»Es gilt, Dinge zu verstehen, die hier passieren!«

Von der Kritik regressiver Kollektivität zur Affirmation des bürgerlichen Individuums

Die Krise dreht weiterhin sichtlich unbeeindruckt ihre Runden und hinterlässt ihre Spuren in Gestalt der Verelendung, Verarmung und sozialen Exklusion einer immer größer werdenden Anzahl Menschen. In Deutschland, im stillen Auge des Krisenorkans, behagt es jedoch noch immer vielen der hier lebenden, und selbst die radikale Linke, die gerne Sätze wie »Aber hier leben, nein Danke!« skandiert, kann sich dem Sog der öffentlichen Meinung kaum je entziehen und hofft, die Krise möge einen größeren Bogen um ihr Leben machen.

Die antikapitalistischen Proteste in Deutschland lassen, bis auf einige begrüßenswerte, aber äußerst zaghafte Ansätze, auf sich warten: M31 – der europaweite Aktionstag gegen Kapitalismus am 31. März 2012 sowie kleine Aktivitäten im Umfeld der Blockupy-Aktionstage versuchten eine »Repolitisierung der Krise«. … ums Ganze!, We haven’t even started yet! Zum Stand der antikapitalistischen Proteste im Sommer 2012 – Auswertung und Einschätzung der Krisenproteste M31 & Blockupy, 2012, online unter: http://umsganze.org/we-havent-even-started-yet/. Internationale Vernetzungen und Mobilisierungen sollen folgen. Uns fällt auf, dass aus dem Teil der radikalen Linken, in dem wir uns verorten, vorrangig sogenannte antinationale Gruppen versuchen, diese Proteste entweder maßgeblich mitzugestalten oder in deren Rahmen für antinationale und antikapitalistische Positionen zu streiten. Während also von einigen antinationalen Zusammenhängen die soziale Frage wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und nach Vermittlungsversuchen zwischen theoretischen Analysen und praktischen Intervention gesucht wird, hält sich der antideutsch inspirierte Teil der radikalen Linken merklich bedeckt. Das irritiert uns. War ein wichtiger Ausgangspunkt antideutscher Theoriebildung zu Beginn der neunziger Jahre die Angst vor der Entstehung einer neuen deutschen Hegemonie, so müssen wir heute feststellen, dass sich die damaligen Befürchtungen bewahrheitet haben, wenn auch in anderer Form als angenommen: Der »entspannteste Gewaltmonopolist, der je auf deutschem Boden Pässe ausgegeben hat« (…ums Ganze!) tritt unter Zustimmung großer Teile der Bevölkerung in der gegenwärtigen Eurokrise ganz selbstverständlich als Führungsmacht Europas auf. Mensch könnte also meinen, dass gerade eine sich antideutsch gebende Linke dieser Entwicklung etwas entgegenhält und sich gerade jetzt zu einer Reaktion veranlasst sehen müsste. 

Diese kurz umrissene Situation bildet den Ausgangspunkt unserer Überlegungen. Was wir nicht verstehen, aber verstehen wollen, ist die Diskrepanz zwischen der konkreten Herausforderung durch die aktuelle (Krisen-)Situation und der Zurückhaltung oder gar Regungslosigkeit desjenigen Teils der radikalen Linken, in dem wir uns bewegen. Stellt sich doch angesichts der gegenwärtigen Krise der kapitalistischen Verwertung, umsichgreifender sozialer Verwerfungen, der zunehmenden Diskussion autoritärer Maßnahmen sowie der erneuten Konjunktur nationalistischer und rassistischer Ideologien und Krisenerklärungen mit neuer Dringlichkeit die Frage nach politischen Handlungs- und Interventionsmöglichkeiten.

Uns geht es hier zunächst darum, neben der bereits erwähnten Hegemoniepolitik Deutschlands weitere Momente der gegenwärtigen Entwicklungen herauszuarbeiten, die einer antideutsch inspirierten Linken eigentlich ausreichend Anlass geben sollten, sich theoretisch und praktisch ins Handgemenge zu begeben. Daran anschließend stellen wir einige Vermutungen darüber an, warum dies wider Erwarten nicht der Fall ist. Diese (Selbst-)Reflexion über theoretische Sackgassen und praktische Irrwege beschränkt sich dabei nicht nur auf Theoriebildung und Alltagspraxis antideutscher Provenienz, sondern zielt teilweise auch auf andere Spektren postautonomer Subkultur.

Die dreisten Drei – warum Antideutsche sich für die Krise interessieren müssten

Die neue deutsche Welle nahm ihren Anfang mit der »Wiedervereinigung«. Mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein agiert Deutschland seitdem auf den Bühnen der Weltpolitik und bringt machtvoll die eigenen Interessen zur Geltung. Dieses Vorgehen erreicht mit der deutschen Politik in der gegenwärtigen Eurokrise eine neue Qualität. Die deutschen Interessen werden nunmehr nicht nur selbstbewusst vorgetragen, sondern gänzlich unverblümt anderen Staaten aufgeherrscht. Dass Deutschland Europa führen soll, steht national nicht mehr in Frage und auch international sind die Stimmen unüberhörbar, die Deutschland mahnen, eine seiner ökonomischen Stärke angemessene, verantwortungsbewusste Führungsrolle zu übernehmen. Diskutiert wird dabei höchstens das Wie der Führung. Zwar steht die deutsche Sparpolitik international auch in der Kritik, doch zeichnet sich gegenwärtig ab, dass in Europa gegen Deutschlands Willen nichts entschieden werden kann. Es wäre an anderer Stelle eingehender zu diskutieren, ob und wie es Deutschland mittels Aufarbeitungsnationalismus und Friedensideologie gelungen ist, international Ängste vor einem »Vierten Reich« zu zerstreuen und sich für Führungsaufgaben zu qualifizieren. Am drastischsten zeigen sich die Konsequenzen deutscher Europapolitik aktuell in Griechenland: Die von Deutschland gemeinsam mit der EU-Troika verordneten Maßnahmen führen gegenwärtig nicht nur zu einer massiven Verarmung breiter Schichten der Bevölkerung und zum teilweisen Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme, sondern auch zu einer Neukonfiguration der politischen Ordnung.

Wie geschichtsvergessen diese Politik ist, müsste gerade von antideutscher Seite kritisiert werden: Dem deutschen Terror gegen die griechische Bevölkerung zur Zeit der Besatzung zwischen 1941 und 1944 fielen Tausende Menschen zum Opfer, darunter der größte Teil der jüdischen Bevölkerung. Daneben organisierten die Deutschen die systematische ökonomische Ausbeutung Griechenlands, was schließlich im wirtschaftlichen Zusammenbruch des Landes mündete. Während jedoch die Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg – neben dem und durch den Marshallplan auch auf der unangetasteten Basis der auf hemmungsloser Ausbeutung und Vernichtung beruhenden Kriegswirtschaft – zu neuem Wohlstand gelangte, hatte die griechische Wirtschaft noch lange mit den Folgen des Zweiten Weltkriegs zu kämpfen. Reparationszahlungen aus Deutschland wurden auf ein Minimum reduziert und die Angehörigen der Ermordeten und Überlebenden deutscher Massaker und Verbrechen erhielten kaum individuelle Entschädigung. 115 Mio. Euro wurden an Opfer ausgezahlt. Vgl. Hagen Fleischer im Interview mit Deutschland Radio am 2. März 2010. www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1135445/ Vgl. dazu auch Rolf Surmann, Quod licet Iovi, in: konkret 4/2012. Surmann betont, dass sich die bei der Pariser Reparationskonferenz 1945/46 festgelegte Summe der deutschen Reparationen auf 7,1 Mrd. Dollar belaufe, die wohlgemerkt auf den Preisen von 1938 beruht. Ansprüche, die Opfer der Verbrechen eventuell hofften geltend machen zu können, haben sich spätestens seit dem Urteil des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag vom 3. Februar 2012, das Deutschland weitgehende Immunität gegenüber Klagen von Opfern deutscher Verbrechen einräumt, in Luft aufgelöst. Vgl. www.nadir.org/nadir/initiativ/ak-distomo/ Der deutsche Wunsch nach der »Endlösung des sogenannten Kriegsverbrecherproblems« Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, B10/2087: AA Abt. II, Referat Hoppe, Memorandum vom 13. Februar 1952, zitiert nach Hagen Fleischer, »Endlösung« der Kriegsverbrecherfrage. Die verhinderte Ahndung deutscher Kriegsverbrechen in Griechenland, in: Norbert Frei (Hrsg.): Transnationale Vergangenheitspolitik. Der Umgang mit deutschen Kriegsverbrechern in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg. Göttingen 2006, 498. in Griechenland hat damit seine Erfüllung gefunden. Vor diesem Hintergrund lässt das gegenwärtige deutsche Vorgehen – das von allerlei Drohungen begleitete Aufzwingen einer gnadenlosen Politik der Sparsamkeit, Gedankenspiele um die Entsendung eines Sparkommissars sowie die Reaktivierung von Ressentiments um vermeintliche »süd­län­dische Nicht­stuerei« – erschaudern. 

Wenn der Aufarbeitungsweltmeister Deutschland also Großmachtpolitik betreibt, dann wäre aus antideutscher Perspektive darauf hinzuweisen, dass die ökonomische Vormachtstellung noch immer auch auf vergangener Vernichtung, Kriegsbeute und zu deutschem Kapital geronnener Zwangsarbeit aufbaut. Ebenso ist die ökonomische Lage Griechenlands zum Teil auch auf Spätfolgen der nationalsozialistischen Politik zurückzuführen. Es ist die Kontinuität erfolgreicher deutscher Abwehr von Schadensersatzforderungen, die hier die ökonomische Grundlage liefert, überhaupt die Position zu besitzen etwas durchzusetzen. Es ist zweitens die Kontinuität eines Verständnisses von Geschichte, dass das Vergangene vergangen sein lassen will und – modernisiert – »Verantwortung« gegenüber der Vergangenheit sich nur im national passenden Sinne zur Aufgabe macht, nicht aber in dem Sinne, die einst Geschädigten nicht erneut zu schädigen.

Neben diesen klassischen antideutschen Kritikmotiven – deutsche Großmachtpolitik und Verweigerung konsequenter Aufarbeitung der Vergangenheit – soll ein weiteres hervorgehoben werden: die Idee der Sozialpartnerschaft. Diese ideologische Denkform (einschließlich der zugehörigen korporatistischen Praxis) stellt einen der Eckpfeiler »erfolgreichen« deutschen Wirtschaftens dar. Ohne diesen ist die aktuelle ökonomische Dominanz und (vorerst noch bestehende) Krisenresistenz Deutschlands nicht verstehbar, und somit auch nicht die Basis für das nationalistisch-selbstgerechte Auftreten, mit dem Deutschland versucht, den übrigen EU-Staaten die eigenen Krisenvorschläge zu oktroyieren. Dazu sei auf die Entwicklung des vergangenen Jahrzehnts verwiesen. Hat die Schaffung des europäischen Wirtschafts- und Währungsraumes in erheblichem Maße deutschen Kapitalinteressen (und deren Exportorientierung) gedient, ermöglichten die politischen Reformen, maßgeblich geprägt von der Agenda 2010 und der Ideologie des ausgeglichenen Haushaltes, der deutschen Wirtschaft einen kaum zu unterschätzenden Konkurrenzvorteil. Die Durchsetzung dieser Politik gelang weitgehend reibungslos. Zwar gab es insbesondere gegen die Hartz-IV-Gesetze größere Proteste, doch nahmen sich diese im Vergleich zu sozialen Kämpfen in anderen Ländern relativ zahm aus. So zahm, dass die damalige rot-grüne Regierung darin lediglich ein »Vermittlungsproblem« und keinen gesellschaftlichen Konflikt erkennen mochte. Die Behebung dieses »Vermittlungsproblems« stützte sich dabei auf die innerhalb der deutschen Gesellschaft weiterhin stark verankerte Staatsgläubigkeit sowie auf autoritär-korporatistische Momente. Die gemeinschaftsstiftende Idee der Sozialpartnerschaft stellt(e) den ideologischen Kitt bereit. Diese zeichnet das Bild eines harmonischen und auf Ausgleich ausgerichteten Miteinanders von sogenannten Arbeitgebern und Arbeitnehmern (klassischerweise in dieser maskulinen Form) innerhalb des nationalen Rahmens und nennt es Rheinischen Kapitalismus. Die großen deutschen Gewerkschaften beispielsweise fühlen sich dieser Idee verpflichtet. Sie empfehlen sich in diesem Sinne nur allzu oft als die besseren Betriebswirtschaftlerinnen und lassen sich zu konstruktiven Partnerinnen einer auf nationaler Standortlogik beruhenden Politik des Sachzwanges machen. Die Dechiffrierung des ideologischen Gehaltes dieses Bildes gehört zum Standardrepertoire antideutscher Kritik. Von Interesse sollte hier jedoch vor allem die Zählebigkeit dieser Idee sein, wo doch deren materielle Grundlage allmählich erodiert. Siehe beispielsweise das Einfrieren des Arbeitergeberanteiles bei den Beitragssätzen zur Krankenversicherung, die Absenkung des Rentenniveaus und die teilweise Umstellung auf private Altersvorsorge, die staatlich forcierte Etablierung eines breiten Niedriglohnsektors und die damit verbundene Verarmung durch die Hartz-Gesetze. Aus antideutscher Perspektive wäre also herauszuheben, worin die Besonderheiten der aktuellen gesellschaftlichen Verhältnisse bestehen, so dass sich prominente deutsche Ideologiefragmente weiterhin als Begründungszusammenhänge eignen und den Alltag sowie dessen Wahrnehmung der Einzelnen sinnvoll strukturieren können. Festzuhalten bleibt an dieser Stelle, dass trotz Reallohnsenkungen und Umbau des Sozialstaates der materielle Lebensstandard eines großen Teils der Bevölkerung weiterhin deutlich den anderer europäischer Bevölkerungen übersteigt und u. a. die staatlich-korporatistischen Maßnahmen halfen, Deutschland bislang erfolgreich durch die Krise zu manövrieren.

Leerstellen antinationaler Proteste und anti­deutsches Schweigen

Drei typisch antideutsche Kritikmotive haben wir hier herausgestellt und skizziert, wie sie Ausgangspunkt einer Krisenanalyse sein könnten. Wenn aber die deutsche Rolle in der derzeitigen Krisenpolitik antideutschen Linken derart offensichtlich zu denken geben müsste, warum steht sie gerade nicht im Zentrum antideutscher Aufmerksamkeit? Hier symptomatisch: Im fünfseitigen Aufruf des »Imagine there is no Deutschland«-Bündnisses wird die deutsche Krisenpolitik auf weit weniger als einer halben Seite en passant abgehandelt.

Die Versuche einer Solidarisierung mit den von der Krise betroffenen Menschen in Griechenland, Spanien, Portugal und anderswo, wurden ausschließlich von linksradikalen Gruppen getragen, die sich von klassischer antideutscher Kritik entweder verabschiedet haben oder diese niemals teilten. Dies hatte inhaltliche Konsequenzen in den Aufrufen zu den Protesten Anfang des Jahres: Zwar wurde die deutsche Rolle in nahezu allen Texten erwähnt, aber eine konkrete Analyse der deutschen Krisenpolitik und ihren möglichen Grundlagen in der deutschen Vergesellschaftungsform blieb bislang aus. http://march31.net/de/call-for-action-german/ Mit der Fokussierung »auf die allgemeinen Reproduktionsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft« blieben wieder einmal die »nationalen Eigentümlichkeiten« auf der Strecke, TOP B3rlin, Zurück in die Politik!, in: Phase 2.38, 2010. die gerade antideutsch inspirierte Gruppen in Auseinandersetzung mit antinationalen diskutieren könnten. Wenn TOP B3rlin schreiben, der Antinationalismus sei die »Wahrheit des antideutschen Gefühls«, Ebd. so wäre dem nur insofern zuzustimmen, wenn mensch hinzufügen würde, dass antideutsche Kritik die Konkretion antinationalen Denkens in Deutschland sein müsste. 

Was nämlich – uns sei der Schlenker gestattet – eigentlich in der sogenannten »Nationalismusdebatte« Vgl. http://nevergoinghome.blogsport.de/nationalismusdebatte/ in den letzten Jahren diskutiert wurde, war die Frage, wie ideologisches Denken sich in der Alltagspraxis der Menschen reproduziert und verändert, wie also letztlich Kontinuität und Wandlung ideologischer Erklärungsmuster theoretisch zu fassen wären. Diese Frage ist nun allerdings keine bloß theoretische Frage, sondern aus ihrer Beantwortung begründet sich zugleich die Einschätzung adäquater politischer Interventionen. 

Sofern die antinationale Position auf den »aktuellen Konfliktlagen« als materiellem Grund ideologischer Erklärungen insistiert, behält sie gegenüber der Annahme einer sich durchhaltenden »deutschen Ideologie«, die vor allem aus der Geschichte zu erklären ist, recht. Vgl. Imagine there’s no countries / it isn’t hard to do / … – Here we go again: Endgültige Anmerkungen zur These einer »deutschen Spezifik« nationaler Ideologie, in: UGMag 1, 2012, 6-7. Auf der anderen Seite vernachlässigt dieses Ideologieverständnis aber, dass Menschen nicht einfach auf ein Sammelsurium von Erklärungen zurückgreifen, wenn sie diese gerade brauchen, sondern sich immer schon ideologisch denkend die Welt erschließen. Hier kommen tatsächlich ideologische Traditionen ins Spiel, auf die von antideutscher Seite immer hingewiesen wird. Denktraditionen können sich – und da ist dem …ums Ganze!-Bündnis recht zu geben – trotzdem als Ideologiefragmente nur dann dauerhaft reproduzieren, wenn sie zur subjektiven Welterklärung der eigenen Lage hier und heute langfristig taugen. Daher wären ideologische Erklärungen immer als Erklärungen der aktuellen Situation zu entziffern und nicht als bloß irgendwie fortdauernde Denktradition. Antideutsche Ideologiekritik wäre also als eine für die historisch-konkrete Situation in Deutschland geltende Explikation antinationaler Theorie neu zu formulieren. Das wäre dann die Umsetzung des Programms, das TOP B3rlin durchaus vorzeichnet, wenn auch nicht einlöst, vgl. ebd.

Dass diese Synthese bislang ausblieb, hat möglicherweise die gleichen Ursachen, wie der durchaus denkwürdige Umstand, dass Krisenpolitik in der antideutschen Szene – trotz der offensichtlichen Hegemoniepolitik Deutschlands und dem Export deutscher Werte – keinen Anklang zu finden scheint.

Von der Kritik regressiver Kollektivität zur Affirmation des bürgerlichen Individuums

Eine mögliche Antwort zur Klärung dieser Ursachen ist für uns, dass in antideutscher Theorietradition aus der begründeten Ablehnung der regressiven deutschen Kollektivierung eine Affirmation der bürgerlichen individuellen Isolation entstand, die in der Unfähigkeit mündete, eine solidarische und emanzipatorische Organisierung zu entwickeln bzw. sich eine solche überhaupt nur vorstellen zu können. Wir halten es für eine zentrale antideutsche Erkenntnis, dass jede Kollektivierung innerhalb einer kapitalistisch verfassten Welt letztlich ein regressives Moment enthält, das tendenziell auf die Auslöschung der Individualität, die Preisgabe individueller Glücksansprüche zugunsten kollektiver Formierung zielt. Diese Kritik war und ist notwendig. Daraus wurde nur leider des Öfteren der voreilige Schluss gezogen, das Individuum abstrakt gegenüber jedwedem kollektiven Zusammenschluss in Stellung zu bringen. Es wird vergessen, dass das Individuum, das zur Rettung ansteht, eben nicht das abstrakt-isolierte bürgerliche Individuum sein kann. Die bürgerliche Individuationsform zwingt die Einzelnen zu einer permanenten Herausstellung der eigenen Alleinstellungsmerkmale. Um den Sieg in der Konkurrenz zu erringen, gilt es, im falschen Bewusstsein der eigenen Souveränität besser – und individueller – zu sein als alle anderen. Die sich souverän wähnenden Einzelnen sehen sich jedoch zugleich der Schwierigkeit gegenüber, die Erfahrungen von Abhängigkeit, Ausgeliefertheit, Ohnmacht und Passivität, die ihre Lebensführung im kapitalistischen Alltag maßgeblich begleiten, in ihre Welt- und Selbstbegegnung zu integrieren. Diese Erfahrungen eigener Ohnmacht und Ausgeliefertheit, der eigenen Wert- und Bedeutungslosigkeit bei gleichzeitiger Proklamation individueller Souveränität bilden dabei allzu häufig die Grundlage für Motivationszusammenhänge, die zum Kollektiv drängen. Die bürgerliche Individuationsform ist fragil: entweder isolierte Konkurrenzförmigkeit oder regressive Kollektivierung.

Wir stellen uns heute die Frage, ob mit der Kritik am regressiven Moment in Kollektivierungsprozessen nicht gleichzeitig der so dringlich geforderte gegenseitige solidarische Bezug, eigentlich ein Essential linker Praxis, in der antideutsch inspirierten Linken verloren gegangen ist, und vielleicht nicht nur dort. Mit dem Rückbezug auf das isolierte Individuum und der Vertagung politischer Praxis auf unbestimmte Zukunft, schlimmstenfalls geadelt durch unsachgemäßes Zitieren eines Diktums Adornos, passt die antideutsch inspirierte Linke in jenen gesellschaftlichen Zustand, in der jede ihres eigenen Glückes Schmied sein soll. Die Ablehnung regressiver Kollektivität hat nur den Gegenpol des auf sich allein gestellten Individuums gefunden und affirmiert damit Zurichtung und Konkurrenz. Dabei wäre der Gegenpol zu regressiver Kollektivität in einer solidarisch und emanzipatorisch intendierten Assoziation zu suchen.

Die hedonistische Forderung »Her mit dem schönen Leben!« entwickelte sich aus einer berechtigten Kritik am moralischen Rigorismus der linken Szene und steht in engem Zusammenhang mit antideutsch inspirierter Kritik und Lebenspraxis. Diese Forderung wurde jedoch individualisiert: Ausdruck der eigenen Individualität steht und fällt mit dem stilgerechten Konsum, dessen Klassenhürde aber entgegen der alten autonomen Szene in bewusster Abgrenzung hoch angesetzt ist: Club-Mate-Vodka und Carhartt statt Sterni und Kaputzenpulli. Diese neoliberale Verwechslung von Freiheit und dem ostentativen Ausleben der eigenen Klassenzugehörigkeit ermöglicht auch den Übergang in den bürgerlichen Beruf – in der Regel im Anschluss an ein Studium. Bei Vorliegen verschiedener (zunehmend lebenslanger) »Startschwierigkeiten«, sprich prekäres Jobben oder Hartz IV-Bezug, gründet sich die im Habitus präsentierte Klassenzugehörigkeit zunächst meist allein auf kulturelles und soziales Kapital – Arbeitslose mit akademischer Rhetorik. Dies erzeugt die Illusion, bald das zugehörige ökonomische Kapital dazu zu »verdienen«. Das eigene Elend wird damit oft nur als biographische Durchgangsstation gewertet. Weil es lediglich als temporäre Zumutung erfahren wird, bleibt eine Organisierung im eigenen Erwerbsfeld oder am Jobcenter oft aus. Vgl. dazu FelS, Mach mit, mach’s nach, mach’s besser – eine militante Untersuchung am Jobcenter Neukölln, Berlin 2011, 34 f.

Die gefühlte Notwendigkeit, sich individuell der Konkurrenz des Arbeitsmarktes aussetzen zu müssen, findet nicht zuletzt in den Erpressungen des Jobcenters ihren Grund. War es den Autonomen der achtziger und neunziger Jahre noch eine gängige Lebensperspektive, sich mit Sozialhilfe, Gelegenheitsjobs und kollektiver Subsistenz in Handwerk und Dienstleistung von dieser Konkurrenz partiell unabhängig zu machen, so scheint diese Perspektive unserer Generation – zumindest subjektiv – versperrt. Die Schikanen des Jobcenters oder des Lohnarbeitsalltags machen diesen Lebensentwurf mindestens zu einem harten Alltagskampf. Die antideutsche Kritik an der Kollektivität kann daher auch als Rechtfertigungsfigur verstanden werden, diese Formen solidarischen Abfederns der Härten des kapitalistischen Alltags zugunsten der individuellen Glücksschmiede zurückzuweisen. Gleichzeitig ist der Hinweis auf den repressiv-moralischen Charakter autonomer Kollektivierung eine nach wie vor zutreffende Kritik. Diese Alltagspraxis scheint aber zugleich auf das Denken zurückzuwirken: Die berechtigte Kritik an der Arbeiterklassenromantik hat dabei ihre Sprecherinnen partiell unempfindsam oder ignorant gegenüber der Lage der Abgehängten und Exkludierten gemacht, von denen mensch sich möglichst abzusetzen sucht. Und dies hat offenbar dazu geführt, dass ein Gefühl der Solidarität mit den von der Krise Betroffenen nicht aufkommen mag und weniger noch eines der Dringlichkeit, zu handeln.

Umgang mit der eigenen Ohnmacht

Es scheint einen Unwillen zu geben, die Zurichtungen, die mit der Affirmation des Individualismus einhergehen, anzuerkennen. Dabei ist schon der individuelle Alltag nichts weiter als eine Reihe an Zumutungen: Lohnarbeit, Hartz IV und prekäre Arbeitsverhältnisse, die tägliche Anforderung, in der wenigen Freizeit noch für das eigene Leben und das der Nahestehenden, die Unterstützung brauchen, zu sorgen – eine doppelte und dreifache Belastung, die nach wie vor mehrheitlich Frauen übernehmen müssen. Auch die Sorge um sich unterliegt steigenden Anforderungen: Gesundheit, Fitness, Ernährung, Work-Life-Balance. Die sogenannte Freizeit ist eine Daueranstrengung zur Erhaltung und Steigerung des eigenen Werts auf dem Arbeitsmarkt.

Diese Zustände betreffen fast alle hierzulande und begründen in ihrer Kompromisslosigkeit auch den ökonomischen Erfolg Deutschlands. Die mit der Agenda 2010 allgemein durchgesetzte Schwächung solidarischer Gegenwehr findet ihre Entsprechung in einer Entsolidarisierung innerhalb der Linken. Aus Aversion gegen jegliche kollektiven Organisierungen werden die kapitalistischen Zurichtungen als individuelle (Reproduktions-)Probleme behandelt, anstatt sie in ihrem vergesellschafteten Zusammenhang zu betrachten. Ebenso wird keine Praxis entwickelt, die dem etwas entgegensetzt – oder es zumindest versucht.

Diese Handlungsunfähigkeit lässt sich natürlich nicht allein aus dem antikollektivistischen theoretischen Selbstverständnis erklären, sondern beruht wesentlich auf der realen Erfahrung der eigenen Ohnmacht. Wir stehen den Verhältnissen, die unser Leben bestimmen, ohnmächtig gegenüber – und fühlen uns politisch ohnmächtig, da gesellschaftlich marginalisiert. Wir sind ständig vor die Wahl gestellt: Entweder sollen unsere Interventionen gesellschaftlich hörbar sein –dann eignen sie sich gerade zu einer reformistischen Modernisierung des Bestehenden. So wie antideutsche Interventionen zu Geburtshelferinnen des neuen Aufarbeitungsnationalismus wurden und seine bundesweite Durchsetzung noch bis nach Dresden voranbrachten. Oder aber wir wollen kompromisslos unsere »unversöhnliche Kritik« vorbringen. Dann sind wir nicht hörbar. Dieser Widerspruch kennzeichnet unsere politische Ohnmacht und wird in endlosen Strategiedebatten um das Verhältnis von Reform/Revolution und Theorie/Praxis immer wieder neu verhandelt. 

Die Verarbeitung dieser Ohnmacht kennt in der antideutsch inspirierten Linken, aber nicht nur dort, vor allem zwei gegensätzliche Strategien. Nur auf den ersten Blick ist paradox, dass diese – so widersprüchlich sie auch sind – bei ein und derselben Person Verwendung finden. Zum einen lässt sich die eigene Ohnmacht abstrakt anerkennen: Die eigene Handlungsunfähigkeit erscheint als unhintergehbares Faktum, dem mit »Realitätssinn« zu begegnen ist. Dies begründet den Rückzug auf theoretische Reflektion ohne jeglichen Praxisversuch: »Wir werden die Revolution eh nicht erleben.« Der Unterschied zum »Als kleiner Mann kannste da eh nix machen« ist dann nur noch schwer zu erkennen. Zum anderen lässt sich die eigene Ohnmacht auch mit einer szenetypischen Betriebsamkeit überdecken: Mensch könnte polemisch von einer linksradikalen Work-Politics-Life-Balance sprechen, die durch Selbstoptimierung, Terminkoordination und Socialising das Gefühl entstehen lässt, im kapitalistischen Alltag handlungsfähig zu bleiben. Die individuelle Verantwortungsübernahme für die Gesamtscheiße in der Politarbeit noch über den unzumutbaren Alltag hinaus, der gegenseitige Leistungsdruck in der eigenen Gruppe bis hin zum Burnout: Bestätigung und Verdrängung der eigenen Ohnmacht. Und das Resultat dieser Betriebsamkeit ist dann eine Politik, deren Adressat_in doch nur die eigene Szene ist.

Diese Strategien offenbaren, dass die bloß theoretische Einsicht in die politische wie individuelle Ohnmacht angesichts der Verhältnisse prekär ist: Lang lässt sie sich nicht aushalten, will mensch sich nicht der Resignation hingeben. Bislang hat eine Theorie der eigenen Ohnmacht keine Umsetzung in eine emanzipatorische Praxis gefunden, sondern ist stets bei einer Zementierung ebenjener stehengeblieben. Es stellt sich daher die Frage, ob es für eine (post-)antideutsche Linke nicht Anlass wäre, Ohnmacht als Instrument zur Entwicklung eigener Kritik und Praxis ernster zu nehmen. Medizinisch gesehen ist die Ohnmacht eine Bewusstseinsstörung – und wenn wir uns kurz an diesem Wortspiel aufhalten, sind zwei Aspekte bemerkenswert: Zum einen trübt die eigene Ohnmacht unser politisches Bewusstsein – weil sie dazu zwingt, Handlungsmöglichkeiten zu imaginieren, die faktisch nicht da sind, um tätig zu bleiben. Zum anderen wäre das Gewahrwerden der eigenen Ohnmacht aber auch als produktive Bewusstseinsstörung zu begreifen: als das Aussetzen eines Bewusstseins von der eigenen Praxis, das diese Imagination schon zu ihrem Inhalt hat. Wir müssen die Praxisfrage neu stellen – und zwar vom Standpunkt der Ohnmacht aus, mit dem Ziel ihrer Überwindung. Nicht erst die Scherben wussten: »Allein machen sie dich ein«. Und daher steht die Frage nach neuen Formen solidarischer und emanzipatorischer Organisierung bei gleichzeitiger Ablehnung regressiver Kollektivität. Wie können wir das erreichen? Darüber sollten wir reden.

~ Von Nevergoinghome. Nevergoinghome ist eine kleine politische Gruppe aus Berlin und beschäftigt sich mit Geschichtspolitik sowie der Krise des Kapitalismus in Europa und der deutschen Rolle darin.