Es gehört wohl kaum zu einer verbreiteten linken Position, Kritik an Sterbehilfe-/Euthanasiebefürwortung Ich vernachlässige die geringen semantischen Unterschiede und setze beides von der NS-»Euthanasie« ab. zu üben. Ein Grund dafür liegt in der Rolle, die Autonomie und Selbstbestimmung in den Argumentationsfiguren der Euthanasiebefürwortung spielen, ein anderer in der Unkenntnis darüber, welche Geschichte diese Argumentationen haben. Ausgehend vom Zauberwort Autonomie, erörtert der folgende Text den argumentativen Kern der Euthanasiebefürwortung in der Moderne und beschreibt dann, wie diese im Rahmen der justiziellen Ahndung der NS-»Euthanasie« bedacht bzw. übergangen wurde. Dieser diskursgeschichtlichen Rekonstruktion folgt eine Erörterung, wieso zwei auch für Linke wichtige Bezugnahmen auf den Körper in (post-)industriellen Produktionsverhältnissen, dem Verwerfen als dysfunktional wahrgenommener Körper, wenig entgegen zu setzen vermochten und vermögen. Bei den beiden Positionen handelt es sich zum Einen um die Zurückweisung einer spezifisch abendländischen Trennung von Körper und Geist und zum Anderen um einen forcierten Antiessentialismus, der gerade in der Abkehr von einem als natürlich gedachten Körper Emanzipationspotenziale ausmacht. Dass die Kritik der Euthanasie diese beiden einflussreichen und in Spannung zu einander stehenden Positionen zu problematisieren hat, verweist auf eine Leerstelle linker Subjektkritik.
Ausgangspunkt Autonomie
»Jedem sollte das Recht zugesprochen werden, dass er mit seinem Leben machen kann was er will.« Der User im Forum von Report Mainz ärgerte sich über einen Beitrag des Fernsehmagazins zur Sterbehilfeorganisation Dignitas. Report Mainz, »Dubiose Praktiken eines Schweizer Vereins«, Sendung vom 29. Januar 2007, ARD. »Mit welchem Recht sprechen Sie einem Menschen die Verfügungsgewalt über sein eigenes Leben ab?!« echote ein anderer. Das Räsonieren legt nahe, dass die Euthanasie in den großen Topf der Fragen zur Selbstbestimmung gehört. Das ist in doppelter Hinsicht falsch. Konstitutiv ist eine zweite Figur im Spiel – der prospektiven SterbehelferIn, diejenige, die vom Räsonieren adressiert wird. Mit diesem Zweiten ist die Frage des Tötungstabus berührt und somit die, wer unter welchen Umständen töten darf und wer jenseits von Notwehr oder Kriegshandlung getötet werden soll. Zudem steht die Entscheidung sterben zu wollen in einem Verhältnis zu den überpersonalen Umständen des Lebens, den sozialen Bedingungen von Krankheit und Pflegebedürftigkeit wie auch der normativen Settings.
Gleichwohl hat das Kreisen um die Selbstbestimmung seine Wirkung nicht verfehlt. »Mit diesem Pathosbild von Autonomie – meine Freiheit zum Tode muss ich dadurch verwirklichen dürfen, dass ich ihn als eine Dienstleistung durch Dritte regulär einfordern kann – hat der Diskurs der sich selbst so nennenden internationalen Sterberechts-›Bewegung‹ seit den 1970er Jahren bemerkenswerte Erfolge erzielt.« Petra, Gehring, Was ist Biomacht? Vom zweifelhaften Mehrwert des Lebens, Frankfurt a.M. 2006, 209. Von der Geste des Aufbegehrens zehren die BefürworterInnen der Euthanasie bis heute. »Liberale Sterbehilfeforderungen scheinen gleichermaßen kompatibel mit dem antiautoritären Ideal linker Selbsthilfegruppen wie mit dem Selbständigkeitsideal einer bürgerlichen Elite oder mit offen rassistischen New-Age-Ideologien.« Ebd. Die Empörung über die Einschränkung der persönlichen Freiheit mündet in die Forderung an den Staat, ein ordnungsgemäßes Tötungsverfahren zu etablieren. In Deutschland hieße das, den § 216 StGB, der die Tötung auf Verlangen unter Strafe stellt, abzuschaffen und durch eine Regelung zu ersetzen, mit der eine Instanz – die Medizin – autorisiert wird, dem Verlangen nachzugeben. So ist es Praxis in den Niederlanden und in Belgien. In diesem berufsständischen Modell wird die Sterbehilfe vom Medizinbetrieb verwaltet und in die Palette der Behandlungen aufgenommen. Im zweiten, dem Modell der liberalen Sterbehilfe, wird im Rahmen bürgerschaftlichen Engagements Beihilfe zum Suizid angeboten. Da hier das Verfahren nicht eng geregelt und die Zuständigkeiten nicht genau vergeben sind, entstehen größere Spielräume. Zentral aber ist, dass der entscheidende Handgriff von KlientInnen vollzogen wird, während im ersten Modell, neben der Willensbekundung, der beigezogene medizinische Befund die wesentliche Rolle spielt. In der Schweiz stellen Vereine wie Dignitas oder Exit ein Angebot bereit, das den Weg zur Selbsttötung von allen Hindernissen befreit – bis hin zum Anlegen der Spritze. Die mit dieser Verfahrensweise einher gehende Profanisierung und Kommerzialisierung des Helfens führt mitunter zu Irritationen, ebenso wie der Verdacht, dass auch Depressive durch das Verfahren geschleust werden, ein Einwand, der zur Logik der Sache führt.
Sowohl als auch – die Argumentationsstruktur der Euthanasiebefürwortung
Euthanasie ist kein faschistisches Projekt, keine rechte Domäne. Das zeigte sich bereits beim Aufkommen der Euthanasiedebatte Ende des 19. Jahrhunderts und in den folgenden drei Jahrzehnten, in denen Euthanasie als ein spezifisches Projekt der Moderne geprägt wurde: »Dem Paralytiker, der in einem lichten Augenblick um Gift fleht, bliebe durch die Erfüllung seines Wunsches eine vielleicht jahrelange qualvolle Agonie erspart; aber auch für seine Umgebung würde mit dem Ende seiner Qualen das für die Gesamtheit nutzlose Opfer an Geld, Gesundheit und Lebensfreudigkeit, wie es jeder hoffnungslos Kranke fordert, aufhören.« Oda Olberg, Das Recht auf den Tod, in: Die Zukunft 18 (1897), 493–502, hier 494. Der Text verbindet die Themen Euthanasie, Eugenik und Schwangerschaftsabbruch. Die Sozialistin Oda Olberg formuliert aus einer zeitgenössischen, säkular-fortschrittlichen Perspektive heraus. Gerichtet gegen die Auffassung des Lebens »als eines Kreuzes, das uns ein höherer Wille auferlegt«, Ebd., 493. wird die Anerkennung eines individuellen Rechts auf den Tod gefordert. Die Position wurde bald von den »Monisten« – scharfe GegnerInnen einer christlichen Weltanschauung und entschiedene MaterialistInnen – bekräftigt. Der Monismus, eine geistesgeschichtliche Strömung vom Beginn des 20. Jahrhunderts, ging von den Erkenntnissen und Postulaten der Evolutionstheorie aus und verstand sich als naturphilosophische Einheitslehre: Die kategoriale Grenze zwischen Fragen der Sittlichkeit und Fragen der Erkenntnis, zwischen Religion und Wissenschaft wird durchbrochen, der Gottesbegriff fällt mit dem der Substanz zusammen. Geist und Natur, Wesen und Erscheinung, Denken und Ausdehnung – jedweden Dualismen wird programmatisch eine Absage erteilt, entsprechend wird Moral nicht außer- oder überweltlich fundiert, sondern aus den Vorgängen der Natur »abgeleitet«. Der Monismus spielte eine entscheidende Rolle für die Popularisierung der Eugenik. Udo Benzenhöfer, Der gute Tod? Geschichte der Euthanasie und Sterbehilfe, Göttingen 2009, 86.
Die in Anschlag gebrachte Vernunft schließt überindividuelle Aspekte ein. »Damals wie heute wurde zunächst betont, dass der Lebenswert stets vom Standpunkt des Individuums aus abzuschätzen sei. Der leidende Mensch selber solle über seinen Tod entscheiden, nicht sein soziales Umfeld oder gar die Gesellschaft oder der Staat. Doch zeigte sich sehr bald, dass die Grenzen zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung nicht scharf gezogen werden konnten.« Hans-Walter Schmuhl, Die Geschichte der Lebens(un)wert-Diskussion. Bruch oder Kontinuität? in: Ute Daub/Michael Wunder (Hrsg.), Des Lebens Wert. Zur Diskussion über Euthanasie und Menschenwürde, Freiburg 1994, 51–60, 53f. Die Zweckdienlichkeit eines vorzeitigen Sterbens der Kranken und Siechen trat neben das Beharren auf Selbstbestimmung – die Grenze fungierte als Verbindung. »Die Verquickung dieser unterschiedlichen Formen der ›Euthanasie‹ zieht sich wie ein roter Faden durch die historische Diskussion.« Ebd., 54. Der geschmeidige und selbstverständliche Übergang von einer Willensäußerung zu einem Kalkül (das allenfalls mit einem bloß unterstellten Willen arbeitet) ist keine Fehlleistung, sondern eine logische Konsequenz. Denn das Tötungstabu soll nicht in der Form aufgehoben werden, dass jedeR, der oder die es will, gemäß einem geregelten Verfahren umgebracht werden kann, sondern es soll aufgehoben werden für diejenigen, die in einer bestimmten Situation sind und ihr Verlangen zu sterben mit dieser Lage begründen. Der Wille zum Sterben wird genau dann als legitim betrachtet, wenn die Gesellschaft aus nicht-subjektiven (sondern allgemein geteilten) Gründen es für richtig hält ihn zu erfüllen: Mit der Abwesenheit von Sinn und Wert, unter der Maßgabe einer allgemeinen lebensweltlichen, medizinischen und volkswirtschaftlichen Rationalität. Immer geht ein Werturteil in die Entscheidung ein.
Welche empirischen Zustände diese Kriterien erfüllen, wurde in der Geschichte der Euthanasiebefürwortung höchst unterschiedlich bestimmt: auswegloses Leiden, unheilbare Krankheit, eine analoge seelische Not usw. Entsprechend stark variierten die Indikationen: Rückenmarksdurchschuss, Epilepsie, Schizophrenie, unterschiedliche Formen geistiger Behinderung, Wachkoma etc. Die Zahl der in die geforderte Freigabe der Tötung einzubeziehenden Personen stieg in der Diskussion zwischen 1920 und 1932 von 3.000 auf 30.000, vgl. Schmuhl, Die Geschichte der Lebens(un)wert-Diskussion, 55. In der Logik der Euthanasie fällt auf alle, die sich in einem entsprechend klassifizierten Zustand befinden, der taxierende Blick, ob ihnen nicht die »Gnade« zuteil werden sollte, die andernorts einE SterbewilligeR verlangt hat. Die gesetzliche Regelung einer Tötung auf Verlangen zieht unverlangte Tötungen nach sich – das lässt sich dank der niederländischen Dokumentationspraxis auch empirisch fundieren. In den Niederlanden wird das bestehende Gesetz unterlaufen. Die Zahl der Fälle von Tötung ohne Einwilligung lag, ohne Dunkelziffer, 1990 bei 976 Fällen, 1995 bei 913 Fällen und 2001 bei 941 Fällen. Michael Wunder, Des Lebens Wert. Zur alten und zur neuen Debatte um Autonomie und Euthanasie, in: Maike Rotzoll u.a. (Hrsg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn 2010, 391–401, 395. Bei etwa 20 Prozent aller Sterbehilfevorgänge in den Niederlanden versagt die gesetzliche Bindung der PatientInnentötung an das persönliche Verlangen. Getötet wird, weil die Ärztin oder der Arzt es für richtig hält.
So wie die Beurteilung von Sinn und Nutzen eines Weiterlebens sich den Willensbekundungen beigesellt, so wie sich das Mitleid als zur Maskierung eigener Impulse und Interessen geeignetes Motiv nicht bei der Tötung auf Verlangen festhalten lässt, so lässt auch die Erwägung des Sozialnutzens einer Tötung von behinderten Neugeborenen seitens der gesunden VollbürgerInnen die Furcht vor jener Nutzlosigkeit anklingen, die auch sie ereilen könnte. Sowohl die Wahrnehmung objektiven Nutzens wie die des subjektiven Sinns basieren auf einem intersubjektiv erzeugten Gefüge von Wert- und Zweckbestimmungen. Dieses Gefüge steht durchaus in einem Verhältnis zu historischen Umbrüchen und Krisen. Insofern trägt die Euthanasiebefürwortung eine Tendenz zur Entgrenzung in sich. Für die Zeit zwischen 1900 und 1933 lässt sich eine Korrelation feststellen zwischen Krisen im Anstaltswesen, besonders in der Anstaltspsychiatrie, und den Konjunkturen der Euthanasie-Debatte: »Probleme des Gesundheits- und Fürsorgesystems schlugen unmittelbar auf den philosophischen, juristischen und medizinischen Diskurs durch. Dabei rückte der Kostenfaktor immer weiter in den Vordergrund.« Schmuhl, Die Geschichte der Lebens(un)wert-Diskussion, 57. Der Frage, was der Unterhalt der Unproduktiven kosten darf, haben sich vor dem Nationalsozialismus insbesondere all jene angenommen, die sich ohnehin für eine bevölkerungspolitische oder eugenische Perspektive stark machten. In der Gegenwart nimmt der Zusammenhang zwischen der Krise (»Pflegenotstand«, »Alterspyramide«) und der Euthanasiebefürwortung eine etwas andere Form an.
Rezeption der NS-»Euthanasie«
Es erscheint sonderbar, Euthanasie nicht als rechtes Projekt zu qualifizieren, denn bekanntlich stand am Beginn der nazistischen Vernichtungspolitik die systematische Ermordung von Kranken und Behinderten. Nach so genannten Probevergasungen an polnischen PsychiatriepatientInnen in Posen – das Täterwort Probevergasung ist derart zynisch, dass Anführungsstriche allein es nicht zu distanzieren vermögen – wurden im Lauf des Jahres 1940 Gaskammern zunächst in den Orten Grafeneck, Brandenburg/Havel, Sonnenstein/Pirna und Hartheim eingerichtet, dann auch in Bernburg und Hadamar. Diese Stätten glichen in der Funktionsweise den 1942 eingerichteten Vernichtungszentren in Belzec, Sobibor und Treblinka: keine Lager, keine raumgreifenden Zäune, kein Aufenthalt. Zwar sind die genannten Ortsnamen der »Aktion T4« als einige der zahlreichen Tatorte der NS-»Euthanasie« gegenwärtig nicht sehr bekannt, die historischen Fakten werden jedoch nicht in Zweifel gezogen. Die Literatur zur NS-»Euthanasie« ist heute kaum noch zu übersehen. Als Überblicksdarstellung: Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997. Für interessante Perspektivwechsel: Petra Fuchs u.a. (Hrsg.), »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen 2007. Wenn die BefürworterInnen der Sterbehilfe sich heute mit ihrem Projekt erfolgreich als Gegenentwurf zur NS-»Euthanasie« positionieren können, dann liegt es daran, dass es gelungen ist, diese als Inbegriff einer fanatisch rassebiologischen Weltanschauung darzustellen, als ein Projekt, das sich um den Willen der einzelnen Kranken oder Behinderten nicht im geringsten scherte. Und das ist zutreffend. Dass damit aber nicht alles über die NS-»Euthanasie« und ihr Verhältnis zu den ordentlichen Regelungen der bürgerlichen Welt gesagt ist, dass womöglich nicht einmal Wesentliches gesagt ist, wird deutlich beim Blick auf die Nachgeschichte, als die Aburteilung von »Euthanasie«-TäterInnen auf der Tagesordnung stand. So heißt es zum Beispiel 1947 in einem Urteil des Frankfurter Landesgerichts, es sei den NationalsozialistInnen nicht um » ›Euthanasie‹ im engeren oder weiteren Sinne, nicht um die Durchführung einer von ethischem Verantwortungsbewusstsein und ernster Wissenschaftlichkeit getragenen Aufgabe« gegangen, vielmehr habe es sich um eine »ebenso brutal wie hemmungslos durchgeführte Massenvernichtung ganzer Gruppen unerwünschten Lebens« Urteilsbegründung Landesgericht Frankfurt am Main 1947, zit. n. Christian F. Rüter u.a. (Hrsg.), Justiz und NS-Verbrechen. Sammlung deutscher Strafurteile wegen nationalsozialistischer Tötungsverbrechen 1945–1999, 50 Bde., Bd. 1., Amsterdam 1968, 304–365, 319. gehandelt. Daher sei es wichtig, die vergangenen Geschehnisse von dem, »was die Wissenschaft mit ›Euthanasie‹ – auch im weiteren Sinne – bezeichnet, klar und endgültig zu trennen«. Ebd., 320. Das Gericht erfindet sich in diesem Moment eine Euthanasie, die mit der Erwägung des Sozialnutzens, mit der bevölkerungspolitischen Warnung vor der Zunahme der Minderwertigen, mit der Erörterung von Maß und Form einer freizugebenden Vernichtung nichts zu tun hat. Vgl. die einflussreiche Schrift von Karl Binding / Alfred Hoche, Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Berlin 2006. Die seit den Tagen von Oda Olberg von vielen Seiten mit Eifer geführte Diskussion über Sinn und Unsinn des Lebenlassens bestimmter AnstaltspatientInnen, die jahrzehntelange Aushöhlung des Tötungstabus durch PsychiaterInnen, SozialpolitikerInnen und JuristInnen, all die Kalkulationen möglicher Ersparnisse, die Affektbilder und Horrorszenarien, die ganze Rhetorik der Selektion – all dies weicht einer ebenso fiktiven wie ethisch einwandfreien Euthanasie, gegen welche 1947 die NS-»Euthanasie« als Ausgeburt des Bösen abgesetzt werden kann. Christoph Schneider, Das Subjekt der Euthanasie. Transformationen einer tödlichen Praxis, Münster 2011, 134ff. Der Preis für diese Totalignoranz (die immerhin im Dienste der Verurteilung stand) wurde kurze Zeit später entrichtet. Die politischen Rahmenbedingungen hatten sich verändert, die Zeit der Sühne ging zu Ende. Jetzt wurde Bezug genommen auf die dem Nazismus vorangegangene Debatte. Allerdings gerieten die Beiträge und Positionen nicht etwa wegen ihrer den Massenmord stützenden Funktion rückwirkend in Misskredit, sondern ihre Autorität wurde bekräftigt und diente nun zur Absicherung von Freisprüchen. Mittels der Anerkennung des »Verbotsirrtums« wurde diversen Angeklagten attestiert, dass die staatlich organisierte und medizinisch angeleitete Tötung von »niedergeführten Existenzen« nicht als Unrecht zu erkennen war. Vgl. z.B. das Urteil des Landesgerichts Göttingen vom 2. Dezember 1953 in Rüter: Justiz und Verbrechen, Bd. 11, 735ff. Wesentlich für die Fülle von Freisprüchen, Verfahrenseinstellungen und häufig nur kurzen Haftstrafen in Bereich der NS-»Euthanasie« seit 1948 waren neben der Anerkennung des »Verbotsirrtums« auch andere Strafausschließungsgründe sowie die notorische Gehilfenrechtsprechung.
Die NS-»Euthanasie« ist aus allem zuvor und danach Geschriebenen und Konzipierten herausgehoben durch die Tat. Zugleich ist diese Tat, der unzweifelhaft fremdbestimmte Massenmord, mit der Vor- und Nachgeschichte durch die Legitimations- und Exkulpationsfiguren eng verbunden.
Die Nachkriegszeit ist nicht nur eine, in der wenige TäterInnen angeklagt und noch weniger verurteilt wurden, sie ist auch die Zeit der Wiedereinsetzung bestimmter Postulate über die »geistig Toten«, Binding / Hoche, Die Vernichtung, 48. Hoches Bezeichnung legt die Auffassung nahe, es bliebe nur noch ein Rest zu tun, nämlich die Körperfunktionen abzustellen. sie ist die Latenzzeit einer neuen Sterbehilfedebatte. Der Aufschwung, den die Sterbehilfe in den siebziger Jahren in den Niederlanden nahm, und der in den achtzigern in der Bundesrepublik wesentlich mit der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben (DGHS) verbunden war, mündete erst mit der Einladung des australischen Philosophen Peter Singer an deutsche Universitäten in eine scharfe politische Auseinandersetzung. Peter Singer, Praktische Ethik, 2. Aufl., Stuttgart 1994. Singer wurde ab 1989 zu verschiedenen akademischen Veranstaltungen nach Deutschland eingeladen, um seine Euthanasiekonzeption vorzustellen. Nun gab es eine ernsthafte, theoretisch und praktisch vorgebrachte, Kritik an der öffentlichen, insbesondere von Seiten der akademischen Philosophie betriebenen Reetablierung bestimmter Begründungsfiguren, etwa dem notorischen Topos »lebensunwertes Leben«. Georg Herrmann / Klaus von Lüpke (Hrsg.), Lebensrecht und Menschenwürde. Behinderung, eugenische Indikation und Gentechnologie, Essen 1991. Oliver Tolmein, Geschätztes Leben. Die neue »Euthanasie«-Debatte, Hamburg 1990. Zu den historischen Kontexten der Zwangssterilisation Udo Sierck/Nati Radke, Die WohlTÄTER-Mafia. Vom Erbgesundheitsgericht zur humangenetischen Beratung, 4. Aufl., Frankfurt a.M. 1988. War es eine linke Kritik? Soweit es sich überschauen lässt, engagierten sich Teile der Krüppelbewegung, Feministinnen gegen Gen- und Reproduktionstechnologien sowie Einzelpersonen aus linken und kirchlichen Kreisen. Ihnen gegenüber fanden sich zahlreiche dem aufgeklärten Denken verpflichtete Linksliberale, z.B. Ernst Tugendhat, zuvor in Erscheinung getreten als Kritiker des Nato-Doppelbeschlusses und Warnender vor dem Atomkrieg sowie als Feind der Einschränkung des Asylrechts: »[D]em philosophischen Interesse an der Euthanasie-Problematik [liegt] ein wichtiges praktisches Problem zugrunde, das in unserer Gesellschaft schlecht gelöst ist: Ich meine das Problem der unheilbaren und schwerleidenden Menschen, und hier besonders der Säuglinge und anderer Personen, die ihren Willen nicht äußern können. Die Tötung scheint in vielen Fällen das einzige zu sein, was im Interesse des Kindes ist« Ernst Tugendhat, Schlupflöcher der Ethik, in: die tageszeitung vom 6. Juni 1990, 10. So verblüffend die Gewissheit ist, mit der hier Handlungsbedarf reklamiert wird, so kaltschnäuzig ist die Forderung nach einer gesellschaftlichen »Lösung« – als berge dergleichen nicht ein sehr spezielles Drohpotenzial. Weiter heißt es in dem sich gegenüber der »Perspektive der Behinderten« konziliant gebenden Text: »Es kann hier nicht darum gehen, für eine bestimmte Beantwortung all dieser Fragen zu werben. Ich möchte nur deutlich machen, dass es lebenswichtige Fragen sind, die geklärt und also diskutiert werden müssen, und zwar dringlich.« Ebd. Gegen die Diskussion ebenso wie gegen die behauptete Dringlichkeit einer Klärung, was mit unheilbar Kranken geschehen soll, richtete sich das Engagement der KritikerInnen. Sie waren der Auffassung, dass eine öffentliche, zudem akademisch aufgewertete Diskussion über Lebensrecht und Tötungsnotwendigkeit eine entsprechende Praxis befördere, und zwar genau indem sie diese zum Gegenstand »unvoreingenommener« Erörterungen macht: Wir reden sonst auch nicht darüber, wen wir leben lassen und wen nicht. Entsprechend wurde die Debatte der Singer-Thesen über den Subjektstatus bestimmter Behinderter und Kranker blockiert und sabotiert, sofern das möglich war. Heute stoßen EuthanasiebefürworterInnen auf weit weniger Widerstand. Um über diese einfache Feststellung hinaus zu gelangen, soll nun der Zusammenhang skizziert werden zwischen zwei (auch) in der Linken verbreiteten Auffassungen von Körper und Befreiung einerseits und deren Anfälligkeit für den Diskurs einer »Autonomie zum Tod« andererseits.
Subjekttheoretische Implikationen
Begreift man die cartesianische Cartesisch/cartesianisch benutze ich hier in dem verbreiteten und schlichten Sinn einer Aufteilung des Menschen in einen mechanisch funktionierenden Organismus und eine Seele – ein für die einsetzenden empirischen Wissenschaften maßgeblicher Denkansatz René Descartes, der den Körper ganz der Objektwelt und damit der Physik übergibt und der sich insbesondere vom teleologischen Weltbild Aristoteles abhebt. Trennung von Geist und Körper als historischen Quellpunkt der Dichotomie Vernunft / Natur, lassen sich zu verschiedenen Zeiten Bewegungen erkennen, die diese Dichotomie zu überwinden trachteten. So heißt es 1982 in der Einleitung eines kulturwissenschaftlichen Sammelbandes, die Wissenschaften, die sich bisher mit dem Schicksal des Körpers in der Geschichte befasst hätten, seien davon ausgegangen, dass der historische Fortschritt europäischer Prägung zwar durch die spezifisch abendländische Trennung von Körper und Geist ermöglicht wurde, sich dann aber als Rationalisierung, als Abstraktion auf Kosten des menschlichen Körpers vollzogen habe. Dieter Kamper / Christoph Wulf (Hrsg.), Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt a.M. 1982, 12. Körpersensibilität und -Erfahrung, Expressivität und Unmittelbarkeit werden jetzt gegen die Exklusivität der Geistsphäre gesetzt. Schon in der Lebensreformbewegung der 1910er und 20er Jahre Lebensreformbewegung ist ein Sammelbegriff für Strömungen, die beginnend im späten 19. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein auf die Folgen des Industriezeitalters reagierten. Ansetzend bei der eigenen Lebensführung waren so unterschiedliche Praktiken wie die Naturheilkunde, die Freikörperkultur, die Ernährungsreformbewegung, die Schrebergarten- und Landkommunenbewegung verbunden in der Aufladung des Naturbegriffs und im Rekurs auf die Kultivierung des Körpereigenen. gab es ein solches Aufbegehren gegen die Degradierung des Körpers als Anhängsel industrieller Produktionsverhältnisse. Im Versuch der Rückgewinnung der Sphäre des Körperlichen gegen alltägliche Funktionszumutungen, der Wiedergewinnung von Mitte, Balance, Natürlichkeit etc. ersteht ein politisch aufgeladener Begriff der Gesundheit. Der beschädigte Körper wird dabei zum Gegenbild des erfüllten Lebens, er hat die kapitalistische Systemlogik und ihre zerstörerischen Folgen zu symbolisieren – eine Auffassung, die die Zeit nur allzu gut überstanden hat. Undurchschaut bleibt, dass die Fokussierung eines zu befreienden Körpers der Logik der Indienstnahme kaum entkommt. Weder der über die Bergwiese springende Jüngling als Gegenbild des fordistischen Produktionskörpers, noch der Tanzworkshop als Gegenentwurf zum bedürfnisfeindlichen Schichtdienst im Call-Center haben die Idee der Kompensation und damit den Wettbewerb aus dem Blick verloren. Entscheidend aber ist, dass die Bewegung gegen die körperlich erfahrenen Zwänge eine Ästhetik entwickelt, die sich von ungelenken und dysfunktionalen Körpern abgrenzt und sie affektgeladen – »Zivilisationskrüppel« – zum Gegenbild degradiert. Zwar werden Leistungszwang und Konkurrenz als Ausprägungen des Kapitalverhältnisses identifiziert, aber man muss nicht die ersten Reihen der Demonstrationsblöcke konsultieren, um zu erfahren, dass auch in linken Zusammenhängen Durchsetzungsvermögen und Autonomie fetischisiert, Hinfälligkeit und Bedürftigkeit aber als Schicksal der Anderen abgespalten werden. Näheres ist bei den PsychotikerInnen und RollstuhlfahrerInnen der Szene in Erfahrung zu bringen.
Die im Kontext der Körperwiederentdeckungen grassierenden Natürlichkeitspostulate rufen bei den Kindern Foucaults und Butlers ein Schaudern hervor. Das Subjekt steht in der antiessentialistischen Kritik nicht jenseits der Macht, der Körper wird als Ort geschlechtlicher und rassischer Einschreibungen und Codierungen, als Effekt produktiver Praxen und Diskurse aufgefasst. Vom Authentizitätsversprechen bleibt bei einer ordentlich durchgeführten Dekonstruktion von Körper und Begehren nichts übrig: Jede Anrufung des Körpers als eine vordiskursive Entität wird als Bestandteil der Produktion und Regulierung moderner Subjektivität aufgefasst. Von der daran anschließenden Idee, mittels Diskursintervention und Sprachspiel-Politik dem Körper-Subjekt eine eigene Gestalt zu geben, ist es nicht weit zur Affirmation biotechnologischer Interventionen. Die Dekonstruktion der Kategorien findet sich plötzlich an der Seite einer Eschatologie, die sich auf ihre Weise der Erlösung vom Naturzwang verschrieben hat. Auf der Agenda steht die Vervollkommnung des defizitären Menschenkörpers, die technische Substitution von Zeugungs- und Gebärfähigkeit sowie die Überwindung von Siechtum und Tod – der Körper erscheint machbar. Die sich tatsächlich am Gesundheitsmarkt durchsetzenden reproduktionstechnologischen Eingriffe (insbesondere Fruchtwasseruntersuchung und künstliche Befruchtung) zielen allerdings in der Regel auf eine Kontrolle des Nachwuchses entlang traditioneller Maßstäbe und Normen. Der Versuch eines tauben Paares in England, qua Technologie die Gehörlosigkeit ihres ungeborenen Kindes sicher zu stellen, Schweres Erbe erwünscht, FAZ vom 14. März 2008. illustriert in seiner Skandalträchtigkeit, dass nahezu alle Eingriffe auf die Abschaffung jener Föten zielen, die dem common sense zufolge als behindert gelten.
Antiessentialistische Positionen arbeiten in diesem Zusammenhang mit an der erneuten Inthronisierung eines seinen Leib nur nutzenden Menschen, der zwar nicht wie das alte transzendentale Subjekt vom Geist her entworfen, dem aber ein ebenso fungibler Körper zugedacht wird. Körperumstände, die sich solcher Machbarkeit entziehen, werden dethematisiert bzw. erscheinen unannehmbar.
Diese Kontrastierung zweier unterschiedlicher Bezugnahmen auf den Körper, die beide gleichwohl der Aggression gegen den kranken und behinderten Körper Raum geben, legt den Ruf nach einer dritten, überwindenden Position nahe. Eine Synthese aber gibt es längst, allerdings ist es eine von der falschen Seite.
Die Einheit der Optimierung
Im Zuge der Freisetzung der Subjekte aus Systemen der sozialen Sicherung werden sie zunehmend angerufen, sich als UnternehmerInnen ihrer selbst aufzufassen, d.h. alle Bereiche des Lebens auf Steigerungspotenzial hin zu durchforsten. Das mit dem UnternehmerInnentum verbundene Freiheitsversprechen reduziert sich rasch auf die Gestaltung und Inszenierung des Selbst – Fähigkeiten aneignen, Konsumstile verfeinern und Körpermaterial nutzen. Dabei hängt über jedem Fitness-Studio und jeder Wellness-Oase das unsichtbare Banner: Körper und Geist sind eine Einheit. Workout nimmt den Bürostress, Straffheit macht selbstbewusst, Lauftraining lässt Glückshormone ausschütten. Der/Die SelbstregentIn dieser Tage denkt sich als KörperbesitzerIn, weiß aber genau, dass er/sie nicht nur etwas tun muss, um fit zu bleiben, sondern auch um die Lust- und Sinnesquelle zu nutzen, die der Körper bietet: Entspannung verhindert nicht nur den Burn Out, sondern erzeugt auch den erwünschten Eindruck der Frische. Mit der doppelten Indienstnahme geht die Verdoppelung der Schreckensszenarien einher. Ein Zustand, in dem das Selbst nur noch begrenzt optimierbar ist, sei es wegen einer chronischen oder anderen unheilbaren Krankheit, den Folgen eines Unfalls oder des Ausfalls kognitiver Fähigkeiten, provoziert entsprechend harte Abgrenzungsreaktionen, steht doch das ganze Glück in Frage. Jede dumme Nachfrage, ob man denn selber ein behindertes Kind wolle (und also die Fruchtwasseruntersuchung ausschlüge), ob man vielleicht glücklich sein solle aufgrund des Motorradunfalls, des Schlaganfalls, der Tumordiagnose geht am Problem vorbei. In kaum einem anderen Bereich fällt es Linken so schwer, einem Gedanken zu folgen, der sich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse bezieht, hier auf die der Erzeugung von Selbstbildern. Nicht optimierbar zu sein, ist dieser Tage ein Verhängnis.
Eine kritische Subjekttheorie hätte andere Folgerungen aus der Kritik des cartesischen Subjekts zu ziehen. Dass sich der vergesellschaftete Mensch eine Natur zuschreibt und seinen Körper in mannigfaltiger Weise – medizinisch-anatomisch, ästhetisch-künstlerisch, spekulativ-utopisch – entwirft, erweist zwar, dass kein Körper je etwas bedeutete, bevor er bezeichnet wurde, tilgt aber nicht die Nachträglichkeit jeder Bestimmung. Es gibt den Menschen als Gesellschaftswesen nur, weil er als Naturwesen im Jenseits der Erreichbarkeit ist. Man muss dem Körper keine heroische Widerstandsfähigkeit unterschieben, es genügt zu konstatieren, dass seine Indienstnahme allenfalls gelingt, so wie sie eben auch nicht gelingt – weil gemacht, gedacht, begehrt wurde, was man nicht machen, denken oder begehren wollte, weil sich Trägheiten, Schmerzen und Krankheiten einstellen. Dass bei aller Verfügbarkeit und in jedem Akt der Verfügung die Unverfügbarkeit mitgedacht werden muss, macht die ganze Aggressivität des Imperativs der Selbstoptimierung deutlich. So oft sie möglich ist – im Leben des/der Einzelnen wie auf verschiedene Subjekte bezogen –, so oft ist sie nicht möglich. Sie als Bedingung erfolgreicher Marktteilnahme vorauszusetzen, mit Idealbildern zu überfluten und an das Glücksversprechen zu koppeln, zugleich aber ihr Unmöglichsein als Ausnahme, als schreckliches Leid und als Fall für Integrationsspezialisten zu rubrizieren, das ist die Gewaltform.
Der Gehalt der Euthanasie-Debatte ist nicht das Sterben, sondern die Frage der Hinfälligkeit, der Pflegebedürftigkeit, der Abhängigkeit, der Schwäche (des Verlusts von Kontrolle, Leistungsfähigkeit und Perspektive). Statt dergleichen als das Andere der Norm zu klassifizieren und als Initial der Euthanasiediskussion zu akzeptieren, wäre es an die gewöhnliche und gewöhnlich variierende Abhängigkeit des Menschen von Seinesgleichen anzuschließen. Ein Unterschied ums Ganze. Die Effekte wären kaum absehbar, denn niemand kann antizipieren, was am Leid der Hinfälligen körperlich und was seelisch ist, welchem Elend ein anderes gesellschaftliches Verhältnis, andere Erfahrungen, andere Interaktionen abhelfen würden (und welchem nicht). Sicher ist nur, dass der Diskurs der Euthanasiebefürwortung heute gewaltförmige Verhältnisse in selbstbestimmte Handlungen einkleidet.
Von Christoph Schneider. Der Autor ist Verfasser des 2011 beim Verlag Westfälisches Dampfboot erschienenen Buches Das Subjekt der Euthanasie. Transformationen einer tödlichen Praxis.