"Es gibt nichts Neues unter der Sonne"

Interview mit Martin W. Kloke

Martin W. Kloke, Autor des 1994 neu aufgelegten und aktualisierten Buches “Israel und die deutsche Linke. Zur Geschichte eines schwierigen Verhältnisses” sah vor knapp zehn Jahren die heute, im Zuge der Al-Aqsa Intifada und der weltweiten Missbilligung Israels, aufkommenden antisemitischen und antizionistischen Rückschläge voraus – gerade innerhalb einer deutschen Linken. Kloke ist promovierter Politologe, arbeitet als Verlagsredakteur und veröffentlichte zahlreiche Beiträge vor allem zur deutsch-israelischen Beziehungsgeschichte.

Phase 2 fragte ihn nach den Kontinuitäten, Wandlungen und Brüchen, die sich im Rahmen der aktuellen Entwicklungen und der innerlinken Rezeption im Verhältnis zu Israel ergeben haben.
 

Mit der Zweiten Intifada rückte nach Jahren des relativen Desinteresses der Israelisch-Palästinensische Konflikt wieder in das Blickfeld der deutschen Öffentlichkeit und der Linken. Mit dem Beginn der militärischen Aktionen der israelischen Armee im Westjordanland im März diesen Jahres wurde der Konflikt für längere Zeit zum Hauptthema der radikalen Linken. Antisemitische Ressentiments wurden wieder öffentlich geäußert. Sind die antiisraelischen und antisemitischen Äußerungen als die letzten Ausläufer einer historisch überholten Ideologie zu bezeichnen oder zeigen sie im Vergleich zu den letzten großen antiisraelischen Wallungen des Jahres 1982 eine neue inhaltliche Qualität?

Es wäre naiv zu glauben, dass es sich bei den jüngsten antiisraelischen Exzessen um letzte Zuckungen eines affektgeladenen Antizionismus handeln würde. “Es gibt nichts Neues unter der Sonne” - diese Erkenntnis wurde schon vor über 2500 Jahren in der hebräischen Weisheitsliteratur formuliert. Die zeitlose Evidenz dieser biblischen Erfahrung zeigt sich auch im Verhältnis der deutschen Linken zum neuzeitlichen jüdischen Staat. Anfang der neunziger Jahre habe ich in der aktualisierten Ausgabe meines Buches “Israel und die deutsche Linke” die Sorge ausgesprochen: “Sollte es nach den hoffnungsvollen israelisch-palästinensischen Dialogen doch wieder zu Rückschlägen kommen, (...) dürften im vereinigten Deutschland (...) erklärte Feinde Israels die Gunst der Stunde nutzen, um ihr giftiges Gemisch aus antizionistischen und antisemitischen Extrakten zu verspritzen” (S. 326). Leider sind wir in den letzten Monaten zu Zeugen genau dieser Entwicklung geworden. Die antizionistischen Affekte und “Argumente” der “Freunde Palästinas” haben sich der Substanz nach seit den späten sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts nicht verändert. Der qualitativ einzige Unterschied zu früher ist der, dass die linken Antizionisten von heute in einem gesellschaftlichen Klima agieren können, das vom Abbau antisemitischer Tabus auch in breiten bürgerlich-liberalen und konservativen Kreisen bis hinein in den Kultur- und Literaturbetrieb geprägt ist.
Juden als Opfer sind populär - auf diese Art von Sympathiebekundungen beschränken sich die antifaschistisch motivierten Gefühle vieler selbsternannter fortschrittlicher Kräfte. Doch seit sich nach dem gescheiterten Osloer Friedensprozess die jüdisch-israelische Gesellschaft und ihr Staat in Verhältnisse zurückversetzt sehen, in denen sie zur kollektiven Selbstverteidigung gegen einen genozidalen Selbstmordterrorismus genötigt sind, hat sich das Klima radikal geändert. Entsprechend wohlfeil sind die “Ratschläge” linker “Friedensaktivisten” aus der EU, deren Befolgung schon mittelfristig einer Auflösung des jüdischen Staates gleichkommen würde.

 

Besonders in den 80er aber auch noch einmal in den 90er Jahren kam es innerhalb der bundesdeutschen Linken zu einer verstärkten Diskussion um die antisemitische Tradition der Linken und ihrem Verhältnis zu Israel. Wir denken an die Interventionen seitens der “FrankfurterInnen” Dan Diner, Micha Brumlik, Cilly Kugelmann, Detlev Claussen, Moishe Postone etc. in den 80er Jahren, an die Auseinandersetzungen rund um die Zeitschrift konkret während des Zweiten Golfkriegs 1991 oder an die innerlinke Debatte entlang der Goldhagen-Kontroverse über linken Antisemitismus. Kann man, die heutige Situation vor Augen, davon sprechen, dass diese Diskussionen ihren Erfolg zeigen und sich Antisemitismus in der Linken im Rückzug befindet?

Ein relativer Lernerfolg besteht darin, das 1982 zum ersten Mal die antizionistische Meinungsführerschaft in der radikalen Linken nachdrücklich in Frage gestellt worden ist. Wieder einmal waren es zunächst hauptsächlich linke Juden, die erkennen mussten, dass der linke “Internationalismus” auch nach 1945 eine Schönwetter-Philosophie geblieben ist: “Wir lassen uns nicht wegen einigen sogenannten progressiven Juden aus dem weltweiten Kampf gegen Imperialismus und Rassismus herauskatapultieren”, hieß es nassforsch in einem Papier autonomer Kreise in Hamburg. Noch unverblümter in ihrer geschichtsklitternden Diktion war der israelfeindliche taz-Kommentar des heutigen Kanzler-Redenschreibers Reinhard Hesse betitelt: “Umgekehrter Holocaust”. Der selbe Hans-Christian Ströbele, der in den 80er Jahren persönlich die Spendensammlung “Waffen für El Salvador” organisiert hatte, lehnte 1991 die Lieferung von Abwehrwaffen an Israel zum Schutz vor irakischen Raketenangriffen mit pazifistischem Pathos ab - wegen der angeblichen Gefahr einer “zusätzlichen Eskalation”. Viele weitere Beispiele ließen sich anführen. Vor diesem Hintergrund ist es immerhin erfreulich, dass sich seit den heftigen Selbstverständigungsdebatten von 1982 (Libanonkrieg) und 1991 (Golfkrieg) antizionistische Positionen vor allem in grünen, aber auch in linksradikalen und autonomen Kreisen mindestens in der Defensive befinden.
Dies heißt aber nun nicht, dass es keinen unbelehrbaren und faktenresistenten Kern ressentimentgesteuerter Linker gäbe. Schon die wohlmeinenden jüdischen Abwehrvereine der Weimarer Republik mussten die schmerzliche Erfahrung machen, dass auch die überzeugendste analytische Anstrengung und eine kontinuierliche Aufklärungsarbeit nicht gegen die antisemitische Obsession immunisieren können. Die deutsch-jüdische bzw. europäisch-jüdische “Normalität” ist jahrhundertelang durch und durch antisemitisch geprägt gewesen - selbst in so genannten aufgeklärten und linken Zusammenhängen. Der mörderische NS-Vernichtungsantisemitismus war der Höhepunkt dieser fatalen Beziehungsgeschichte. Die zeitlich übermächtige und kulturell vermittelte Antisemitismus-Prägung prägt bis heute unseren Diskurskontext. Insofern muss es nicht wundern, dass der Antisemitismus - insbesondere in seiner scheinbar ehrenwerten antizionistischen Variante - nach wie vor auf einen breiten Resonanzboden stößt.

 

Der Rückgang antizionistischer und damit antisemitischer Propaganda von linker Seite ging einher mit dem Niedergang der Linken in der Bundesrepublik insgesamt. Die antisemitische Agitation war genau immer dann am stärksten, wenn die Linke selbst am stärksten war. Kann es sein, dass hier ein kausaler Zusammenhang besteht, dass auch der Antisemitismus die Stärke der Linken ausgemacht hat?

Soweit würde ich nicht gehen: Der Antisemitismus war nie eine “Stärke” der Linken - vielmehr eine schreckliche Versuchung, der Anstrengung historisch-analytischer Reflexion aus dem Wege zu gehen, indem man die Komplexität gesellschaftlicher Widersprüche auf eine bequeme personalisierte Formel zu bringen sich verstieg: “Die Juden sind unser Unglück!”, war die feste Überzeugung des renommierten nationalliberalen Historikers Heinrich von Treitschke. “Der Staat Israel ist das Problem!”, hören und lesen wir heute von den keineswegs nur linken Erben Treitschkes, die den politischen Antizionismus in Deutschland repräsentieren. Die gesellschaftliche Marginalisierung einer dogmatischen Linken mag zeitweise und parallel auch antizionistisch-antisemitischen Ressentiments den Nährboden entzogen haben. Relevanter noch erscheint mir allerdings der Erklärungsansatz zu sein, demzufolge die Schönwetter-Periode von Madrid und Oslo einen offenen Antizionismus vorübergehend obsolet gemacht hatte - in einer Phase, als es den Anschein haben konnte, dass auch die PLO sich mit der Existenz des jüdischen Staates abgefunden haben mochte.
Heute sehen wir klarer noch als in den neunziger Jahren, dass der Antisemitismus auch im 21. Jahrhundert ein bleibendes Strukturmerkmal der deutschen und europäischen Gesellschaften bleiben wird. Ich bin überzeugt, dass der Widerstand gegen jene vermeintlichen Enttabuisierer, die die zivilisatorische Zähmung des Mobs zurücknehmen wollen, nur in einer gemeinsamen Kraftanstrengung linker und konservativer, christlicher und jüdischer sowie gewerkschaftlicher und wirtschaftsnaher Kräfte erfolgreich zurückgewiesen werden kann - auch das gehört zur Wirklichkeit einer Dialektik der Aufklärung. Alles zu tun, “damit Auschwitz nicht noch einmal sei”, ist das von Theodor W. Adorno überlieferte Vermächtnis an die deutsche und europäische Zivilisation. Für eine geschichtsbewusste Linke bedeutet dies, ihre Berührungsängste abzubauen und eine Koalition der Vernunft und der Menschlichkeit gegen die Barbarei einzugehen, wo immer ihre Einfallstore stehen sollten. Die Hoffnung auf eine geschichtsimmanente Utopie braucht die Linke zwar nicht gänzlich aufzugeben; doch auf der Agenda der Politik stehen heute sehr viel bescheidenere Ziele.

 

Nach dem vorläufigen Ende des Projekts der radikalen Linken Ende der 90er schien es für einen Moment so, als wenn die neu entstehende Antiglobalisierungsbewegung das (inhaltliche) Erbe der antiimperialistischen Linken antreten könnte. Auch diese hat sich in der Vergangenheit durch eine verkürzte Sichtweise des Kapitalismus “ausgezeichnet”, welche schnell in Antisemitismus umschlagen kann. Was würde es angesichts einer insgesamt verkürzten Kapitalismuskritik für die Linke und den Antisemitismus bedeuten, wenn diese sich konstituierende Bewegung das führende linke Projekt der nächsten Jahre bzw. Jahrzehnte wird?

Die Antiglobalisierungsbewegung dürfte in der Tat in den nächsten Jahren zu einer mächtigen gesellschaftlichen Kraft avancieren. Nur auf den ersten Blick ist es paradox, dass diese internationale Bewegung selbst ein ureigenes Produkt der Globalisierung ist. Viele Sorgen und Motive ihrer Initiatoren und Mitstreiter/innen sind ehrenwert und unterstützungswürdig. Die Globalisierung ist weder ein unausweichliches Schicksal noch per se eine Kampfansage an das Prinzip lokaler Selbstbestimmung in den verschiedenen kulturellen und wirtschaftlichen Zonen dieses Planeten - sie bedarf der sozialen Steuerung und Gestaltung durch selbstbewusste zivilgesellschaftliche Initiativen.
Allerdings sehe ich in der Bewegung auch Gefahrenmomente lauern, die ich mit den Stichworten “Antiamerikanismus” und Antizionismus” andeuten möchte. Einige Attac-Protagonistem haben ihre Sympathien mit den fanatisierten Segmenten der palästinensischen Nationalbewegung ohne Umschweife dokumentiert - so im April 2002 auf der antiisraelischen Demo in Berlin. Ideologisch ist durchaus ein Szenario denkbar, bei dem Globalisierungskritiker “die Juden” und/oder “den Staat Israel” als konkrete Verkörperung abstrakter (umhervagabundierender) Kapitalflüsse wahrnehmen, die für die sozialen Verwerfungen im 21. Jahrhundert verantwortlich gemacht werden. Entsprechende Stimmen aus der Globalisierungsbewegung zum 11. September sind ein bedrohliches Symptom für das, was uns da möglicherweise bevorsteht. Im Bewusstsein der Täter und ihrer Sympathisanten war der Terrorangriff auch ein Schlag gegen Menschen und Symbole der angeblich jüdisch-zionistisch beherrschten USA: “Wer Wind sät, wird Sturm ernten”, hieß es in linksradikalen Verlautbarungen ebenso wie in der NPD. “Schauten Pentagon und WTC dem israelischen Bruch des Völkerrechts in Palästina nicht jahrelang ungerührt zu?”, fragte in der taz schon zwei Tage danach Matthias Bröckers, der von “verzweifelten Kamikaze-Kriegern” sprach, die im Anschluss an die israelische Aggression “zurückschlagen”. Das also ist die Logik: Weil Israel (“die Juden”) eine repressive Besatzungspolitik in Palästina praktizieren, bekommen die USA als Israels engste Verbündete die Rechnung für ihre Freundschaft zu dem weltweit ungeliebten Pariastaat. “Der Jud ist schuld” - wieder einmal, egal was und wo etwas passiert. Dieser Reflex ist lebendig wie eh und je.

 

Spätestens seit den späten 60er Jahren wird der Konflikt im Nahen Osten mit historischen Analogien versehen. Besonders im Libanon-Krieg haben sich PalästinenserInnen und Israelis gegenseitig “Hitler”, “Vernichtungswillen”, “Nazi-Methoden” etc. zum Vorwurf gemacht. Ein Frankfurter Diskussionszirkel um D. Wetzel, D. Diner, M. Brumlik etc. (s.o.) sah in den 80er Jahren in dieser “Verlängerung der Geschichte” den Hauptgrund für eine unmögliche Verständigung im Nahen Osten. Der Konflikt müsse von seiner “deutsch-europäischen Vermischung” befreit werden. Glauben Sie auch, dass jene “Vermischung” einen Frieden im Nahen Osten verhindert?

Der Israel-Palästina-Konflikt lässt sich nicht per Dekret von seiner deutsch-europäischen Vermischung “befreien”. Dass das jüdische Israel die schrecklichen Erfahrungen aus der europäischen Diaspora in den aktuellen Konflikt projiziert, ist ja nicht nur Ausdruck einer Sicherheitsparanoia, sondern auch eine sozialpsychologisch verständliche Reaktion auf die Wiederkehr von Vernichtungsdrohungen - dieses Mal ausgestoßen von arabischer Seite (und das schon seit mehr als 50 Jahren!). Wenn nun auch die palästinensische Seite die israelische Politik mit Naziverbrechen gleichsetzt, gehört dies zu jenen gezielten Nadelstichen, auf die Juden und Israelis zu Recht ganz besonders empört reagieren. So oder so sind diese Art von Vermischungen eine real existierende Hypothek für den notwendigen Konfliktausgleich.
Beide Seiten, Israelis und Palästinenser, brauchen ihre Traumata m. E. nicht zu unterdrücken. Die aus der Schoah resultierenden Sicherheitsbedürfnisse Israels müssen von der palästinensischen Seite ebenso verstanden werden wie die Israelis anzuerkennen haben, dass auch die Palästinenser leidvolle Erfahrungen gemacht haben. Der israelisch-palästinensische Konflikt wird sich nicht einfach “rational” lösen lassen, da jeder Vermittler auch den komplizierten sozial-psychologischen Hintergrund in Rechnung stellen muss. Die Europäer (die EU) als Therapeuten einzusetzen, hieße aber in historischer Perspektive, den Bock zum Gärtner zu machen. Auch die UN haben in der Vergangenheit wenig dazu beigetragen, um unter Israelis als vertrauensbildende Institution wahrgenommen werden zu können. Oder hat es etwa je eine Resolution gegeben, in der die zum Antizionismus neigende UN-Vollversammlung den antiisraelischen Terror verurteilt hätte? Als Makler übrig bleiben an führender Stelle die USA, die aber in der Ära George W. Bush noch glückloser und vor allem deutlich weniger engagiert agieren als der persönlich in den Friedensprozess sehr involvierte Bill Clinton.

 

Die historischen Analogien sind es auch, welche die Debatte der Linken zum Konflikt in Israel seit Jahrzehnten prägen. In der Vergangenheit war es eigentlich durchgängig Israel, das als faschistischer Staat, der dem Nationalsozialismus in nichts nachstehen würde, dargestellt wurde. In den letzten Jahren bemühen sich jedoch Teile der antideutschen Linken, die Vernichtung der Jüdinnen und Juden als gemeinsames historisches Projekt des Nationalsozialismus und des Islamismus darzustellen. Islamismus und Faschismus besäßen gleiche Elemente. Lassen sich in der Tat solche gleichen Elemente finden oder führt dieser Vergleich nicht eher zu einer Verharmlosung des Faschismus und auch des Nationalsozialismus?

Nationalsozialismus und Islamismus bedienen sich des klassischen Repertoires traditioneller Judenfeinde. Stand im Mittelalter der angebliche Mord an Christenkindern auf der Tagesordnung, wird heute das “Kindermörder”-Phantasma zum anti-israelischen Erkennungszeichen. Sie wissen, was sie tun: Für die Nazis waren und sind die Juden die Inkarnation des verschwörerischen Bösen. In der Lesart der Radiostation der palästinensischen Autonomiebehörde heißt es: “Wir haben mit einem Feind zu ringen, der ein Shylock ist.” Der Islamismus stützt sich in seiner Judenfeindschaft einerseits auf widersprüchliche koranische Traditionen, die das Judentum als Buchreligion respektieren, aber im Zweifel doch als illegitim zurückweisen; andererseits hat der europäische Antisemitismus des 19. Jahrhunderts weite Teile der arabischen Welt derart nachhaltig infiziert, dass die arabischen Massen den Antisemitismus als kulturellen Code tief verinnerlicht haben. Nirgendwo sonst auf der Welt finden Bücher wie die “Protokolle der Weisen von Zion” und Hitlers “Mein Kampf” solch’ großen Anklang. So fungiert der islamische Fundamentalismus - ebenso wie der säkulare Nationalsozialismus - als eine ‚moderne’ Protestbewegung, die sich gleichwohl gegen die pluralistische Moderne wendet (als deren Vorhut “die Juden” und das “zionistische Gebilde” Israel angesehen werden). Längst ‚zehrt’ auch der Islamismus in seiner antizionistischen Stoßrichtung von rassistischen Elementen des europäischen Antisemitismus - so, wenn israelische Missetaten mit angeblich angeborenen jüdischen Charaktereigenschaften erklärt werden. Dennoch wäre es ungenau, die islamistische und die nationalsozialistische Judenfeindschaft als inhaltsidentisch zu charakterisieren.
Trotz aller Affinitäten zwischen beiden Bewegungen gibt es Unterschiede, die nicht unbedeutend sind: Der Judenhass der Nazis ist grenzenlos, technokratisch-massenmörderisch und lässt nicht einmal gedanklich eine Koexistenz zu. Zwar weisen auch die islamistischen Selbstmordattentate in der Wahllosigkeit ihrer Opfer eine genozidale Komponente: Sie wollen mit ihren Anschlägen so viele Juden wie möglich töten; dabei nehmen sie auch in Kauf, dass Israelis arabischer Herkunft getroffen werden. Dennoch, so zynisch dies in diesen Monaten auch klingen mag: Hamas und andere Terrorgruppen eint primär eine ‚politische’ Zielsetzung: Sie wollen mit ihren Anschlägen nach dem Vorbild der libanesischen Hisbollah die Israelis kurzfristig aus den besetzten Gebieten vertreiben und langfristig den Staat Israel als jüdischen Staat liquidieren. Bei aller antisemitischen Agitation bestreiten aber die Islamisten ihren jüdischen Nachbarn nicht das individuelle Lebensrecht: sofern ihre politischen Forderungen - die “Wiederherstellung” der islamischen Umma als “Gemeinschaft aller Muslime”, auch bezogen auf ihren Monopolanspruch in Palästina - erfüllt werden. Insofern ist die islamistische Judenfeindschaft mit dem rassistischen Antisemitismus der Nazis verwandt, aber nicht gleichbedeutend; noch näher steht sie der überkommenen Judenfeindschaft des so genannten christlichen Mittelalters - wobei es den Juden unter christlicher Herrschaft in der Regel erheblich schlechter ergangen ist als unter islamischer Regie. Immerhin: Ihre Unterordnung unter den Islam bzw. unter das mittelalterliche Christentum (oder gar ihre Konversion) bot Juden individuellen Lebensschutz, wenn auch keine menschenwürdige Existenz. Der rassistische Antisemitismus bietet in seiner Gnadenlosigkeit nicht einmal diese wahrlich bescheidene Ausflucht. - Insofern sollte bei aller Parallelität zwischen beiden Bewegungen nicht vorschnell die objektiv vorhandene Differenz übersehen werden.

 

Diese Teile einer antideutschen Linken sind es auch, welche sich in dezidiert proisraelischer und auch philosemitischer Weise äußeren. In Ihrem Buch “Israel und die deutsche Linke” kritisieren Sie die Israel-Begeisterung linker Kreise in den 50er und 60er Jahren der BRD. Ist der heutzutage zu vernehmende Israel-Hype jener Linken eine Neuauflage dessen oder handelt es sich um etwas Grundverschiedenes.

Nun, ich weiß nicht, ob ich die “Israel-Begeisterung” der ersten Nachkriegsjahrzehnte zu “kritisieren” habe. Vor dem Hintergrund der Schoah sollte sich eine Grundsolidarität mit jenem Staat der Überlebenden, der auch den Juden in der Diaspora wieder Mut zum aufrechten Gang gemacht hat, eigentlich von selbst verstehen und nicht unter Rechtfertigungsdruck stehen. Befremdlich finde ich allerdings die in jenen Jahren vielfach zu vernehmenden unreflektierten und naiven Lobeshymnen auf Israel. Es handelte sich um innenpolitisch motivierte Projektionen: Dem restaurativen, die NS-Vergangenheit “kommunikativ beschweigenden” (Hermann Lübbe) westdeutschen Staat und seiner Gesellschaft setzten die linken Israelfreunde das mythisch überhöhte Israelbild eines freiheitlich-sozialistischen Pionier- und Musterstaates entgegen - “beladen mit allen Idealen und Tugenden, die man in seiner eigenen Geschichte und bei seinen Eltern nicht antreffen konnte” (so der Psychoanalytiker Hans Keilson). Diese volkspädagogische Inszenierung musste wohl schief gehen: Der realitätsblinde philosemitische Eifer mobilisierte ungewollt in den eigenen Reihen latente antisemitische Ressentiments, deren Saat mit dem auch militärisch erfolgreichen Überlebenskampf des jüdischen Staates in den späten sechziger Jahren aufzugehen begann.
Die Israel-Apologie weiter Teile der so genannten “antideutschen” Linken weist durchaus phänomenologische Parallelen zu den fünfziger Jahren auf: Initiativen und Zirkel, wie sie etwa um die Zeitschriften “Konkret” und “Bahamas” gruppiert sind, geht es allerdings weniger um die Demonstration ideologischer Nähe zum israelischen Staat - im Gegensatz zur proisraelischen deutschen Linken der späten fünfziger Jahre, die diesen Anspruch noch mit einiger Überzeugungskraft proklamieren konnte. Auch die israelische Linke einschließlich der früher einflussreichen Kibbuz-Bewegung findet sich heute in der gesellschaftlichen Marginalität wieder. Ein Herr Sharon und seine rechtssäkularen bzw. religiös-orthodoxen Bundesgenossen dürften wohl kaum politische Gemeinsamkeiten mit linksradikalen Deutschen teilen. Den Herren Gremliza und Co. geht es bei ihrem Israel-Kult ungeachtet aller internen Heterogenität vor allem um die Bestätigung jener vergangenheitspolitisch motivierten Deutschlandkritik, die im vermeintlich ewigen Antisemitismus der Deutschen den hermeneutischen Schlüssel zum Verständnis auch heutiger Weltpolitik zu sehen glaubt. Ich verhehle nicht meine Genugtuung, wenn ich sehe, dass nach drei Jahrzehnten linksradikaler Israelfeindschaft inzwischen ein organisiertes Umdenken zu beobachten ist - insbesondere, wenn die schockartige Kehrtwende aus der selbstkritischen Reflexion antisemitischer Umtriebe in den eigenen Reihen herrührt. Doch Vorsicht: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer - der radikale Paradigmenwechsel einiger Linker kann einen auch stutzig machen: Die in der Antisemitismusforschung nachgewiesene Affinität zwischen Philosemitismus und Antisemitismus lässt keine ungeteilte Freude aufkommen.

 

Angesichtes der deutschen Geschichte halten wir es für vollkommen unangebracht, der israelischen Öffentlichkeit und Regierung Ratschläge zu erteilen, wie sie ihre Politik gestalten sollen. Vielmehr muss es einer Linken in Deutschland um die Verhältnisse vor Ort gehen, darum, wie der Konflikt in Israel hier rezipiert wird und zu welcher Politik er benutzt wird. Würden Sie dem zustimmen, dass eine Einmischung in israelische Belange von deutscher Seite aufgrund der deutschen Geschichte generell unangebracht ist?

Gewiss sind Deutschland und die Deutschen nicht gerade prädestiniert, Israel Lektionen in Sachen Moral und Menschenrechte zu erteilen. Vor dieser zynischen Art von Verantwortungsimperialismus, die womöglich Israelbashing zwecks Aufrechnung und Weißwaschung der eigenen nationalhistorischen Hypothek betreibt, sollte sich nicht zuletzt die Linke hüten. Denn zwangsläufig gehen die Schlussfolgerungen von Täter- und Opfergesellschaften des NS-Vernichtungsantisemitismus auseinander: Für nichtjüdische Deutsche heißt die Lehre aus Auschwitz: “Nie wieder Täter sein - nie wieder jüdisches Leben bedrohen!” Juden (gerade auch in Israel) ziehen aus dem gleichen Zivilisationsbruch den umgekehrten Schluss: “Nie wieder Opfer sein - im Notfall lieber selbst zuerst zu den Waffen greifen!” Das ist der hermeneutische Schlüssel, um die Politik Israels von David Ben Gurion bis zu Ariel Sharon zu begreifen. Nebenbei bemerkt: Die Existenz Israels als potenzieller Rettungsanker gibt auch Juden in der Diaspora eine gewisse psychologische Sicherheit. Insofern ist in der Tat die wichtigste israelpolitische Aufgabe in diesem Land: alles zu tun, damit die Lebens- und Sicherheitsinteressen des jüdischen Staates gewährleistet bleiben und das deutsche Verhältnis zu Israel nicht durch antisemitische Ressentiments getrübt wird.
Diese historisch auferlegte Zurückhaltung heißt nun nicht, um jeden Preis israelpolitische Abstinenz zu üben. Selbstverständlich dürfen Deutsche und Linke der israelischen Regierung “Ratschläge” erteilen und auch Kritik an ihr üben. Ansonsten würde man doch potenziellen Antisemiten auf den Leim gehen, die ein angebliches “Tabu” beklagen, wonach Israelkritik hierzulande “verboten” sei und Kritiker der Regierung Sharon als Antisemiten denunziert würden. Legitime Kritik an unverhältnismäßigen Siedlungsbauten und Gewaltakten Israels muss daran gemessen werden, ob sie das begründete Sicherheitstrauma Israels angemessen in Rechnung stellt. Zudem darf israelisches Regierungshandeln nicht mit strengeren Maßstäben als sonst üblich gemessen werden. Eine solcher Fehlgriff wäre in der Tat ein “Antisemitismus in moralischer Tarnung”, wie es der marxistische Theologe Helmut Gollwitzer einmal formuliert hat. Dennoch: Gerade, weil Israel noch immer die einzige Demokratie im Nahen Osten ist, müssen dort die üblichen menschenrechtlichen Standards erst recht Geltung beanspruchen können. Der blutige israelisch-palästinensische Dauerkonflikt braucht dringend wieder einen politisch-diplomatischen Ausweg. Es wäre vielleicht hilfreicher als viele denken, wenn der aus biografischen Gründen in beiden Milieus hoch geschätzte deutsche Außenminister seine Vermittlungsversuche unbeirrt fortsetzen würde. Der Segenswünsche Arafats und Sharons kann Fischer sicher sein - vielleicht mehr noch als der amtierende US-Präsident.

 

Zumindest die rot-grüne Bundesregierung scheint sich von der jahrzehntelangen Strategie der Verdrängung der Geschichte bzw. der Historisierung des Nationalsozialismus verabschiedet zu haben. Für sie ist “Nie wieder Auschwitz” zum Handlungsparadigma geworden, mit dem sich Deutschland in die Weltgemeinschaft zurückbringt. Auschwitz wird nicht mehr verdrängt sondern gilt als ständig artikulierter Grund jedweden außenpolitischen Agierens. Und so sei es auch die besondere historische Verantwortung, die Deutschlands Rolle im Nahen Osten definiere. Ist die “Geschichtslosigkeit” im Bezug auf Israel damit also überwunden?

“Der Holocaust gehört zu unserer Geschichte. Wir haben keine andere. Aus dieser Verantwortung begründet sich das Sonderverhältnis zwischen Deutschland und Israel. Es gründet auf der Unantastbarkeit des Existenzrechts des Staates Israel und seiner Bürger. Israel ist der einzige Staat, dessen Existenz wirklich in Frage gestellt wird. Wenn man nicht bösartig, blind oder von naiver Einseitigkeit ist, muss man doch die Raketen im Südlibanon sehen, die heute bis in das Kernland Israels reichen. Wenn Israel auch nur einen Tag eine militärische Niederlage erleben würde, dann würde dieser Staat nicht mehr existieren.” Solange Joseph (Joschka) Fischer mit solchen zuletzt Ende Mai 2002 ausgesprochenen Worten die Richtlinien deutscher Außenpolitik wesentlich mitbestimmt, dürften die Lehren aus der NS-Vergangenheit auch in Zukunft offiziell Geltung beanspruchen. Diese auf den ersten Blick positive Unterstellung könnte allerdings auch dazu führen, einem trügerischen Sicherheitsgefühl zu erliegen: Die Tatsache, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder ausgerechnet am 8. Mai 2002 mit zwei notorischen Antisemiten - Martin Walser und Christoph Dieckmann - über “Nation. Patriotismus. Demokratische Kultur” parliert hat, zeigt, wie schnell auch eine nicht-konservative Partei ihr politisch-moralisches Erbe zugunsten eines rechtspopulistischen Trends verspielen kann. Ein solch symbolisch aufgeladenes Treffen zu inszenieren, ist nicht nur geschichtslos; es ist hochgradig instinktlos. So weit mir bekannt, hat der grüne Juniorpartner nur sehr verhalten auf diese gruselige Begegnung reagiert. Kein Grund also, die regierungsamtliche Überwindung der “Geschichtslosigkeit” gegenüber Israel als irreversibel zu betrachten.
 

Noch eine Frage zum Abschluss: Die Diskussionen um Möllemann und Walser der letzten Wochen zeigen die Aktualität des Antisemitismus. Dennoch bildete sich eine breite öffentliche Front von Schröder bis Stoiber, welche in akribischer Weise wiederholte: Mit Antisemitismus sei in Deutschland keine Politik mehr zu machen. Sehen Sie das genauso, oder glauben Sie, dass die antisemitische Karte vielleicht doch als Trumpf im Ärmel steckt und bei passender Gelegenheit wieder ausgespielt wird?

36 Prozent der Deutschen können “es gut verstehen”, dass manchen Leuten Juden unangenehm sind”, hat das Frankfurter Sigmund-Freud-Institut in einer Befragung von mehr als 2000 Mitbürgern im April 2002 ermittelt. Dieses Diskursklima soll unsere wahlkämpfenden Möllemänner und ihre mehr oder weniger heimlichen Sympathisanten unberührt lassen? “Die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube”, heißt es schon in Goethes “Faust”: Die Debatte um Möllemann und Walser zeigt, wie sehr diese Gesellschaft noch immer kontaminiert ist. Viele selbst wohlmeinende Deutsche und Linke sind in die Vorstellung vernarrt, Antisemitismus begänne erst an der Rampe von Auschwitz. Alles, was sich im ressentimentgeladenen Vorfeld des Vernichtungsantisemitismus abspielt, wird klein geredet - häufig mit moralisierender Empörung. Das Credo, dem besonders die liberalen Feuilletonisten der Süddeutschen Zeitung sowie Teile des etablierten Politikbetriebs bis hin zu Politmumien wie den ehemaligen Wehrmachtsveteranen Helmut Schmidt und Rudolf Augstein folgen, lautet per definitionem: “Möllemann und Walser sind keine Antisemiten, - auch, wenn sie antisemitische Äußerungen machen.” So folgen nicht wenige von ihnen - ich unterstell mal unbewusst - der von Henryk M. Broder beobachteten Maxime: “Antisemitismus ist, wenn man die Juden noch weniger mag, als es normal ist.”
 

Wir bedanken uns herzlich für das Gespräch.


Phase 2 Leipzig