Ein anderer Bibelfilm war möglich

Über das Verfehlen einer meta-realistischen Authentizität in Milo Raus Das neue Evangelium 

Milo Raus Motivation einen Jesus-Film zu drehen, ist schnell erklärt. Eingeladen, ein Projekt für die europäische Kulturhauptstadt 2019 (das italienische Matera) zu entwickeln, wirft die Referenzmaschine – das zeigen die offenen Bezüge und Filmzitate in Raus eigenem Film ganz offenherzig – ziemlich unmittelbar zwei berühmte Jesus-Filme aus, die an eben jenem Ort gedreht wurden. Es handelt sich um Mel Gibsons The Passion of the Christ von 2004 und die genau vierzig Jahre ältere Verfilmung Das 1. Evangelium – Matthäus von Pier Paolo Pasolini. 

 

Drei Modelle des filmischen Realismus 

Dass beide Filme in Matera gedreht wurden, ist kein Zufall. Die Kulisse der alten Stadt gleicht dem antiken Jerusalem und erzeugt so eine filmische Authentizität, auf die es Gibson und Pasolini ankam, weil beide realistische Jesus-Filme drehen wollten. Die Mittel, derer sie sich dazu bedienten, waren abgesehen vom gleichen Drehort aber durchaus unterschiedlich. Gibson ließ seinen Jesus aramäisch sprechen. Das ist zwar nicht die Sprache der Evangelien, die bekanntlich deutlich nach der Zeit, die sie beschreiben, auf Griechisch verfasst wurden. Aber Aramäisch ist dafür die Sprache, die der historische Jesus höchstwahrscheinlich gesprochen hat. Die literarische Figur der Evangelien wird so in einen Realismus übersetzt, der nicht bei der Authentizität einer Wiedergabe der biblischen Geschichte stehen bleiben will. Das hört bei der »authentischeren« Sprache des Protagonisten nicht auf, sondern setzt sich in der ausgesprochen naturalistischen Darstellung der Folterungen des gefangenen Jesus fort. Gibson geht es, mit anderen Worten darum, den biblischen Jesus als authentische Gestalt erstehen zu lassen, die aber ganz in die biblische Programmatik des Leidens und Sterbens für die Menschheit eingespannt bleibt. The Passion of the Christ ist ein durch und durch religiöser Film, der das Opfer des Christus ins Zentrum stellt und in seiner religiösen Deutung auch vor antijüdischen Klischees (»Christusmörder«) nicht zurückschreckt. 

Pasolini hingegen hatte eine ganz andere Strategie des Realismus verfolgt. Sein filmisches Personal spricht italienisch und folgt dem Text des Matthäusevangeliums Wort für Wort. Authentizität versucht Pasolini dadurch zu erzeugen, dass er die biblischen Protagonist_innen mit Menschen aus Matera besetzt. Diese schauspielerischen Laien sollen nicht wie bei Gibson die historische Authentizität des Stoffes, sondern die Vergegenwärtigung des biblischen Stoffs verkörpern. Was hier aufgeführt wird – will das sagen – ist keine Superheldengeschichte, sondern etwas, das ganz gewöhnlichen Menschen zugestoßen ist, weshalb ganz normale Menschen sich unmittelbar und unverstellt damit identifizieren können. Dieser Bezug zur Gewöhnlichkeit macht die außergewöhnlichen Geschehnisse, von denen die Evangelien berichten, für das gewöhnliche Leben auch der einfachsten Menschen bedeutsam. 

Wo Gibson eine Theologie des Leidens und Sterbens für die Sünden der Welt in den Mittelpunkt rückt, geht es Pasolini um eine Theologie der Menschwerdung Gottes. Auch das ist aber ein durch und durch religiöses Programm. Für beide Projekte ist dabei die Herstellung von Authentizität und damit die jeweils gewählte Form des Realismus entscheidend. 

Milo Rau schließt nun mit seinem Matera-Jesus-Film an diese Projekte einer realistischen Darstellung des biblischen Stoffes an. Damit verfolgt er aber weder eine Theologie des Opfers, noch eine Theologie der Inkarnation. Er verfolgt, um genau zu sein, überhaupt keine Theologie, sondern stellt seinen Realismus in den Dienst einer Politik. Die biblische Geschichte oder – genauer gesagt – die Verfilmung der biblischen Geschichte dient Rau nur als erzählerisches Prinzip, um etwas ganz anderes darzustellen. Raus Das neue Evangelium funktioniert dabei wie ein langes Making-of mit eingestreuten Ausschnitten von Schlüsselszenen, die mal als Proben, mal als Ausschnitte einer endgültigen Fassung, die es so aber gar nicht gibt, in die Dokumentation der Filmarbeiten eingestreut sind. Diese bereits aus dem brechtschen Theater bekannte Technik, die Produktionsbedingungen des vorliegenden Films im Film selbst offenzulegen, soll den Authentizitätseffekt erzeugen, der beglaubigt, dass das, was Rau eigentlich erzählen will, vollkommen real ist. 

Der eigentliche Gegenstand von Raus Film ist ein Porträt der Gegend um Matera. Im Zentrum dieses Porträts stehen die Arbeits- und Lebensbedingungen der aus Afrika stammenden Migrant_innen, die dort auf den Feldern unter extremen Bedingungen arbeiten müssen, und deren politischer Kampf ums Überleben und für die Verbesserung ihrer Lage. Die Darstellung des politischen Kampfes erfolgt exemplarisch anhand von Yvan Sagnet, der um Matera herum die Saisonarbeitskräfte zu einer Revolte der Würde mobilisiert hat und im Film die Jesusfigur spielt. Weiterhin treten einige Mitstreiter Sagnets auf, die die Jünger verkörpern. 

Das erzählerische Prinzip, das die Anlage des Filmes nahelegt, besteht darin darzustellen, wie die politischen Aktivisten und die Bewohner_innen der Gegend um Matera ihre eigene Lage und ihre eigene Politik im Lichte einer Auseinandersetzung mit der Geschichte des Evangeliums reflektieren. Dass das durchaus funktionieren könnte, zeigt sich in einer Szene, in der die Überlagerung der Perspektiven tatsächlich die Realität in ihrer ganzen Brutalität einzufangen vermag. Beim offenen Casting für weitere Rollen in einer Kirche Materas offenbart ein junger Mann sein Interesse daran, »als Katholik« die Folterung Jesus' durch einen römischen Soldaten zu spielen. Sein anschließendes Vorsprechen besteht im Verprügeln eines Stuhls und zeigt in einer nicht zu überbietenden Deutlichkeit die brutale rassistische Realität: Gewalt, Stereotype und das Ziel zu erniedrigen werden aus der Perspektive des Rassisten vorgeführt, wobei das Spiel das Medium einer Realität ist, die sich sonst so uninszeniert kaum festhalten ließe. 

Das als Spiel ausgestellte Spiel offenbart hier in seiner Verfremdung etwas über die Wirklichkeit, das nur als Resultat einer Selbstbeobachtung erlebbar wird. Die Brutalität, die hier einen Stuhl trifft, zeigt die tatsächliche Lust an der Gewalt gegenüber dem eigenen Gott, die mit der Lust an der Gewalt gegen reale Menschen zusammenfließt. Religiöses System und rassistisches System vermischen sich auf eine interessante Weise, die auch Raus Entscheidung, seinen Jesus mit einem schwarzen Darsteller zu besetzen, eine tiefere Dimension verleiht. 

 

Religion und Politik 

Leider gelingt dem Film die Umsetzung seines ästhetischen Konzepts nur an dieser einen Stelle, die daher nicht zufällig die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog. Im Rest des Filmes stehen die Verfilmung des Evangeliums und die Dokumentation über die Aktionen und Schicksale der Hauptdarsteller hingegen ganz unverbunden nebeneinander. 

Auf den ersten Blick könnte dieses Scheitern als ein Glücksfall erscheinen, denn die Assoziationen, die Raus Idee hervorruft, einen politischen Aktivisten in die Nähe von Jesus zu rücken, sind keineswegs unproblematisch. Im schlimmsten Fall könnte diese Idee auf einen Personenkult um Yvan Sagnet hinauslaufen, dem der Film tatsächlich nicht viel entgegensetzt. Motive, Handlungen und Ansichten des realen Yvan Sagnet, der wie ein sanftmütiger Heiliger und Prediger durch den Film läuft, wären dann jeden Zweifels enthoben. Aus dem politischen Aktivisten, der uns dazu aufruft, die Würde der Erniedrigten und Geknechteten zu achten und gemeinsam mit ihnen für menschenwürdige Lebensbedingungen zu kämpfen, würde so eine ungebrochene Lichtgestalt. Es ist so gesehen nicht schlecht, dass die Begeisterung Raus für Sagnets politisches Engagement nicht noch stärker von der biblischen Erlösergestalt überlagert wird.  

Doch andererseits wird die politische Dimension der Theologie massiv unterschätzt, wenn die politische Funktion der Religion auf die Autorität von Offenbarungswissen und entsprechende Hierarchien reduziert wird. Gerade die biblischen Religionen, die darauf beruhen, dass Gott einen Bund mit den Menschen eingegangen sein soll, der beide Seiten verpflichtet, sind auch ein – und für lange geschichtliche Epochen sogar das – Medium gewesen, den tatsächlichen gesellschaftlichen Zustand anzugreifen und auf seine Veränderung zu drängen. In ihnen wird die gesellschaftliche Realität nämlich mit einem Zustand der Erlösung verglichen, der durch das Halten des Bundes – das heißt: durch ein Leben im Sinne der göttlichen Gebote – befördert werden kann. Insofern lieferten diese Religionen immer wieder einen Anlass für Gesellschaftskritik und Reflexionen über die Bedingungen, Probleme und Erfolgsaussichten einer solchen Kritik. 

Dabei sind die Berichte vom Leben Jesu, auf die sich Raus Film stützt, nur eine mögliche Quelle für solche Reflexionen. Wie diese im Prinzip aussehen können, lässt sich ganz unabhängig von Raus Projekt auch gut an den Prophetengeschichten demonstrieren, denn schon die Propheten waren immer Mahner, die einen Wandel gesellschaftlicher Einstellungen und Verhaltensweisen forderten. Darin gleichen sie der Jesusgestalt und verkörpern ebenfalls, was Rau an dieser Gestalt eigentlich hätte interessieren müssen. 

Um hier nur ein Beispiel zu nennen, wie eine solche Reflexion aussehen könnte, sei eines der bekanntesten Prophetenbücher zitiert. Das Buch über den Propheten Jona zeigt eindrücklich die Fallstricke des Prophetentums: Von Gott nach Ninive geschickt, um der Stadt wegen des Lebenswandels ihrer Bewohner_innen den Untergang anzukündigen, versucht Jona nach Spanien zu fliehen, gerät in Seenot, springt über Bord, um das Schiff zu retten, wird von einem Fisch verschluckt und schließlich ans Ufer gespuckt, um nun doch äußerst widerwillig nach Ninive zu gehen und den Untergang vorherzusagen. Was Jona nicht für möglich gehalten hätte, geschieht, die Menschen in Ninive lassen sich bekehren. Daraufhin pfeift Gott auf Jonas Glaubwürdigkeit als Untergangsprophet und bläst die Auslöschung Ninives ab. Nun ist der Prophet, der keiner sein wollte, sauer und zieht sich schmollend in die Wüste zurück, wo ihm eine schattenspendende Pflanze wächst. Als Gott am nächsten Tag die Pflanze wieder eingehen lässt, will Jona nur noch sterben, nur um von Gott nun endlich selbst seine endgültige Lektion zu bekommen: Dich dauert die blöde Pflanze, aber von mir verlangst Du, Ninive mit hundertzwanzigtausend Menschen und all den Tieren, die in der Stadt leben, auszulöschen? 

Für das Nachdenken über gesellschaftskritische Bewegungen und ihre Dynamiken ist an dieser Geschichte nicht wichtig, dass Gott in ihr mit Jona machen kann, was er will, dass er Wale dazu bringt, Menschen an einer Küste abzusetzen, dass er einen Rizinus wachsen und einen Wurm diesen Rizinus anbohren lässt, damit er wieder verdorrt. Entscheidend ist an der Geschichte vielmehr, dass Jona, dem Ninive und seine Einwohner_innen von Anfang an egal waren, sich in einen blinden Groll hineinsteigert, der ihren Untergang als einzig mögliche Lösung akzeptieren will. Der Zorn des Propheten mag – so ist zumindest die Geschichte aufgebaut – durchaus berechtigt gewesen sein und auch der Untergang Ninives eine angemessene Strafe für das, was ihre Einwohner_innen bereits getan haben. Aber dieser Zorn macht den Propheten blind für das, was er bewirkt, für die gesellschaftliche Veränderung, die sich vollzieht und seinen zunächst gerechtfertigten Zorn ins Unrecht setzt. Dabei sind es seine Entbehrungen und Zwangslagen, die Situation, in die er geworfen wurde, ohne sie gewählt zu haben, die ihn so verbittern. Aber trifft das nicht auf viele zu, die gezwungen sind, sich gegen gesellschaftliche Formen der Ausbeutung und Unterdrückung zur Wehr zu setzen? Müssen nicht auch sie die Gesellschaft zur Hölle wünschen und gegen sie kämpfen, weil sie ihr nicht entkommen können, so wie Jona nicht seinem göttlichen Auftrag? 

Nun ist die Jesusgeschichte im Gegensatz zu dem, was uns das Jona-Buch über die psychologischen Abgründe, in die den einzelnen Menschen eine gesellschaftskritische Haltung und die Suche nach Gerechtigkeit führen kann, nicht von Zwang und Zorn bestimmt. Aber auch hier hätten sich für Milo Rau reichlich Anhaltspunkte geboten, um einen genaueren Blick auf Yvan Sagnet und die Revolte der Würde zu werfen. Das fängt schon an, wenn bei der Rekrutierung der Jünger, diesen ihren Beruf und ihre familiären Bindungen hinter sich lassen müssen, um sich ganz und gar der Sache zu verschreiben. Es wäre aber eigentlich unausweichlich gewesen, wenn es schließlich zum Verrat durch einen der Jünger und die Verleugnung durch einen anderen kommt. 

Zwar deutet der Film in seinen dokumentarischen Passagen an, dass auch die Revolte der Würde mit inneren Verwerfungen zu kämpfen hat, die in Loyalitätskonflikten und innerer Abkehr von der gemeinsamen Politik und voneinander münden, aber die Konflikte, die sich hier abzeichnen, werden nicht vertieft und schon gar nicht mit der biblischen Geschichte verknüpft. Dabei wäre es durchaus interessant gewesen zu erfahren, wie eine politische Bewegung unter den Bedingungen einer mafiös organisierten Landwirtschaft und eines wirksamen gesellschaftlichen Rassismus von den Versuchungen heimgesucht wird, sich spalten zu lassen. Oder was die Akteure der Bewegung dazu bringen könnte, in eine scheinbare Normalität abzutauchen, um der Identifikation mit ihren eigenen politischen Überzeugungen wenigstens zeitweilig zu entgehen. 

Aber Milo Rau fällt zu alldem nichts ein. Wenn der biblische Jesus die Ehebrecherin vor der sicheren Steinigung rettet, indem er fordert: »Wer unter Euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein«, dann fährt der Regisseur des Films mit Helferinnen einer NGO und ein paar Decken zum Interview mit migrantischen Straßenprostituierten. 

Auf solchen oberflächlichen Parallelisierungen beruht der ganze Film. Der biblische Jesus war ein guter Kerl, der sich für die Armen und Schwachen einsetzte, das ist und macht Sagnet auch – also wird er zum Jesusdarsteller. Platter, uninspirierter und langweiliger geht es kaum. Und so ist Das neue Evangelium alles, aber kein Evangelium. Es ist ein halber Dokumentarfilm, der sich gegen die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft Süditaliens wendet. Und es ist vor allem eine vertane Chance, den Menschen, die um ihre Würde kämpfen und kämpfen müssen, durch den Verfremdungseffekt der Produktion eines Bibelfilms näher zu kommen, als es eine um Plattitüden und willkürliche Bibelzitate erweiterte Demoreportage je könnte. 

 

Christian Schmidt 

Der Autor arbeitet zurzeit an einem Buch über das Politische an der Politischen Theologie.