Einleitung

Im Nachgang der Proteste gegen G20 tauchte es plötzlich im öffentlichen Bewusstsein auf, für kurze Zeit nur, doch dafür umso bedrohlicher: das Gespenst der radikalen Linken, das Gespenst des »Schwarzen Blocks«. Die Hysterie und Angst standen in einem offensichtlichen Missverhältnis zur tatsächlichen politischen Relevanz der radikalen Linken. Die Politik mit der Angst trug zur Legitimation von Polizeipräsenz und -gewalt bei, denn wer Angst hat, will und muss beschützt werden, in Deutschland am liebsten gleich von 30.000 schwerbewaffneten PolizistInnen. Das Gespenst, das heute sein Unwesen treibt, bietet einen traurigen Anblick, denkt man an jenes zurück, das am Beginn des Kommunistischen Manifests 1848 seinen berühmten Auftritt hat. Der selbst ernannte Wiedergänger der proletarischen Revolution, die Europa dort noch als Spuk heimsucht und die Herrschenden in Schrecken versetzt, steckt heute Luxuskarren in Brand, selten aber Herzen.

Es ist jedoch noch ein anderes Gespenst, das heute von links und rechts als Ausdruck gesellschaftlicher Widersprüche beschworen wird: das Gespenst des Populismus. Bei aller Unschärfe des Begriffs, der Aufstand, der sich vielerorts angesichts politischer Verhältnisse regt, speist sich selbst aus diffusen Ängsten vor gesellschaftlichen Zumutungen und nimmt allzu oft die alptraumhafte Gestalt von Rassismus, Antisemitismus und religiösem Eifer an. Ein nicht geringer Bevölkerungsanteil ist mittlerweile von der Alternative für Deutschland (AfD) bei »seinen Ängsten abgeholt« worden. Statt diesen hohlen Populismus zu analysieren und zu bekämpfen, reden auch die vermeintlichen GegnerInnen der AfD dem Volk nach dem Maul statt es ihm zu stopfen. Von der Union bis zur Linkspartei wird gefordert, Ängste ernst zu nehmen. Steinmeier, Wagenknecht und Konsorten nehmen die regressive Artikulation der Ängste beim Wort und setzen auf Abwehr derer, die die herbeifantasierte Einheit des Volkes zu bedrohen scheinen. Sie ignorieren dabei, dass es der Rassismus selbst ist, der die Chimären erst erschafft, die er zu bekämpfen vorgibt. Die gesellschaftlichen Ängste drücken sich jedenfalls eher in völkischer Regression als in der Forderung nach einer besseren, angstfreien Gesellschaft für alle aus.

Die diffusen Ängste kleinzureden ist keine Lösung, als hinreichende Erklärung können sie jedoch nicht herhalten. Vielmehr müssen sie entschlüsselt und als Teil einer historisch geformten sozioökonomischen Praxis analysiert werden. Das wäre ein Beitrag zur Entmystifizierung und Aufklärung und damit auch ein praktischer Eingriff in die Verhältnisse. Es stellt sich also die Frage, wie sich auf das Phänomen der Angst als Vermittlungsinstanz subjektiv-emotionaler und objektiv-gesellschaftlicher Zustände in einer kritischen Gesellschaftsanalyse zu beziehen ist.

Angst ist keine überhistorische oder anthropologische Kategorie. In ihrer modernen Form ist sie verbunden mit dem kaum eingelösten Emanzipationsversprechen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und den Verwerfungen, die aus ihr hervorgehen. Die Spezifik von Angst in der Moderne ist, dass sie ihre eigenen Ursachen verschleiert. In der Vormoderne war es noch die Vorstellung eines göttlichen Heilsplans, mit der der Gang der Dinge erklärt wurde. Mit ihm konnten die enormen, oftmals religiös codierten Angstpotentiale – Apokalypse, Fegefeuer, Hexen oder Teufel – kompensiert werden. Seit der Aufklärung übernahmen die Herausbildung des Konzepts von Geschichte als vernunftgeleitetem Prozess und die Vorstellung des Fortschritts als Motor der menschlichen Emanzipation die Funktion einer säkularen Heilslehre. Die Welt war wissenschaftlich erfassbar und beherrschbar geworden, das Geschehen historisierbar und damit vorhersehbar. Der Fortschritt schien im 19. Jahrhundert mit der Herausbildung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, der industriellen Revolution und der Entwicklung der Produktivkräfte mit den Händen greifbar zu sein. Die Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Fortschrittskonzepts war jedoch allzu deutlich. Die meisten Menschen wurden vom Leben in traditionellen Herrschaftszusammenhängen in das ambivalente Verhältnis von Unsicherheit und Freiheit der Lohnarbeit geworfen. Die marxistische Geschichtsteleologie versuchte in der Berufung auf ökonomische Gesetzmäßigkeiten die Angst vor den Zumutungen des frühen Kapitalismus zu bannen. Erst mit der Aufhebung des Klassenantagonismus könne die Menschheit aus dem Stadium der Vorgeschichte heraustreten und zur wirklichen Akteurin von Geschichte werden. So jedenfalls ist es im Kommunistischen Manifest zu lesen, durch das noch das Gespenst des Kommunismus und einer revolutionären gesellschaftlichen Veränderung spukte. Die Idee, dass der Widerspruch zwischen Produktionsverhältnissen und der Entwicklung der Produktivkräfte quasi naturgesetzlich in eine strahlende Zukunft führe, wurde jedoch durch die Geschichte selbst gründlich blamiert. Bereits der große Terror der Französischen Revolution hatte an der Substanz dieses Fortschrittsglaubens genagt. Im Inferno der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sollte er schließlich nahezu restlos vergehen. Der Erste Weltkrieg führte der Welt den Horror einer modernisierten Kriegsmaschinerie, den Verlust von Erfahrung und Zukunft gleichermaßen vor Augen. Wenig später zeigten die Deutschen, was es heißt, mit modernen Mitteln die Hölle auf Erden zu entfachen. Der Ideologie des »Herrenmenschen« und dem damit verbundenen eliminatorischen Antisemitismus wohnte auch ein säkularisiertes Erlösungsversprechen inne. Im modernen Antisemitismus wurden diffuse Ängste innerhalb der Moderne weltanschaulich amalgamiert.

Der Schriftsteller und Philosoph Günther Anders, der im amerikanischen Exil die Nachrichten des Holocausts und der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki zu bewältigen versuchte, sprach angesichts des Abgrunds der destruktiven Potentiale des industrialisierten Zeitalters von einer Diskrepanz zwischen technischer Herstellbarkeit und dem menschlichen Vermögen des Denkens, Vorstellens, Fühlens und Verantwortens. Zur Überbrückung dieses Gefälles empfahl Anders seinen ZeitgenossInnen gerade die Ausbildung und das Zulassen von Angst. Sie galt für ihn als notwendiges Korrektiv in der Wahrnehmung einer unvorstellbar destruktiven und zunehmend verschleierten Realität. Er sprach der Angst Erkenntnispotential zu und etablierte sie damit als politische Bezugsgröße.

Erst durch die außerparlamentarische Linke in den achtziger Jahren wurde Angst zur Motivation politischen Handelns. Atomkraft, das erwachende Bewusstsein für die destruktive Seite kapitalistischer Naturbeherrschung und die Nachrüstungsdebatte – kurzum: das Gefühl am Abgrund zu stehen – mobilisierte nicht nur in Deutschland Hunderttausende. Viele der Bedrohungen beruhten auf realen Veränderungen, keine Frage, aber der Affekt vernebelte allzu oft die historische wie politische Analyse. Im weit verbreiteten apokalyptischen Bewusstsein brachen sich hierzulande antiamerikanisches Ressentiment und Heimatliebe Bahn. Zugleich offenbarte sich im Katastrophenbewusstsein dieses Jahrzehnts eine handfeste Krise der kommunistisch orientierten Linken, die eigentlich schon Jahrzehnte zuvor mit dem Zivilisationsbruch hätte einsetzen müssen. In der fatalistischen Vorstellung einer auf die Zerstörung folgenden Erneuerung hielt sich zwar noch die vage Sehnsucht nach einem anderen Leben. Doch das Heraufbeschwören von Weltuntergangsszenarien verschaffte wohl bei so manchem auch dem Bedürfnis Ausdruck, sich nicht mit der Vernichtungsrealität des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Im Gefühlshaushalt der achtziger Jahre offenbarte sich also eine weitere Dimension von Angst im Spätkapitalismus: die Zerstörung des modernen, fortschrittsorientierten Zeit- und damit auch des historischen Bewusstseins. Einer an gesellschaftlicher Umwälzung orientierten Linken wurde nun bewusst, dass ihr ihre geschichtsphilosophische Grundlage längst entzogen war.

Dass ein Ende der Geschichte eher vorstellbar ist als das Ende des Kapitalismus, wurde zu einer steten Redewendung. Mark Fisher hat den Verlust der Vorstellbarkeit von gesellschaftlichen Alternativen oder einer über den Kapitalismus hinausgehenden Zukunft als Capitalist Realism beschrieben. Der Kapitalismus besetzt nach Fisher nicht nur den »Horizont des Denkbaren«, in seiner gegenwärtigen Form (zumindest in hochtechnisierten, digitalen Gesellschaften) okkupiert er die kreativen, emotionalen, kommunikativen Potentiale der Subjekte. Die Langeweile fordistischer Massenkultur und die Vorhersehbarkeit sozialdemokratischer Lebensplanung sind im Neoliberalismus der Unvorhersehbarkeit gewichen. Der Kapitalismus hat die einst linke Kritik an dieser Langeweile aufgenommen und absorbiert, daraus folgt ein Leben in permanenter Unsicherheit. Wer diese Unsicherheit nicht eingehen kann, hat schlechte Karten am heutigen Arbeitsmarkt. Unsicherheit ist freilich nichts Neues, sie ist konstitutiv für eine Gesellschaft, in der ein großer Teil der Menschen nichts zu verkaufen hat als die eigene Arbeitskraft. Die Ansprüche der Gesellschaft sind gegenwärtig so tief in den Charakterstrukturen verankert, dass nicht ihre gesellschaftlichen Ursachen als Quellen der Angst erscheinen, sondern der Mensch selbst.

Günther Anders' politische Aufforderung »Mut zur Angst« muss vor diesem Hintergrund naiv wirken. Im Modus der Angst wird sich kaum Erkenntnis über unsere gesellschaftlichen Bedingungen erlangen lassen. Angesichts einer erneuten Konjunktur der Angst im politischen Vokabular der Gegenwart richten die AutorInnen dieser Ausgabe ihren Blick auf unterschiedliche Ausdrucksformen von Angst und ihrer Genese innerhalb der entzauberten Moderne. Sie widmen sich ihr als gesamtgesellschaftlichem Phänomen in der Tauschgesellschaft, der Nation und dem (post-)modernen Geschlechterverhältnis. Aber auch als Ansatzpunkt für eine linke Gesellschaftskritik sowie ihre spezifische Relevanz in der Linken mit Blick auf Populismus und (Queer-)Feminismus soll die Angst untersucht werden. Die Beiträge ergründen die gesellschaftlichen Funktionen der Politisierung von Angst und fragen nach deren Gefahren und Potentialen.

Um die Verallgemeinerung der Angst in der zur zweiten Natur geronnenen Tauschgesellschaft durchdringen und ihr widerstehen zu können, bedarf es nach Theodor W. Adorno »übermenschlicher Kräfte«. Seinen philosophischen Anstrengungen, die Angsträume der Gesellschaft auszuleuchten, folgt der Artikel Keine Angst für Niemand? von Lukas Betzler. Anhand der Dialektik der Aufklärung sowie weiterer Texte Adornos geht Betzler darin der Bedeutung des Phänomens Angst für eine kritische Theorie der Gesellschaft nach. Er beleuchtet das ambivalente Verhältnis von Aufklärung und Angst und kritisiert die Auffassung, dass Angst die notwendige Begleiterscheinung einer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft sei.

Angst und Schmerz sind zunächst einmal subjektive Erfahrungen. In der Kunst gab es immer wieder Versuche, ihr eine Sprache oder einen bildlichen Ausdruck zu geben. In Protokolle der Angst diskutiert Isabelle Klasen das Werk des Malers Francis Bacon. Das Material seiner Darstellungen speist sich aus leidvollen Erfahrungen mit Homophobie, Gewalt und Krieg. Die Autorin legt dar, warum in der Kunst gerade die Entfremdung und Deformation der Wirklichkeit dem Wesentlichen dieser Erfahrungen einen Raum zu geben hilft. Bacons Werk steht damit exemplarisch für das künstlerische Potential, an die Angst in der Welt und die noch ausstehende Einlösung des Versprechens ihrer Aufhebung zu erinnern.

Eine sehr spezifische Angst behandelt Philipp Kröger. In 100 Jahre »Volkstod« beschreibt er die Angst der Deutschen vor dem Aussterben des eigenen Volkes. Diese Angst findet sich bei den TheoretikerInnen des beginnenden 20. Jahrhunderts über Thilo Sarrazin bis zur Identitären Bewegung. Kröger zeigt die wechselnden Feindbilder, Kontinuitäten und Wandlungen des Ideologems auf und legt dar, warum eine Welt ohne Deutsche für viele noch immer keine erfreuliche Vorstellung ist.

Ilse Bindseil wählt eine generationenübergreifende Perspektive auf die Kontingenz der Angst in der Persönlichkeitsstruktur des Einzelnen. Für diese Position schaut sie in Wenn die Hose brummt auf das Verhältnis zu ihrem Vater. Die »Ängstlichkeit« mit der dieser erzieherische Entscheidungen erklärte, sei keine Begründung, sondern Affekt. Im erzählerischen Rückblick auf sein »Jahrhundertleben« arbeitet sie ihr eigenes kritisches Verhältnis zur Angst heraus und verwehrt sich gegen eine Anerkennung der Angst als Erst- oder Letztbegründung politischer Entscheidungen.

Dass Angst keineswegs geschlechtslos ist, zeigt Stine Meyer in ihrem Text Uteromania, in dem sie der Geschichte der gynophoben und gegen die weibliche Emanzipation gerichteten Diagnose »Hysterie« nachgeht. Sie beschreibt, wie die männliche Angst vor dem Verlust von Privilegien und Macht im medizinischen Zugriff auf Frauen ihren Ausdruck findet. Hysterie hat als Diagnose zwar weitgehend ausgedient, die Autorin macht jedoch deutlich, wie die Biologisierung nonkonformen Verhaltens sich etwa im Reden über das Prämenstruelle Syndrom (PMS) fortsetzt.

Wenn heute in der (radikalen) Linken über Ängste gesprochen wird, betrifft dies selten Fragen zum Weltgeschehen, sondern vor allem subjektives Empfinden. Schlagworte und Gesten rücken in den Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen. Wie weit man sich im politischen Handgemenge vom Anspruch entfernt hat, gemeinsam eine politische Analyse und Sprache für das subjektive Erleben und die Zumutungen der Gesellschaft zu finden, wird in zwei ganz unterschiedlichen Artikeln herausgearbeitet. Koschka Linkerhand argumentiert in Angst und Aggressivität im Feminismus, dass sich der Feminismus gegenwärtig in Angst- und Schulddiskurse verstricke. Leicht könne man den Eindruck gewinnen, es wird eher versucht, den Verhältnissen ihren Schrecken auszureden, anstatt den Zumutungen patriarchaler Herrschaftsverhältnisse offensiv entgegenzutreten. Materialistischer Feminismus müsse sich politische Objekte außerhalb seiner selbst setzen, um das Patriarchat im Sinne der globalen kapitalistischen Totalität analysieren und kritisieren zu können. Und er müsse, so Linkerhand, die Aggressivität wiederentdecken, nicht gegen sich selbst und gegeneinander gerichtet, sondern im Bewusstsein ihrer Berechtigung gegen die Gesellschaft des Patriarchats. In Der Horizont des Populismus streiten Florian Geisler und Alex Struwe dafür, dass die Antwort auf den Rechtspopulismus nicht Linkspopulismus heißen könne. Gesellschaftskritik verliere ihren kritischen Stachel, wenn sie die Angst als grundlegende gesellschaftliche Bedingung affirmiere. Der Linken könne nicht an einer populistischen Politik mit der Angst gelegen sein, wenn sie nicht die Erkenntnisfähigkeit aufgeben will, die ein Gegenmittel zur Angst sein könnte. Die beiden Autoren konstatieren eine zunehmende Erkenntnisunfähigkeit der Linken und verfolgen die Genese des linken Populismus. Einer kritischen Linken, so das Plädoyer, dürfe es nicht nur um ein »Zurechtkommen« gehen, da dieses die Angst als Grundlage der Politik akzeptiert.

Politische Durchhalteparolen und Erfolgsmeldungen, wie sie aller Kritik zum Trotz auch nach dem Hamburger Gipfel zu hören waren, haben angesichts dieser Gemengelage viel zu oft den schalen Beigeschmack der Selbstversicherung, genauso wie das Verschanzen in Theoriegebäuden und Zynismus. Dabei wäre es doch gerade jetzt angebracht nicht Härte zu beweisen, sondern althergebrachte (post-)linke Selbstbezüglichkeit, ihre Glaubenssätze und Politikformen zu hinterfragen. Nicht im Sinne einer Politik, die sich primär nach innen richtet, sondern entlang der Widersprüche und Ängste, die als geteilte Erfahrungen einen gemeinsamen Bezugspunkt bilden könnten.

Phase 2 Berlin