Ein Prisma der amerikanischen Linken

Die Diskussionen in der Zeitschrift Dissent geben Aufschluss über das Verhältnis der Linken in den USA zu Nation und Revolution

In den USA, so wenig wie anderswo, gibt es »die« Linke als homogenes Gebilde. Vielmehr ist es ein ungeordnetes Konglomerat aus traditionellen Praxisgruppen, sozialdemokratischen LiberalenWenn im Folgenden von »Liberalen« die Rede ist, so sind damit weniger Freimarktideologen gemeint (die in den USA unter dem Label »libertarians« laufen), sondern im Wesentlichen Sozialdemokraten im europäischen Sinne., Anarchisten, (akademischen) Marxisten, ein paar zersplitterten traditionskommunistischen Sekten und den sogenannten Globalisierungskritikern.Schwerer einzuordnen sind die den USA entstammenden, inzwischen aber auch in Europa populären PARECON-Aktivisten. PARECON steht für »Participatory Economy« und wäre als krude Volkswirtschaftslehre zu bezeichnen, die einer anarchistischen Tradition entstammt, Markt und Privateigentum ablehnt, aber an dem Verkauf von Arbeitskraft – nach Verdienst – festhält Sich diese Gruppen einzeln anzuschauen, wäre so aufwendig wie langweilig. Zudem spielt die Mehrheit dieser Positionen auf einer höheren gesellschaftlichen Ebene kaum eine Rolle. Das mag zwar noch nicht ihre inhaltliche Irrelevanz bezeugen, sagt aber etwas über den gesamtgesellschaftlichen linken Diskurs, wie er sich in den relevanten Zeitschriften und Diskussionsforen abspielt. Der Zeitschrift Dissent kann man zugutehalten, in ihrer über 50jährigen Geschichte an allen Debatten von Bedeutung teilgenommen zu haben. Sie eignet sich deswegen nicht nur zur Darstellung bestimmter Positionen, sondern funktioniert gleichzeitig als ein Prisma, das ermessen lässt, was das »Amerikanische« an der Linken in den USA sein könnte.

»Socialism is the name of our desire.« Diese Worte schrieben Lewis A. Coser und Irving Howe 1954 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Dissent.Vgl. Irving Howe/Lewis Coser, Images of Socialism, in: Nicolaus Mills (Hrsg.), The Legacy of Dissent, New York 1994, 29–48. Dieser Bezug auf den Sozialismus – positiv, aber weit entfernt von der Affirmation seiner praktischen Realisierung in Bolschewismus und Stalinismus – war in den fünfziger Jahren keineswegs selbstverständlich. Die antikommunistische Grundstimmung des »Red Scare« – der Angst vor der »roten Gefahr« – war immer noch vorherrschend und mit dem Koreakrieg wurde die Spaltung der Welt in zwei Blöcke endgültig besiegelt. Die Wahl des Republikaners Dwight »Ike« Eisenhower beendete 20 Jahre demokratischer Vorherrschaft im Weißen Haus. 1993, kurz vor seinem Tod, wiederholte Howe in dem Essay »Two Cheers for Utopia« sein Festhalten an einem zwar formalen aber dennoch handlungsleitenden Begriff von Utopie.Vgl. Irving Howe, Two Cheers for Utopia, in: Nicolaus Mills/Michael Walzer (Hrsg.), 50 Years of Dissent, New Haven/London 2004, 247–251. Das Scheidejahr 2001 und die Angriffe vom 11. September hat er nicht mehr erlebt. Seit 1993 wird die Zeitschrift von Michael Walzer und Mitchell Cohen herausgegeben.

Diese drei Daten sind die Wegmarken einer Entwicklung, die im Folgenden nachvollzogen werden soll. Sie auszuformulieren, gibt nicht nur Einblicke in die Geschichte einer kleinen, aber einflussreichen Zeitschrift, sondern auch über die Geschichte und Anatomie der amerikanischen Linken. Ein solcher Versuch läuft auch darauf hinaus, Unterschiede zwischen einer kontinentalen und einer amerikanischen Linken zu finden. Historisch sind diese zunächst offensichtlich. Kommunistische oder sozialistische Bewegungen sind eine Erfindung Europas. Insofern muss auch gefragt werden, was der amerikanischen Linken ihre spezifische Ausformung gibt. Dabei sollen in erster Linie Positionen dargestellt und historisch verständlich gemacht werden. Für eine kritische Auseinandersetzung kann eine solche Darstellung lediglich den Anfang bilden.

The Roaring Fifties

Dass sich ein Blick auf die Zeitschrift Dissent lohnt, ließe sich leicht durch die illustre Reihe an Autoren und Autorinnen belegen, die seit der Gründung der Vierteljahreszeitschrift dort geschrieben haben. Doch dieses Autoritätsargument einmal beiseitegelassen, ist schon der Entstehungskontext bedeutsam für die politische Landschaft der USA. Die fünfziger Jahre bilden den Humus, auf dem alle gesellschaftsrelevanten politischen Positionen der nächsten Jahrzehnte gewachsen sind. Da wäre zum Beispiel Irving Kristol. Der ehemalige Trotzkist schrieb damals für die zu diesem Zeitpunkt noch deutlich liberalere Zeitschrift Commentary, die bis heute vom American Jewish Commitee herausgegeben wird. Später wurde er zu einem der geistigen Vordenker dessen, was man seit den achtziger Jahren »die Neokonservativen« nennt. Eine ganz ähnliche Entwicklung durchliefen der Soziologe Daniel Bell und Nathan Glazer. Etwas weiter links gab es die Zeitschrift Partisan Review, in der Intellektuelle wie Hannah Arendt, Saul Bellow und Susan Sontag schrieben. Und dann war da die Gründungsgeneration von Dissent. Politisiert wurden die meisten von ihnen in den dreißiger Jahren in New York City, genauer gesagt am City College, welches damals als »Harvard des Proletariats« galt. Dass ein Großteil von ihnen Kinder von Immigranten waren, ist nicht ohne Bedeutung. Irving Howe, Sohn ostjüdischer Eltern, graduierte 1940 am City College und lehrte später an der ebenfalls als sehr liberal geltenden Brandeis University. Andere Autoren der ersten Generation waren der in Deutschland geborene und emigrierte Soziologe Lewis A. Coser, der Kunsthistoriker Meyer Schapiro (geboren in Litauen) und der aus Deutschland stammende Henry Pachter, der an der New School for Social Research Geschichte lehrte.

Was die Riege der »New York Intellectuals« – wie diese Gruppe von Intellektuellen von Zeithistorikern genannt wurde – verband, war zunächst ihr Antistalinismus, den viele aus ihrer trotzkistischen Grundausbildung in die fünfziger Jahre hinübergerettet hatten. Dabei hielt man an dem Projekt einer Linken durchaus fest, auch wenn es in der Frage, wie das genau auszusehen hat, Unterschiede gab. Sich jedoch positiv auf den Sozialismus – der Begriff wurde in den nächsten Dekaden langsam von »social democracy« verdrängt – zu beziehen, erregte in den USA zu jener Zeit einiges Aufsehen, denn man hatte im Grunde an zwei Fronten zu kämpfen. Zum einen gegen eine uneinsichtige Linke, die auf dem bolschewistischen Auge blind war (dazu zählte die einflusslose, aber dennoch präsente Communist Party), und zum anderen die »Cold War Liberals«, denen ihr Antikommunismus über alles ging – so weit, dass sie ihre liberalen Ideale regelmäßig hintertrieben.Joanne Barkan, Cold War Liberals and the Birth of Dissent, Dissent, Sommer 2006, 95–102. Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Bürgerrechte im weitesten Sinne von Anfang an zu einem zentralen Element der Politik von Dissent zählten. Die Bürgerrechtsbewegung war noch lange nicht in Sicht, und selbst die Demokraten hatten immer wieder segregationistische Kandidaten oder befürworteten die Beschneidung der Bürgerrechte im Dienste des Antikommunismus. Eine Alternative – in Form einer progressiven Partei, einflussreicher Gewerkschaften oder einer außerparlamentarischen Opposition – gab es nicht. Dass die Zeitschrift, die bereits bei der Namensgebung den produktiven Dissens verstetigen wollte, sich nie einer Parteilinie anschloss, war aber nicht nur aus der Not geboren, sondern sollte auch intellektuelle Unabhängigkeit bewahren. Dass dies gelang, zeigt sich daran, wie wenig sich Dissent gescheut hat, besonders die Linke anzugreifen, und das durchaus in selbstkritischer Absicht.

Die Aporien des Universalismus

Was bedeutet es, in einer Supermacht – nach 1989 vielleicht der einzig verbliebenen Supermacht –, eine linke Position einzunehmen? Diese Frage stellte Michael Walzer 2002 in seinem Text »Can there be a decent left?« Es könnte genauso gut die Grundfrage für die ganze historische Periode nach dem Zweiten Weltkrieg sein.Michael Walzer, Can there Be a Decent Left?, in: Mills/Walzer (Hrsg.), 50 Years, 314–322. Irving Howe hatte einen Aufsatz in der ersten Ausgabe von Dissent mit dem Titel »The Problem with U.S. Power« überschrieben. Supermacht: das bedeutete zunächst international eine militärische und stellenweise auch wirtschaftliche Dominanz. Zu dieser kann man sich auf zweierlei Weise in Beziehung setzten. Man kann sie entweder, gerade weil sie einen solchen Einfluss hat, zum Hauptgegenstand der Kritik machen, in der Annahme, dass, wenn nur Amerika nicht so viel Macht hätte, alles besser wäre. Oder man bezieht sich im Wesentlichen auf die Ergebnisse und Wirkungen dieses Status, in welcher Hinsicht er Gutes oder Schlechtes bringt. Die zweite Position – die man zumindest Michael Walzer und sicher den meisten anderen Anhängern von Dissent zuschreiben kann – steht in einer pragmatistischen Tradition. Wert und Wahrheit einer Idee bemessen sich in dieser Theorie hauptsächlich an ihren praktischen Konsequenzen. Es ist wohl vor allem dieser Pragmatismus, der dazu führt, dass die in Dissent vertretenen Positionen vor allem eines beweisen müssen, nämlich Praxisnähe. »Praktisch« meint in diesem Sinne nicht notwendigerweise untheoretisch, im Gegenteil. Vielmehr geht es um eine bestimmte Vorstellung davon, was es bedeutet, »politisch« zu sein, was zumindest erfordert, dass man nicht völlig an den Realitäten derer, die man da befreien möchte, vorbeizielt. Dieser Pragmatismus ist es auch, der bezüglich der internationalen Rolle der USA im Besonderen und im Allgemeinen der Frage, wie sich außenpolitisch progressiv handeln lässt, vor allzu schnellen Kurzschlüssen bewahrt. Das zeigt sich vor allem in den verschiedenen Stellungnahmen zu militärischen Interventionen. Dass sich die wenigen linken Befürworter bestimmter Kriegseinsätze zu einem nicht unwesentlichen Teil bei Dissent versammeln, ist kein Zufall. Wer wann aus welchen Gründen sich für einen militärischen Einsatz ausgesprochen hat, soll hier nicht referiert werden.Eine zentrale Wegmarke dieser Entwicklung ist jedoch zweifellos Michael Walzers 1977 veröffentliche Studie Just and Unjust Wars. Paradebeispiel eines gerechten und gerechtfertigten Krieges ist und bleibt der Krieg der Alliierten gegen die Nationalsozialisten. Doch dass dies getan wurde, zeigt, wie konsequent man sich stellenweise von vermeintlich linken Gewissheiten getrennt hat.

Das Ergebnis dieser Trennung ist jedoch kein naiver Liberalismus in dem Sinne, dass es einfach genügt, ausgehend von einem abstrakten Individualismus, liberale Prinzipien weltweit zu implementieren, auf das sich die Misere schon wenden werde.Zum Folgenden ausführlich: Michael Walzer, Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie, Frankfurt/Main 1996. Das gilt auch für so hehre Ideen wie Universalismus und Kosmopolitismus. Diese sind wertlos, wenn es keine Communities gibt, die sie für sich annehmen und mit ihren konkreten Lebensumständen verbinden. Doch mit diesen Communities muss man sich zunächst einmal auseinandersetzen. In seiner abstrakten Version jedenfalls ist der Universalismus so hilflos wie leer. Doch die Aporie zwischen abstrakter Allgemeinheit und konkreter Differenz – Hannah Arendt nannte das die »Aporien der Menschenrechte« – kann nicht nach einer Seite hin aufgelöst werden. Sie durch sie hindurch manövrieren, bedeutet, die Skylla des Relativismus einerseits und die Charybdis des »Aufklärungsfundamentalismus« anderseits zu umgehen.Die Theorie, mit der in den achtziger Jahren versucht wurde, der Abstraktheit des Liberalismus auf praktischer Ebene etwas an die Seite zu stellen, war der Kommunitarismus. Hier ging es nicht um den Rückbezug auf »konkrete« oder »natürliche« Gemeinschaften, die dann gegen die Gesellschaft ausgespielt werden, sondern darum, dass sich Individuen zunächst immer in sozialen Communities befinden, die als politische Einheiten in die Theorie eingehen müssen.

Dissents Exzeptionalismus

An der konkreten Differenz der Juden hat der abstrakte Universalismus seit jeher seine Brüchigkeit bewiesen. Das Unverständnis gegenüber der Situation der Juden in der bürgerlichen Gesellschaft hat nicht wenig dazu beigetragen, dass die Themen Israel und Antisemitismus sich besonders nach 1989 als einer schwerwiegendsten blinden Flecke der Linken herausgestellt hat. Dissent zeichnet sich hierin durch eine von der traditionellen Linken positiv abweichenden Haltung gegenüber gesellschaftlichem und linkem Antisemitismus, Antiamerikanismus und dem Staat Israel aus. Diese Position – auch wenn es graduelle Unterschiede gibt – allein auf die Ursprünge der Zeitschrift bei den mehrheitlich jüdischen »New York Intellectuals« zurückzuführen, griffe entschieden zu kurz. Vielmehr hatte die Gründergeneration einen Lernprozess durchgemacht, der dem der hiesigen Linken nicht unähnlich ist. An der Person Irving Howes lässt sich diese Entwicklung nachvollziehen.Zu dem Folgenden vgl. Edward Alexander, Irving Howe and the Holocaust. Dilemmas of a Jewish Radical, in: American Jewish History, Vol. 88, Nr. 1, März 2000, 95–113.

Howe schrieb in den dreißiger und vierziger Jahren vor allem für die beiden trotzkistischen Zeitschriften New International und Labor Action, und wie viele seiner Genossen nahm er den Zweiten Weltkrieg zunächst unter ökonomistischen Vorzeichen wahr. Ausschlaggebend war für Howe trotz seines Anti-Stalinismus immer noch die Situation der Arbeiterklasse; deren Zerschlagung blieb dann auch das einzige Argument gegen Hitler. Die gesamte antisemitische Dimension des Nationalsozialismus blieb Howe verborgen, was er später in seiner Biographie bitter bereute. Wie viele amerikanische Linke war Howe gegen den Kriegseintritt der USA und entwickelte erst relativ spät etwas, das er »kritische Unterstützung« nannte.

Auch gegenüber der Gründung des Staates Israel war Howe anfänglich ambivalent. Einerseits äußerte er tiefstes Verständnis und Empathie für die Sehnsucht nach einem eigenen Staat, anderseits kritisierte er die Hardliner der Irgun. Erst ein Verständnis der Katastrophen des 20. Jahrhunderts brachte Howe zum Umdenken. In der Folge wurde Howe vor allem durch sein Wirken als Literaturkritiker bekannt. Auf diesem Feld machte sich die erwähnte Veränderung zuerst bemerkbar, als Howe die Verleihung des Bollingen-Preises an den Antisemiten Ezra Pound scharf kritisierte. Dabei kehrte sich Howe vor allem gegen sein eigenes Verständnis von Literatur. Irving Howe schrieb später: »Wir waren gezwungen, unser Verständnis von literarischer Autonomie zu überdenken.«Ebd., 111. Besonders in New York hatte sich die Mehrheit der Literaturkritiker dem Modernismus verschrieben und dessen Trennung von Moral und Literatur unterschrieben. 1948 wendete Howe diese Kritik dann gegen einen Linken, Theodore Dreiser, der Antisemit und ein Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war.

Während in der Geschichte der Linken ein solches Umdenken partiell seit den sechziger Jahren, eigentlich aber erst nach 1989 einsetzte, hatte Dissent bereits in den fünfziger Jahren eine von der traditionellen Linken abweichende Haltung eingenommen, die sich über die Jahrzehnte bis in die Gegenwart zog.Insofern gab es 1967 auch keinen Bruch, wie anderswo. Zum Sechs-Tage-Krieg vgl. Stanley Plastrik, Israel after the Six Days War, Dissent, Frühling 1968. Online einzusehen unter: http://www.dissentmagazine.org/article/?article=812. So war es nicht selbstverständlich, in den sechziger Jahren die Black-Panther-Bewegung für ihren unterschwelligen Antisemitismus zu kritisieren,Bayard Rustin, The Negroes, the Cops, the Jews, in: Mills/Walzer (Hrsg.), 50 Years, 84–92. denn die entstehende Neue Linke, für die Bürgerrechte neben dem Vietnamkrieg das zentrale Movens darstellten, wurde durchaus als eine Möglichkeit gesehen, eine progressive Linke zu rekonstituieren.Dennoch hielt man sich mit der Kritik an Verbalradikalismus oder den militanten Splittergruppen wie den Weather Underground nicht zurück. Eine der im Dissent-Universum frei flotierenden Anekdoten besagt, dass Weather Underground Anfang der siebziger Jahre vorhatte, im Büro der Zeitschrift eine Bombe zu legen. Allerdings fand man das Büro nicht, denn es gab bis Anfang der Neunziger keins. Vehementer und in dem Bewusstsein, mit diesem Teil der Linken nichts mehr zu tun haben zu wollen, war da schon die Kritik an den antisemitischen und antiamerikanischen Tendenzen nach dem 11. September 2001, wie sie unter anderem von Mitchell Cohen geäußert wurde.Vgl. Mitchell Cohen, Anti-Semitism and the Left that Doesn 't Learn, Dissent, Winter 2008, 47–51. Dabei handelt es sich nicht allein um eine ideologiekritisch motivierte Position, wie das in den Theorien (anti-)deutscher Provenienz der Fall ist. Immer geht es auch um eine progressive Haltung zu einem komplexen politischen Konflikt und nicht allein darum, »falsches Bewusstsein« zu denunzieren. Die, wenn man so will, Wurzel der Kritik an Antisemitismus und Antizionismus ist nicht der Kapitalismus und eine ihm entsprechende ideologische Formation, sondern der Wunsch, politische Verhältnisse angemessen zu verstehen und sich zu ihnen positionieren. Deswegen werden die Reduktionismen der Linken bezüglich Israel nie ohne eine Diskussion tatsächlicher Verhältnisse kritisiert. Damit ist die Position vielleicht am ehesten als »notzionistisch« zu begreifen, um einen Begriff von Hans Mayer aufzunehmen, denn sie will sich weder die Rede über Positives und Negatives einer Situation nehmen lassen noch in die Falle einer ideologischen Verzerrung treten. Nur so ist es zu verstehen, dass in einem angloamerikanischen Diskurs der »neue Antisemitismus« und die tatsächliche Situation in Israel zusammen verhandelt werden.Am eindrücklichsten zeigt sich das an dem Text von Shalom Lappin, der der israelischen Friedensbewegung nahesteht. Vgl. Lappin, Israel and the New Anti-Semitism, Dissent, Frühling 2003, 18–24.

Das sozialistische Dilemma

Dass es im 20. Jahrhundert in den USA weder so etwas wie ein organisiertes Proletariat gegeben hat,Vgl. Sebastian Voigt, Die Dialektik von Einheit und Differenz, Berlin 2007, 80–86. noch eine andere gesellschaftsrelevante und im weitesten Sinne marxistisch inspirierte Opposition, hatte bereits Theodor W. Adorno und Max Horkheimer während ihrer Exilzeit beschäftigt und die Dialektik der Aufklärung entscheidend beeinflusst. Sieht man von dem kurzen Zwischenspiel der durchaus kapitalismuskritischen 68er, den Auslassungen eines Noam Chomsky und der diffusen wie stellenweise falschen Kritik der AntiglobalisierungsbewegungDass sich die Euphorie über die Antiglobalisierungsbewegung in den Reihen von Dissent in Grenzen hält, hat zum einen mit dem weitgehenden Mangel eines Alternativvorschlags zu tun, zum anderen schlicht mit den politischen Positionen, die man hinsichtlich des Nahen Ostens, des Islamismus und der Vereinigen Staaten einnimmt. Paradigmatisch für diese skeptische Haltung ist Mitchell Cohens Rezension von Negri und Hardts Empire. Vgl. Mitchell Cohen, An Empire of Cant, Dissent, Sommer 2002, 17–28. einmal ab, gibt es auch heute kaum Stimmen in den Vereinigten Staaten, die ernsthaft über eine Theorie und Praxis jenseits des Kapitalismus nachdenken. Das heißt nicht, dass es sie nicht gibt, nur bleiben sie im Wesentlichen gebunden an den akademischen RahmenZu diesen ließen sich Leute wie Perry Anderson, Fredric Jameson oder Moishe Postone zählen. oder die Irrelevanz kleiner Splittergruppen. Ein Grund dafür könnte darin liegen, dass eine marxistische Theorietradition zunächst importiert werden musste und sich nicht so einfach in die Verhältnisse der jungen Vereinigten Staaten einpassen ließ. Diesen transatlantischen Dialog kann man noch heute in Zeitschriften wie der New Left Review sehen, die ihren Ursprung nicht zufällig in England und nicht in den USA hat. Wer sich nicht, wie Telos oder New German Critique, explizit an einem kontinentalen Kritikmodell orientiert, wird die marxistische Tradition Europas allenfalls modifizierend aufnehmen.

Dissent bildet da keine Ausnahme. Zwar haben Leute wie Herbert Marcuse und Marshall Berman in der Zeitschrift geschrieben, und viele der frühen Autoren hatten, wie bereits erwähnt, einen trotzkistischen Hintergrund, aber durchsetzen konnten sich solche Positionen nicht. Vielmehr waren politische Missstände im weitesten Sinne und eben nicht Kapitalismus »als solcher« der Hauptgegenstand der Kritik. Inhaltlich liegt dies zum einen in einer deutlichen Skepsis begründet, die ihre Wurzeln im Antistalinismus der Linken in den fünfziger Jahren hat. Eine gewaltvolle Abschaffung des Kapitalismus hatte sich schlicht diskreditiert, ebenso wie die vielfältigen planwirtschaftlichen Modelle. Zudem war man wenig optimistisch, was die Möglichkeit der Organisation der Gesellschaft auf basisdemokratischer Ebene betraf. Oscar Wilde sagte einmal, das größte Argument gegen den Sozialismus sei, dass er zu viele Abende in Anspruch nehme. Demnach gab es weder einen Abschied von staatlich verfassten Gemeinwesen noch von einer demokratisch gewählten Regierung. In politischer und ökonomischer Hinsicht kritisierte man zwar Ungerechtigkeiten weiterhin aufs Schärfste, glaubte aber dennoch, dass es möglich sei, soweit reformerisch aktiv zu sein, dass sich der Kapitalismus schließlich – vielleicht bis zur Unkenntlichkeit – verändere. Hinzu kam eine Grundausrichtung, die man als »Vorrang des Politischen« bezeichnen könnte. Bürgerliche Freiheitsrechte, der freie und unreglementierte Zugang zu Ressourcen und das Recht auf freie Meinungsäußerung stehen weit mehr im Vordergrund als die Kritik an einer vermeintlichen »ökonomischen Basis«. Dass gerade der Zugang zu Ressourcen im Kapitalismus entscheidend reglementiert ist, haben Leute wie Michael Harrington durchaus gesehenZum Folgenden vgl. Michael Harrington, Markets and Plans, in: Mills (Hrsg.), The Legacy of Dissent, 77–104. und eine Art dritten Weg zwischen den abstrakten Alternativen Markt- vs. Planwirtschaft vorgeschlagen. Dabei sollte der Markt als Steuerungselement beibehalten, über Umverteilungsmaßnahmen, Lohnpolitik etc. aber kollektiv und solidarisch entschieden werden. Das Konzept war paradox: Arbeit sollte dekommodifiziert – also dem Markt entzogen – werden, aber in Reaktion auf die Erfordernisse eines existierenden Arbeitsmarktes. Das Surplus der Produktion sollte nicht profitförmig sein, sondern als materieller Reichtum solidarisch umverteilt werden. Effizienz und Produktivität bleiben in diesem Konzept als die Gesellschaft dynamisierende Faktoren erhalten, nur sollen sie nicht einen abstrakten Wert vermehren, sondern konkrete Gebrauchswerte. Was die Kurzschlüsse dieser Theorie waren und warum sie sich nicht realisieren ließen, steht auf einem anderen Blatt. Nach 1989 veränderte sich die ökonomische Position jedenfalls hin zu einer eher klassisch sozialdemokratischen Haltung. Sie beinhaltet einen empathischen Bezug auf soziale Gerechtigkeit, den Schutz bestimmter sozialer Versorgungsmechanismen und eine Betonung der Rolle der Gewerkschaften.

Warum dieser starke Bezug auf »social democracy« oder »democratic socialism«? Der geübte Marx-Exeget erkennt darin leicht den Fehler, dass die Basiskategorien der kapitalistischen Produktion nicht angetastet werden, und möglicherweise ließe sich auch eine Idealisierung des Zusammenhangs zwischen sozialdemokratischen Gemeinwesen und politischen Freiheitsrechten nachweisen. Schließlich ist auch die Sozialdemokratie nicht vor autoritären Zügen gefeit und muss sich den Vorwurf der Elendsverwaltung gefallen lassen. Dass diese von der Kritik ausgespart wird, kann man den Autoren der Zeitschrift nicht vorwerfen. Was vielmehr eine Rolle zu spielen scheint, ist zum einen die nur fragmentarisch in den USA vorhandene sozialdemokratische Tradition und zum anderen ein schlichter Mangel an überzeugenden Alternativen. Insofern wäre der empathische Bezug auf die Sozialdemokratie nicht nur ein substantieller Ausdruck der Affirmation bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern auch einfach aus der Not geboren.

Fazit

Eingangs wurde Irving Howes zweifache Affirmation des Begriffs »Sozialismus« erwähnt. »Sozialismus« – das war eine Kategorie der Zwischenkriegszeit, und im Rahmen dieser Tradition hat sich das politische Profil von Dissent und der amerikanischen Linken im Allgemeinen formiert. Terminologische Konstruktionen, die in Europa aus der Enttäuschung über die politischen Bewegungen erwachsen waren – »befreite Gesellschaft« oder »Emanzipation« als Stellvertreterbegriffe, mit denen versucht wurde, das traditionelle Paradigma zu verlassen – wird man in der Geschichte der amerikanischen Linken nach 1945 kaum finden. Dissent hat die Schwierigkeit dieser Kategorien zum Verständnis der Komplexität des 20. Jahrhunderts wie kaum ein anderes Projekt in seine Theorie und Praxis aufgenommen, ohne sich jedoch von den zentralen politisch-emanzipatorischen Forderungen der Moderne zu trennen. Imperialismus – oder seine linke Ablehnung – ist kein taugliches Mittel zur Analyse der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, abstrakter Pazifismus eine eskapistische und tendenziell politisch verantwortungslose Position. Die Abschaffung des Kapitalismus durch eine bestimmte Klasse oder eine freie Vereinigung von Individuen scheint heute nicht nur schwerer als je zuvor, sondern sie hat vor allem ihre politische Unschuld verloren. All dies verbindet sich bei Dissent mit einer amerikanischen Tradition des Pragmatismus, die affirmiert, was funktioniert. Dass es dieses Funktionieren in Reinheit und Perfektion nicht gibt und vielleicht nicht geben kann, ist darin inbegriffen. Aber wenn man sich von der Idee einer befreiten Gesellschaft mit ruhiggestellten Widersprüchen einmal befreit hat – oder sie vielleicht nie vertrat – dann ändert sich auch die Haltung gegenüber Konflikten, Reibungen und Unstimmigkeiten. Sie gehören dazu und müssen so gut als möglich ausgehandelt werden. Zudem scheinen sich in einem Land, das die eigene Gründungsgeschichte als Revolution und Befreiungsakt vollzogen hat, die Koordinaten noch einmal zu verschieben. Wo das eigene Gemeinwesen auf dem Bekenntnis zu politischen Werten gegründet ist, wirkt etwas wie die Abschaffung von Nationalstaaten wie eine Sprache aus einer anderen Welt. Schließlich spielt bei Dissent immer auch ein bestimmtes Bild von Kritik eine Rolle, mithin eine bestimmte Vorstellung des linken Intellektuellen.Vgl. Michael Walzer, The Company of Critics, New York 2002. In ihr liegt der Fokus auf Praxis und den tatsächlichen Lebensverhältnissen der Menschen. Sie und weniger die Bestätigung einer bestimmten Theorie sind die Richtschnur des Handelns. Insofern ist der Name der Zeitschrift – Dissent – der vermutlich treffendste, und die anhaltende Aufgabe bleibt, es der Linken ein bisschen weniger recht zu machen. Produktiv sind deswegen vor allem die Fragen, die in der Zeitschrift gestellt werden. Ob das für alle Antworten gilt, würde den Rahmen dieses Textes bei Weitem sprengen.

ROBERT ZWARG

Der Autor lebt in Leipzig und ist Mitglied der »Gruppe in Gründung«.