wurde mit der Schaffung der Jüdischen Autonomen Oblast in Birobidschan die endgültige Trennung zwischen den assimilationswilligen und den nationalbewussten Teilen der sowjetischen Juden angestrebt. Wider eigene Absichten hat die Sowjetunion damit eine säkulare Nationalidentität der jüdischen Bevölkerung geschaffen. Insofern hat ein Teil des bundistischen Programms sich durchgesetzt: die sowjetischen Juden sahen sich am Ende der Sowjetzeit als eigene Nationalität. 

Die Befürchtungen ihrer bolschewistischen und menschewistischen Kritiker:innen haben sich weniger bei den Bundist:innen, die in den folgenden Jahren die Bereitschaft zeigten, sich an jede politische Macht anzulehnen, sofern diese Kulturautonomie versprach oder zumindest tolerierte, als vielmehr bei den sozialistischen Zionist:innen bestätigt.Zur Frage, inwiefern der Bund zunehmend nationalistisch und separatistisch wurde, siehe die konträren Positionen bei Frankel, Prophecy and Politics, 171–182; Pickhan: Gegen den Strom, 47–54. Kapitalismuskritik kann auf Russisch, Jiddisch oder Hebräisch verbreitet werden. Die Vorstellung, es gäbe eine eigene russische, jiddische, hebräische, queere, schwarze usw. Kapitalismuskritik, ist die Aufkündigung des universalistischen Anspruchs, den die Bund-Kritiker:innen mit teils falschen Argumenten und mangelnder Kenntnis der Materie im fernen Jahr 1903 zu verteidigen versuchten. Neben Ignoranz und Organisationsegoismus stand die Befürchtung im Raum, auf den organisatorischen Separatismus werde unweigerlich der inhaltliche folgen. 

 

Episode 2: Kanon und proletarische cancel culture 

Als der sowjetische Philosoph und Kunsttheoretiker Michail Lifschitz 1971 für die Große Sowjetische Enzyklopädie einen Artikel über den »vulgären Soziologismus« verfassen sollte, hätte dieser ein triumphales Epitaph auf seine Kontrahent:innen aus den fernen 1920er und -30er Jahren werden können.Vladimir Bystrov/Vladimir Kamnev, Vulgarny socioloizm: istorija koncepta, in: Sociologičeskoe Obozrenie 3 (2019), 286–308. Doch unter der Feder des einst engsten Mitstreiters von György Lukács wurde die Kritik an scheinbar längst besiegten Tendenzen eher zu einer eindringlichen Warnung. Längst sah Lifschitz die Gefahr, dass die unter seiner tatkräftigen Mitwirkung gebannten Phänomene wieder in neuen Gewändern zutage treten könnten. 

Die für Lifschitz so verhassten ästhetischen Theorien haben ihren Ursprung in einem Gedanken, der der heutigen Feuilleton-Leserschaft nur allzu vertraut sein dürfte. Nach 1917 entdeckte die bolschewistische Kunstkritik, dass die gesamte bisherige Kultur von Perspektive, Geschmack und Maßstäben der ehemals herrschenden Klassen durchsetzt war. Deshalb sollte die Revolution im Sozialen und Politischen nun auch durch eine in der Kultur ergänzt werden. Die neue Kultur sollte von der Hegemonie der neuen herrschenden Klasse, des Proletariats, geprägt werden. Der Kanon der alten Gesellschaft sei der Kanon der Unterdrücker:innen gewesen, dessen Ablösung durch einen Kanon der ehemals Unterdrückten längst überfällig. Die These steht Pate für eine ganze Reihe von Debatten, die seit den 1960er Jahren auch in der westlichen Welt geführt werden. Anstelle des Proletariats ließe sich leicht jede andere subalterne Gruppe einsetzen. Doch die Debatten im postrevolutionären Sowjetrussland hatten eine Besonderheit, die die liberal-konservativen Kritiker:innen der heutigen political correctness, die immer wieder Parallelen zum Stalinismus bemühen, gern übersehen. Während heute der kulturelle Wandel den politischen erst befeuern soll, fanden die ästhetischen Debatten damals vor dem Hintergrund des bereits vollzogenen politischen Umbruchs statt. Im Namen eines kollektiven Subjekts wurde eine neue Staatsform aufgebaut, die sich ohne Scheu selbst als »Diktatur« bezeichnete. Nun wurde debattiert, wie auf der Grundlage neuer Kräfteverhältnisse mithilfe der Staatsgewalt eine neue Kultur die alte ablösen könnte. Den Appell, die Privilegien der alten Kultur zu prüfen, richteten die Anhänger:innen der neuen nicht selten an das Tscheka – die Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution, wie der politische Geheimdienst nun hieß – und riefen nicht nach öffentlicher Verurteilung, sondern nach staatlicher Zensur. 

Die Befürworter:innen der Abschaffung des alten Kanons waren sich jedoch uneinig, wie genau diese erfolgen sollte. Die in der Linken Front der Künste (LEF) organisierten Anhänger:innen der Avantgarde verlangten die alten Formen abzulösen. Neben neuen Sehgewohnheiten, die durch Filme wie Dziga Wetrows Drei Lieder über Lenin oder Der Mann mit der Kamera vermittelt werden sollten, wurde auch die Abschaffung des Romans durch Zeitungsreportagen als »Literatur der Fakten« gefordert. Aus den Reihen der Russischen Assoziation proletarischer Schriftsteller (RAPP) kam dagegen die Forderung, die alten Formen mit proletarischen Inhalten zu füllen. Shakespeare und Tolstoi sollten durch äquivalente Autor:innen aus der Arbeiterschaft abgelöst werden und das Proletariat für sich und über sich selbst schreiben, zeichnen, drehen und komponieren. Exemplarisch zeigte sich die Auseinandersetzung beider Lager am Verriss von Fjodor Gladkows Zement – einem der ersten Romane »von Proletariern für Proletarier« – durch den LEF-Theoretiker Osip Brik.Osip Brik, Warum Zement gefiel, in: Fritz Mierau (Hrsg.), Die Erweckung des Wortes. Essays der russischen Formalen Schule, Leipzig 1987, 158–168; Christiane Schäfer, Produktive Spannung? Abenteuer und Arbeit in Fëdor Gladkovs Cement, in: Iris Bauer/Yvonne Drosihn/Ewa Kowollik (Hrsg.), Close Reading – Distant Reading: Spannungsfelder der slavistischen Literatur- und Kulturwissenschaften, Halle 2021, 64–77. Gemeinsam war den Positionen jedoch die Bestrebung, das siegreiche Proletariat von den Zumutungen der klassenfremden Kultur zu befreien. 

Nachträglich fasst Lifschitz die Positionen der Kanonbekämpfer:innen wie folgt zusammen: »V. S. [Vulgärer Soziologismus] sah sein Ziel darin, die Schriftsteller und Künstler der Vergangenheit als Diener der herrschenden Klassen zu entlarven. Aus dieser Sicht ist jedes Kunstwerk ein verschlüsseltes Ideogramm einer der sozialen Gruppen, die untereinander um einen Platz an der Sonne kämpfen. So wurde Puschkin zu einem Ideologen des verarmten Adels oder bürgerlich gewordener Gutsbesitzer, Gogol zu einem kleinen Landadligen, L. Tolstoi zu einem Vertreter des mittleren Adels, der mit dem höchsten Adel verschmolz, usw. Es wurde angenommen, dass die Dekabristen nicht die Interessen des Volkes verteidigten, sondern die Sache der am Getreidehandel interessierten Landbesitzer. Die Aufgabe des proletarischen Künstlers läuft auch auf einen besonderen Ausdruck der tiefen ›Psychoideologie‹ seiner Klasse hinaus.«Michail Lifšic, Vularnyj socioligizm, in: Bolšaja Sovetskaja Ėnciklopedija 5, Moskau 1971, 507f. 

An der Kritik am Geniekult hatte Lifschitz wenig auszusetzen. Doch der Kult um die richtige soziale Stellung der Kunstschaffenden erschien ihm keineswegs als bessere Alternative. Gegen die Sichtbarmachung von ideologischen Implikationen, der gesellschaftlichen Stellung der Kunstschaffenden oder deren sozialen Wertungen spricht zunächst nichts. Aber eine ästhetische Theorie, die sich in Soziologie erschöpft, versagt spätestens bei dem Versuch zu erklären, warum in bestimmten Epochen alle Autor:innen der westlichen Welt sexistische und rassistische Vorstellungen vertraten, während ihre Werke dennoch unterschiedliche ästhetische Qualitäten aufweisen. 

Lifschitz und Lukács sahen in dieser Tendenz allerdings mehr als eine bloße Verwechslung von ästhetischer Werkanalyse und soziologischer Einordnung von Künstler:in und Publikum. Hinter dem scheinbaren Dogmatismus ihrer Gegner:innen meinten sie die offene Tür für einen epistemologischen Relativismus zu erkennen: »Wenn wir die Klassenphraseologie beiseitelassen, dann stehen aus Sicht der Methode im Herzen von V. S. abstrakt genommene Vorstellungen von Nutzen, Interesse, Zweckmäßigkeit. Die gesamte ›ideale‹ Oberfläche des geistigen Lebens scheint eine reine Illusion zu sein, die geheime oder unbewusste selbstsüchtige Ziele verbirgt. Alles ist qualitativ einzigartig, alles Unendliche ist auf die Wirkung elementarer Kräfte in einer begrenzten Umgebung reduziert. Aber das Grundprinzip von V. S. besteht in der Verleugnung der objektiven und absoluten Wahrheit. Die marxistische Formel ›Das Sein bestimmt das Bewusstsein‹ wird hier zu einem bequemen Mittel, das Bewusstsein in ein Bewusstsein ohne Bewusstsein umzuwandeln, ein spontanes Produkt der sozialen Umgebung und der Klasseninteressen. Das Hauptkriterium ist die Lebenskraft einer sozialen Gruppe, die ein eigenes ›kollektives Bewusstsein‹ hat, das mehr oder weniger stark zum Ausdruck kommt. Eine soziale Gruppe ist gesünder und stärker als eine andere, ein Schriftsteller hat die Ideologie seiner Klasse stärker und deutlicher zum Ausdruck gebracht als der andere.«Ebd.

Die Gegenposition, die von Lifschitz und Lukács in der zwischen 1933 und 1940 erschienen Zeitschrift Literaturnyj kritik formuliert wurde, bestand in der Absage an alle Versuche, den mühsam verteidigten Klassiker:innen künstlich etwas Fortschrittliches anzudichten. Vielmehr sollte gerade die Diskrepanz zwischen den politischen Einstellungen einerseits und den ästhetischen und theoretischen Leistungen andererseits aufgezeigt werden.Nils Meier, Die Zeitschrift »Literaturnyj kritik« im Zeichen sowjetischer Literaturpolitik, München 2014. Auf heutige Konflikte angewendet, geht es beispielsweise weder darum, sich mit dem Nachweis von Rassismus bei Shakespeare und Kant zu begnügen, noch diesen abzustreiten. Die Strömung um Literaturnyj kritik wollte stattdessen den werkimmanenten Widerspruch zwischen Erkenntnis und Ressentiment, die Momente des Durchbrechens von Ideologie durch die Beobachtung der Realität, für die marxistische Kulturtheorie retten. Damit handelt sie sich bis heute den Vorwurf des Elitismus und konservativen Kunstgeschmacks ein. 

Die Wende der 1930er Jahre, die einerseits eine Versöhnung mit der Klassik, andererseits die Etablierung des Sozialistischen Realismus mit sich brachte, fand Lifschitz nicht zuletzt deswegen unbefriedigend, weil er im Sozialistischen Realismus, der vielen bis heute als langweiliges Gegenbild zu den schillernden 1920er Jahren gilt, alle anti-universalistischen und anti-aufklärerischen Tendenzen der Avantgarde aufgehoben sah.Michail Lifschitz, Krise des Hässlichen. Vom Kubismus zur Pop-Art, Dresden 1972.

 

Episode 3: Standpunkt und Objektivität 

Nachdem Dmitri Schepilow, sowjetischer Ökonom und Parteifunktionär, 1950 zum Leiter des Autorenkollektivs für ein neues Lehrbuch der politischen Ökonomie ernannt wurde, bekam er die Gelegenheit, den persönlichen Eingriffen des Genossen Stalin in die Theoriearbeit beizuwohnen: »Zusätzlich zu seinen zahlreichen inhaltlichen und stilistischen Korrekturen lieferte Stalin manchmal seine eigenen, oft recht bedeutsamen Einschübe. Zum Beispiel fügte er der Einleitung des Buches zur politischen Ökonomie Folgendes hinzu«Dmitrii Shepilov, The Kremlin's Scholar: A Memoir of Soviet Politics Under Khrushchev, New Haven 2007, 197.

Die Passage, die Stalin in Anwesenheit von Schepilow in das Vorwort einfügte, findet sich in einem erst nach dem Tod des Parteiführers erschienen Lehrbuch und ist auch stilistisch leicht identifizierbar: »Daraus aber folgt, dass die Ökonomen vollkommen im Unrecht sind, die behaupten, die politische Ökonomie sei eine neutrale, unparteiliche Wissenschaft, die politische Ökonomie sei vom Klassenkampf in der Gesellschaft unabhängig und stehe weder direkt noch indirekt mit irgendeiner politischen Partei in Verbindung. Ist überhaupt eine objektive, unvoreingenommene, die Wahrheit nicht fürchtende politische Ökonomie möglich? Sie ist ohne Zweifel möglich. Eine solche objektive politische Ökonomie kann nur die politische Ökonomie jener Klasse sein, die nicht daran interessiert ist, die Widersprüche gesellschaftlicher Entwicklung im Allgemeinen und die Widersprüche des Kapitalismus im Besonderen zu verschleiern, also dessen Geschwüre zu verbergen, die nicht an der Erhaltung der kapitalistischen Ordnung interessiert sind, deren Interessen mit den Interessen der Befreiung der Gesellschaft von der kapitalistischen Knechtschaft zusammenfallen, deren Interessen mit den Interessen der progressiven Entwicklung der Menschheit auf einer Linie liegen. Diese Klasse ist die Arbeiterklasse. Daher kann eine objektive und uneigennützige politische Ökonomie nur eine politische Ökonomie sein, die sich auf die Interessen der Arbeiterklasse stützt und diese vertritt. Eine solche politische Ökonomie ist die politische Ökonomie des Marxismus-Leninismus.«Konstantin Ostrowitjanow/Dmitri Schepilow u. a., Politische Ökonomie. Lehrbuch, Berlin 1955, 14. 

Stalins Kritiker:innen und Gegner:innen, allen voran Leo Trotzki, haben sich häufig über dessen mangelnde Eignung als Theoretiker lustig gemacht. Doch an dieser Stelle hat er ein Problem angesprochen, mit dem sich alle leninistischen Theorieströmungen konfrontiert sehen. Einerseits beansprucht der Marxismus über objektive Erkenntnisse zur kapitalistischen Gesellschaft zu verfügen, andererseits haben die Theoretiker:innen der Arbeiterparteien sowie Lenin selbst stets betont, dass zur Erkenntnisgewinnung die Einnahme eines Klassenstandpunkts und einer materialistischen Weltanschauung vonnöten seien. Damit ergibt sich ein Widerspruch zwischen einer angeblich uneigennützigen Ökonomie, die zugleich bestimmte Interessen stützt und vertritt, und einer Wissenschaft, die von einem außertheoretisch eingenommenen Standpunkt betrieben wird. 

In der Sowjetunion wurde »bürgerlicher Objektivismus« zu einem beliebten Schimpfwort, »Ideologie« dagegen zu einem wertneutralen Begriff, da jede Klasse eine brauche. Noch kurz vor seinem Tod formulierte Stalin eine Antwort auf das aufgeworfene Problem: objektive Erkenntnis sei einzig der Arbeiterklasse möglich, weil alle anderen kollektiven Subjekte ein eigennütziges Interesse an der Verschleierung der Wirklichkeit haben. Das bedeutet, dass andere Klassen die marxistische Kritik durchaus verstehen können, jedoch aus Angst vor unangenehmen Konsequenzen abwehren. Sie wissen um die »Geschwüre« und »Widersprüche«, verschleiern sie jedoch. Die Arbeiterklasse, so Stalin, habe zwar kein Interesse an der Verschleierung, benötige für die Erkenntnis der Wirklichkeit jedoch die Intervention einer extra dafür organisierten Kaderpartei. Die Idee vom Erkenntnisprivileg der Unterprivilegierten kann daher nicht, wie häufig geschehen, als eine Antwort diverser Bewegungen auf den Hauptwiderspruchs-Dogmatismus des Sowjetmarxismus gesehen werden. Sie findet sich – in einer Scheinversöhnung mit dem Objektivitätsanspruch – auch bei Stalin. 

Dass aus objektiven Erkenntnissen verschiedene subjektive Schlüsse möglich sind, ist sicher nicht zu leugnen. Das Wissen über die Wirkung von Nikotin lässt die einen rauchen, die anderen nicht. Doch keine redliche Auseinandersetzung mit diesem Thema kann Tatsachen beispielsweise der Chemie zum bloßen Standpunkt erklären. Gesellschaftskritik wird von Subjekten geübt und sie formt – wenn sie erfolgreich ist – bewusste kollektive Subjekte. Auf einen universalistischen Anspruch kann sie trotzdem nicht verzichten, schon allein deswegen, weil die Gesellschaft nicht bloß eine subjektive Vorstellung ist. 

 

Schluss 

Das Bild vom objektivistischen und universalistischen Bolschewismus als betongrauem Konterpart zur bunt glitzernden Welt der Diskurslinken bekommt bei genauerer Betrachtung Risse. Die Kapriolen der heutigen Identitätspolitik, ebenso wie gute und schlechte Entgegnungen darauf, finden sich in der Geschichte des Realsozialismus zur Genüge. Wie bitter und ernüchternd es sowohl für die Nostalgiker:innen der guten alten Arbeiterbewegung sein mag, als auch für diejenigen, die denken, wo safe spaces und awareness teams seien, könne kein neuer Stalinismus entstehen: es ist besser aus fremden Fehlern zu lernen, als sie sich zu eigen zu machen. 

 

Ewgeniy Kasakow 

Der Autor ist promovierter Historiker und schrieb zuletzt in Phase 2.58 über Boris Usows Konkowo-Formation.