Europa und die Linke

Über die verstellte Sicht auf den Fortschritt der europäischen Integration

Wer von Europa reden will, darf vom Nationalis­mus nicht schweigen. Schien Letzterer in den zu­rückliegenden zwei Jahrzehnten, ja eigentlich seit Ende des Zweiten Weltkriegs, zumindest zeitwei­se im Prozess der europäischen Einigung gebän­digt, lässt sich gegenwärtig ein Vorgang der Re­nationalisierung beobachten. Überall auf dem Kontinent erstarken nationalistische Parteien und Bewegungen, die vehement »weniger Europa« fordern oder zumindest ein anderes – ein »Europa der Vaterländer«, wie es dem langjährigen franzö­sischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle vorschwebte und heute von Alexander Gauland (AfD) verfochten wird. Ein Europa, in dem die wie­dererwachten Nationen sich nach Ansicht von Marine Le Pen (Front National) und Viktor Orbán (Fidesz) gegen das »Monster Brüssel« stemmen sollen; in dem Fragen der Wirtschaftsordnung, sozialer Ansprüche und des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft wieder vorrangig auf nationaler Ebene entschieden werden sollen.

Charakteristische Begleiterscheinungen dieser »Systemopposition« sind die Agitation ge­gen den vermeintlichen amerikanischen Imperia­lismus (mit Ausnahme von Polen, wo gute Bezie­hungen zu den Vereinigten Staaten als sicher­heitspolitisches Faustpfand gegen Russland ge­schätzt werden) und sozialer Chauvinismus, also die Konzeption des Sozialstaates als Privileg für ethnische StaatsbürgerInnen. Die StrategInnen der Renationalisierung hoffen auf die reinigende Kraft traditioneller Familienbilder sowie ethni­scher Homogenität und glauben an die Überle­bensfähigkeit regional abgeschotteter Wert­schöpfung. Doch schon ihre mythischen Erzählun­gen nationaler Kontinuität und Opferbereitschaft laden die zwischenstaatliche Konfliktlatenz ver­gangenheitspolitisch auf. Nicht von ungefähr erin­nern die derzeitigen Erfolge nationalistischer Par­teien und Bewegungen an die Zwischenkriegszeit, als sich zahlreiche Staaten des Kontinents im Gefolge der Weltwirtschaftskrise in faschistisch-autoritäre Regime transformierten, die ihr Heil in unumschränkter Staatsführung, Protektionismus und konfrontativer Bündnispolitik suchten – mit allen Konsequenzen, die dies noch vor dem Aus­greifen des Nationalsozialismus insbesondere für Minderheiten mit sich brachte. Damit soll nicht dem Alarmismus das Wort geredet werden, eine neue Epoche des Faschismus stünde bevor. Aber zu keinem Zeitpunkt nach dem Beginn des europä­ischen Integrationsprozesses schien dessen Um­kehrung möglicher als heute.

Angesichts des sichtbar werdenden Desin­tegrationspotenzials argumentieren wir im Fol­genden dafür, die in der Linken überwiegend kriti­sche Haltung gegenüber Europa auf den Prüf­stand zu stellen. Die europäische Integration bedarf einer Verteidigung, die nicht eine soziale Utopie, sondern die politisch-institutionelle und kulturelle Entschärfung nationalistischer Dyna­miken zum Ausgangspunkt nimmt. Diese Pers­pektive ist jedoch durch eine jahrzehntelang ein­geübte, vornehmlich ökonomisch argumentieren­de linke Europakritik verstellt. Daher zeichnen wir die Kontinuität fragwürdiger linker Anti-Europa-Argumentationen nach und verdeutlichen exemp­larisch die Ausblendung des progressiven Ge­halts Europas: Antiimperialistische Analysen und am Maßstab sozialer Gleichheit orientierte Zielstellungen verhindern die positive Wahrneh­mung des liberalen Fortschritts. Demgegenüber erinnern wir an bürgerliche und antifaschistische Pro-Europa-Positionen in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs, deren Rele­vanz sich angesichts der skizzierten politischen Entwicklungen in die Gegenwart verlängert.

Linke Kritik an Europa

Linke Kritik am europäischen Einigungsprozess hat mittlerweile Tradition. Bereits in den 1960er Jahren sah der belgische Trotzkist Ernest Mandel Europa auf dem Weg zu einer supranationalisti­schen und imperialistischen Staatlichkeit, die auf Kapitalverflechtungen und der wachsenden Kon­kurrenz gegenüber den Vereinigten Staaten beru­he. Dagegen behauptete der marxistische Staats­theoretiker Nicos Poulantzas, die Internationali­sierung des Kapitals begründe keinen europä­isch-amerikanischen Gegensatz, vielmehr fusio­niere das hiesige mit dem dominanten transatlan­tischen Kapital und bilde somit die Grundlage für eine Bourgeoisie, die nicht mehr uneingeschränkt dem Nationalstaat verbunden sei.Patrick Ziltener, Art. Europäische Integration, in: W.F. Haug u.a. (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 3, Hamburg 1997, 1000–1012, hier 1000f.

Der Widerspruch zwischen der Annahme ei­ner imperialen Eingemeindung Europas durch die Vereinigten Staaten und der These eines europä­ischen Konkurrenzprojekts besteht bis heute fort. So finden sich ähnliche Positionen in der Kontro­verse über die ökonomische und geopolitische Struktur der Globalisierung: Die Starintellektuel­len der linken Globalisierungskritik Michael Hardt und Antonio Negri beschrieben die Entstehung eines weltumgreifenden »Empire«, in das auch die europäischen Staaten inkorporiert seien und in dem nur noch die Supermacht USA eigenstän­dig handeln könne, die dabei allerdings immer auch den kapitalistischen Gesamtzusammen­hang zu berücksichtigen habe.Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 2002. Die neomarxisti­schen Wissenschaftler Leo Panitch und Sam Gin­din zeichneten noch deutlicher das Bild eines amerikanischen Neoimperialismus.Leo Panitch/Sam Gindin, Globaler Kapitalismus und amerikani­sches Imperium, Hamburg 2004. Das US-amerikanische Kapital habe durch Direktinvestiti­onen in europäischen Kernstaaten die nationalen Bourgeoisien »zersetzt«.Ebd., 60. Übrig blieben transat­lantische Halbbürger, deren Interessen mit denen der Vereinigten Staaten übereinstimmten.

Andere Positionen betonten die Spannun­gen zwischen beiden Machtblöcken.Etwa Alex Callinicos, Benötigt der Kapitalismus das Staaten­system, in: Giovanni Arrighi u.a. (Hrsg.), Kapitalismus reloaded. Kontroversen zu Imperialismus, Empire und Hegemonie, Ham­burg 2007, 11–32. Oder: Peter Gowan, Weltmarkt, Staatensystem und Weltordnungsfrage, in: ebd., 146–170. Insbeson­dere die Achsenbildung Paris–Berlin–Moskau in Reaktion auf den Irakkrieg habe die Möglichkeit geopolitischer Konflikte offenbart. Binnenmarkt und Euro bildeten zudem die ökonomischen Kon­turen eines europäischen Konkurrenzprojekts, das durch Versuche einer eigenständigen Außen- und Sicherheitspolitik sowie öffentlichkeitswirk­same Manifestationen proeuropäischer Partei­nahme gekennzeichnet sei.Frank Deppe, »Euroimperialismus«. Anmerkungen zu einem neuen Schlagwort, in: ebd., 197–219.

Letztendlich stehen beide Varianten – also die Beschreibung von Konvergenz auf der einen, von Konkurrenz auf der anderen Seite – vor dem Problem, das komplexe transatlantische Verhält­nis zu fassen. Was zur Folge hat, dass entweder empirische Momente der Kooperation oder des Konflikts analytisch privilegiert werden.

Ein anderer Schwerpunkt der Kritik wird durch regulationstheoretische Arbeiten begrün­det, die seit den 1980er Jahren vor allem auf die innereuropäischen sozialen Folgen der Austeri­tätspolitik verwiesen. Diese habe zur Einschrän­kung sozialstaatlicher Sicherung und zur Delegiti­mierung einer keynesianischen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik geführt. Insbesondere die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes wurde aufgrund der Verschärfung der Konkurrenz zwischen nationalen Regulationsweisen abge­lehnt – mit dem Ergebnis disziplinierter Gewerk­schaften, allgemeinen Sozialabbaus sowie ver­schlechterter Arbeits- und Lebensverhältnisse.Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Gewerkschaften vor der euro­päischen Herausforderung. Tarifpolitik nach Mauer und Maast­richt, Münster 1993. Gleichzeitig sah man durch die technokratischen Entscheidungsfindungsprozesse in den europäi­schen Institutionen parlamentarische Wege der Mitbestimmung versperrt. Daher galt die europäi­sche Integration als neoliberales und zugleich staatsautoritäres Projekt zur Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit.

Die skizzierten Analysen bilden bis heute das inhaltliche Fundament bewegungslinker Pro­testpolitik. Regelmäßig wurde sowohl gegen die transatlantische als auch die europäische Welt­ordnungspolitik demonstriert. Als Gegenpol wur­de ein Europa der Zivilgesellschaften und der sozialen Bewegungen propagiert, das das »Recht der Völker auf Selbstbestimmung« anerkennt und den Kampf gegen »Besatzungstruppen« im Irak, Palästina und Tschetschenien unterstützt.Vgl. den Aufruf des Europäischen Sozialforums 2003: http://bit.ly/26YwwyT.

Antinationale Gruppen versuchten sich von der­artigen Positionen abzugrenzen. An der Konst­ruktion eines europäischen Bewusstseins, kam sie nun von Attac, dem Friedensratschlag Kassel oder Intellektuellen wie Habermas und DerridaBeide veröffentlichten während des Irakkriegs in der Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Aufruf mit dem Titel »Unsere Erneue­rung. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas« (31. Mai 2003, 33). Zur Kritik daran vgl. den Aufruf der antinationalen Antifa­gruppe BgR aus Leipzig mit dem Titel »Die neue Heimat Europa verraten“, http://bit.ly/29ilC4H oder den Einleitungstext zum Phase 2-Schwerpunkt »Wer macht Europa«, Nr .11/2004., lehnte man vor allem die moralische Abgrenzung von den Vereinigten Staaten ab. Kritisch stellte man fest, dass Antiamerikanismus und Antisemi­tismus die »emotionale Grundlage für die Zustim­mung breiter Bevölkerungskreise und ebenso von Teilen der Linken […] zum Projekt Europa« bilde­ten.»Die neue Heimat Europa verraten. Gegen die Kollaboration mit der europäischen Nation“,http://bit.ly/29pFO6U. Aber auch diese, innerhalb der Linken mar­ginal bleibende Perspektive, beschrieb Europa als imperialistisches Produkt des Kapitals. Die EU sei durch Deutschlands ökonomisches Interesse an der Ausbeutung der europäischen Peripherie, durch die Militarisierung ihrer Außenpolitik und ihre weltpolitischen »Großmachtbestrebungen« gekennzeichnet, argumentierten beispielsweise die Leipziger linksradikalen Gruppen Bündnis ge­gen Rechts (BgR) und Antifaschistischer Frauen­block (AFBL) in einem Demonstrationsaufruf aus dem Jahr 2004.

In der jüngsten Vergangenheit stehen die europäische Flüchtlings- und Krisenpolitik im Mittelpunkt linker Bewegungspolitik, wobei die antiimperialistische Argumentationsgrundlage beibehalten wurde. So lobte die Interventionisti­sche Linke aus Berlin in ihrem diesjährigen Aufruf zum 1. Mai das »Aufbegehren in der europäischen Peripherie gegen die herrschende Austeritätspo­litik«, wodurch der »Kampf um ein anderes Europa mit aller Vehemenz in deren [sic!] Machtzentren getragen« werde. Zudem habe der »Kampf der Flüchtlinge […] unsere imperiale Lebensweise« herausgefordert.»Lasst uns die Offensive beginnen. Raus zum 1. Mai«, http://www.interventionistische-linke.org/beitrag/berlin-lasst-uns-die-offensive-beginnen-raus-zum-1mai.

Die Gründe für die Ablehnung der EU blie­ben demnach über Jahrzehnte die gleichen. Un­abhängig vom fragwürdigen Erkenntnispotenzial imperialismustheoretischer Erklärungen geht diese linke Agenda mit einer abwehrenden Hal­tung gegenüber dem historischen Lernprozess in den europäischen Nationalstaaten nach 1945 ein­her. So gelten die Errungenschaften der Frie­densordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch eine Entschärfung zwischenstaatlicher Konflikte und die institutionelle Überformung na­tionaler Zugehörigkeit gekennzeichnet ist, eben­so als Mythos wie die Selbstbeschreibung Euro­pas als offene Gesellschaft, als Ort der Demokra­tie und der Menschenrechte.Vgl. Ilka Schröder, Europa: Von der Rindfleischgemeinschaft zur Weltmacht?, in: dies. (Hrsg.), Weltmacht Europa – Hauptstadt Berlin? Ein EU-Handbuch, Hamburg 2005, 7–20, hier: 8f. Wenn der europäi­schen Integration vor dem Hintergrund des Ers­ten und Zweiten Weltkriegs von links überhaupt fortschrittliche Momente attestiert werden, dann nicht ohne diese als letztendlich wirkungslose Oberflächenphänomene zu konterkarieren.

Ein aktuelles Beispiel hierfür bietet Rainer Tram­pert, der nach 1989 zu den Mitbegründern der anti­nationalen Linken gehörte. In Europa zwischen Weltmacht und Zerfall gesteht er zwar zu, dass »die Überwindung der deutsch-französischen Erbfeindschaft« das »Herzstück der EU« bilde.Rainer Trampert, Europa zwischen Weltmacht und Zerfall, Stutt­gart 2014, 23. Allerdings müsse der antikommunistische Kern dieser Verständigung herausgestellt werden: So hätten 150.000 deutsche Kriegsgefangene, die ihr Tötungshandwerk nach 1945 in der französischen Fremdenlegion fortsetzten und sich dadurch nicht selten der juristischen Verfolgung von Kriegsver­brechen entzogen, als erste den deutsch-franzö­sischen Widerstreit in den Kämpfen Frankreichs gegen antikoloniale Befreiungsbewegungen über­wunden. Auch der Idealismus aktionistischer Ju­gendlicher, unter ihnen der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl, die im August 1950 an der deutsch-französischen Grenze für eine europäische Föde­ration demonstrierten und unter der Parole »Stürmt die Bastille Nationalstaat!« Schlagbäume demontierten, wird in erster Linie mit pragmati­scher Interessenpolitik konfrontiert. Während Frankreich mit der 1951 gegründeten Montanunion (eine Vorgängerin der EU) auf die Kontrolle kriegs­wichtiger Ressourcen des ehemaligen deutschen Gegners zielte, habe dieser so die Produktion sei­ner Schwerindustrie steigern können, deren Aus­stoß bis dahin von der Internationalen Ruhrbehör­de gedeckelt worden war. Der spätere Abbau von Handelsschranken habe gleichfalls nicht der Ab­schaffung des Nationalstaates, sondern der vol­len Entfaltung der Konkurrenz zwischen diesen gedient. Europa beruhe also auf Antikommunis­mus und Handel und sei keine darüber hinausrei­chende Wertegemeinschaft.

Anschaulich zeigt sich hier, wie die progres­siven Impulse der westeuropäischen Entwicklung nach 1945 ignoriert werden. Dabei stellt die deutsch-französische Annäherung angesichts des in der deutschen Ideengeschichte überliefer­ten Überlegenheitsanspruchs gegenüber dem Westen trotz ihres nationalen Interessenhinter­grunds eine Erfolgsgeschichte dar. Als Motor der Verwestlichung und ideellen Entnazifizierung Deutschlands ist der europäische Einigungspro­zess einhellig zu begrüßen. Deshalb relativieren sich, ganz abgesehen von ihrer fragwürdigen ana­lytischen Qualität, die gängigen Bewertungsmaß­stäbe linker Europakritik. Ein Blick auf historische Europabezüge soll diese Position nachvollziehbar machen. Dazu gehört etwa die Utopie eines libe­ralen Kulturbürgertums, das die Hoffnung über­nationaler Zugehörigkeit bot, bevor sie im Ersten Weltkrieg vom deutschen Weltmachtstreben und im Zweiten Weltkrieg vom nationalsozialisti­schen Rassenwahn zerstört wurde. Dazu gehört auch die europäische Orientierung der Arbeiter­bewegung in Abgrenzung zum wachsenden Nati­onalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und dazu gehören Ansätze antifaschistischer Wider­standsgruppen, die gerade aufgrund des Schei­terns eines sich aus der Klassenzugehörigkeit ergebenden Kampfes gegen Faschismus und Na­tionalsozialismus im pro-europäischen Idealis­mus die Basis für erfolgreiche antifaschistische Bündnisse sahen.

Europa aus bürgerlich-liberaler und antifaschistischer Perspektive

Anders als in der gegenwärtigen rechtspopulisti­schen Polemik gegen Europa war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade der Begriff der Kul­tur, der für zahlreiche Intellektuelle die Überwin­dung nationaler Feindschaft versprach. Ausge­hend von den Erfahrungen seit den erfolgreichen Emanzipationsbestrebungen im Anschluss an die Französische Revolution waren es insbesondere jüdische Intellektuelle, die Europa als »geistigen, literarischen und künstlerischen Sehnsuchts­raum« ausmachten und im Ringen um Fragen von Selbstverständnis und Zugehörigkeit wenn auch nicht immer politische, so doch kulturelle Utopien formulierten, die sich durch einen positiven Euro­pabezug auszeichneten.Vivien Liska/Bernd Witte, Art. Europa, in: Enzyklopädie jüdi­scher Geschichte und Kultur, hrsg. v. Dan Diner, Bd. 2, Stutt­gart/Weimar 2012, 278–285, hier: 279.

Einer von ihnen war der aus Österreich stammende Schriftsteller Stefan Zweig, der sei­ner im brasilianischen Exil verfassten Autobio­grafie den Untertitel Erinnerungen eines Europä­ers gab. Er war in Wien aufgewachsen, das kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert aufgrund der Einwanderung aus allen Teilgebieten des Habs­burgerreichs Menschen mit höchst unterschiedli­chen religiösen und lebensweltlichen Hintergrün­den versammelte und sich zu »einer der Welt­hauptstädte des Geistes«Jean Améry, Örtlichkeiten, in: ders.: Werke, Bd. 2, hrsg. von Ger­hard Scheit, Stuttgart 2002, 351–489, hier: 363. entwickelte. Zweig schwärmt in seinen Memoiren vom »Genie Wiens«; nirgends sei es leichter gewesen, »Euro­päer zu sein«.Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Euro­päers, Frankfurt a.M. 1992 [1944], 39. Seine Jugend war geprägt von einem Gefühl der Sicherheit angesichts der rela­tiv konfliktarmen Epoche, auf die der Kontinent seit 1815 zurückblickte. Nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs finden sich in seinem Werk im­mer wieder leidenschaftliche Plädoyers für die Überwindung nationaler Rivalität und ein europä­isches Einigungsprojekt, von dem Zweig die Men­schen im Medium seiner Wahl – der Schrift – überzeugen wollte.

Sein politisches Engagement, etwa in der europafreundlichen Clarté-Bewegung des franzö­sischen Schriftstellers Henri Barbusse oder die ihm nachgesagte zeitweilige Mitgliedschaft im 1914 gegründeten pazifistischen Bund Neues Va­terland, blieb dagegen spontan und kurzfristig. So heißt es in den Erinnerungen: »Wir glaubten ge­nug zu tun, wenn wir europäisch dachten und in­ternational uns verbrüderten, wenn wir in unserer […] Sphäre« – und damit ist eben die Literatur oder im weiteren Sinne die (Hoch-)Kultur ge­meint – »uns zum Ideal friedlicher Verständigung und geistiger Verbrüderung« und nicht zuletzt zur »europäischen Idee« bekannten.Ebd., 232. Dass diesem Streben etwas Illusorisches anhaftete, nahm er mit Blick auf die Situation in Europa, wie sie sich beim Abfassen seiner Erinnerungen 1941 dar­stellte, durchaus in Kauf: »Aber wenn auch nur Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn, […] menschlicher und fruchtbarer als die Parolen von heute.«Ebd., 18.

So wie sich Stefan Zweigs positiver Europa-Bezug während des Exils nochmals verstärkte, entdeckten auch Vertreter der Arbeiterbewegung im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit Europa als Politikfeld. Europa-Konzeptionen innerhalb der Linken waren an sich kein neues Phänomen. (Linke) Sozialisten wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Kurt Eisner engagierten sich während des Ersten Weltkriegs im bereits erwähnten pazifistischen Bund Neues Vaterland, der sich 1914 für den umgehenden Frie­densschluss sowie die europäische Verständi­gung einsetzte. In der Zwischenkriegszeit verban­den linke Gewerkschaften, Parteien und Initiati­ven mit dem Europa-Gedanken über die Idee der Einhegung nationaler Interessenkonflikte hinaus vor allem wirtschaftliche Überlegungen, da sie in der europäischen Einigung die Möglichkeit er­blickten, Arbeiternehmerrechte und Wettbewerb gleichermaßen zu stärken.Vgl. Willy Buschak, Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel. Arbeiterbewegung und Europa im frühen 20. Jahr­hundert, Essen 2014. Kommunisten enthielten sich diesen Diskussionen in der Regel, da sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker propagierten und ferner davon ausgingen, die so­zialistischen Revolutionen würden über kurz oder lang ganz Europa erfassen.

Das Ziel der europäischen Einigung »aus dem Geist des Widerstands«Vgl. Frank Nies, Die europäische Idee. Aus dem Geist des Wi­derstands, Frankfurt a.M. 2001. während des Zweiten Weltkriegs wurde unabhängig voneinander in mehreren westeuropäischen Ländern entwickelt. In Italien initiierten antifaschistische Wider­standskämpfer, allen voran der Linkssozialist Al­tiero Spinelli, 1943 das Movimento Federalista Europeo, das zur Gründung eines europäischen Staatenbundes aufrief. Parallel dazu forderten Résistance-Gruppen in Frankreich, darunter die Vereinigung Combat um den Schriftsteller Albert Camus, 1944 die Schaffung der »Vereinigten Staaten von Europa«. Deutschsprachige sozialis­tische Emigranten in Großbritannien aus dem Umfeld der Union deutscher sozialistischer Orga­nisationen befürworteten ihrerseits die europäi­sche, wenngleich sozialistisch geprägte Einigung. Zusammengefasst wurden diese und ähnliche Forderungen im Mai 1944 auf einer Konferenz im neutralen Genf, die eine Deklaration zugunsten einer europäischen Föderation, der Einschrän­kung staatlicher Souveränität und der Einrich­tung einer europäischen Gerichtsbarkeit verab­schiedete. Alle Teilnehmenden gingen davon aus, ein geeintes Europa sei nach dem Krieg das bes­te Mittel, ein wiederholtes Aufkommen nationa­listisch-autoritärer Regime zu verhindern.

Wie am maßgeblich von Spinelli verfassten Manifest von Ventotene (1941), dem eindrücklichs­ten Europa-Dokument jener Jahre, abzulesen ist, lag dem positiven Bezug eine umfassende Verun­sicherung angesichts des Siegeszugs der Nazis zugrunde. Die Forderung nach der »endgültige[n] Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten einteilen«, und der Schaffung eines Staa­tenbundes (stato federale), »der auf festen Füßen steht und anstelle nationaler Heere über eine eu­ropäische Streitmacht verfügt«Dieses und die folgenden Zitate n. http://bit.ly/29wJo0O., leitete sich aus verschiedenen Überlegungen ab: So stellte Spi­nelli mit Erschrecken fest, dass die Staaten und Institutionen der Vorkriegszeit dem Nationalsozi­alismus nicht standgehalten hatten, ja, Hitlers Feldzug die europäische Einigung im Negativen bereits realisiert hatte. Da er hinsichtlich der Zu­kunft davon ausging, dass sich die deutsche Frage erneut stellen, d.h. Deutschland aufgrund seiner Mittellage wiederum zum potenziellen Unruhe­herd werden würde, der das europäische Gleichge­wicht durch Protektionismus und den Abschluss bilateraler Verträge gefährde, sprach er sich für gemeinsame europäische Institutionen und einen einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum aus.

Interessanterweise rückte Spinelli hierbei von der Arbeiterklasse als bisherigem Träger des ge­schichtlichen Fortschritts mehr und mehr ab. Er attestierte ihr (wohl auch mit Blick auf das fakti­sche Scheitern des antifaschistischen Wider­stands im Spanischen Bürgerkrieg und das euro­paweit verbreitete Phänomen der Kollaboration), es angesichts der Bedrohung durch den National­sozialismus versäumt zu haben, »über die Son­derbedürfnisse ihrer Klasse oder gar ihrer Kate­gorie hinweg ins Weite zu blicken und sich darum zu bemühen, sie mit den Ansprüchen anderer Schichten zu verbinden«. In Anbetracht der tota­litären Bedrohung müssten jedoch alle Kräfte ge­bündelt werden, die in der Lage sind, »die alten politischen Institutionen zu kritisieren«. Diese Kritik schloss auch die Sowjetunion ein, die sich nicht nur durch den Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts desavouiert hatte, sondern der er auch vor­warf, zu einem autokratischen Regime herabge­sunken zu sein, »in dem die ganze Bevölkerung im Dienste der eng begrenzten Kaste der Bürokraten steht, die die Wirtschaft verwalten«. Wenngleich Spinelli darauf bestand, die von ihm angestrebte europäische Lösung müsse eine »sozialistische« sein, ist doch frappierend, inwieweit die vormali­ge Betonung der sozialen Frage der Einsicht ge­wichen war, dass jene angesichts des Nationalso­zialismus (wie des Stalinismus) keinen alleingül­tigen Ansatz mehr darstelle. Die Dominanz der sozialrevolutionären Perspektive wurde zuguns­ten des Bündnisses mit bürgerlich-liberalen Kräf­ten aufgegeben.

Für das real existierende Europa

Die Erinnerung an bürgerlich-liberale Vorstellun­gen von der europäischen Kultur und an die anti­faschistische Bündnisorientierung, die im Mo­ment der Bedrohung das Ziel sozialer Befreiung zurückstellte, ermöglicht eine Öffnung des histo­rischen Blicks. Eine darauf fußende Beurteilung der europäischen Einigung als »Antwort auf die Geschichte«Tony Judt, Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2009, 966. relativiert die Überzeugungskraft der traditionellen Kritik an der sozialen Ungleich­heit, am ideologischen Antikommunismus und den vermeintlich imperialen Zielen Europas. Die im Vergleich zur Weltkriegsepoche gelungene po­litische und kulturelle Überformung zwischen­staatlicher Konflikte und Feindbilder lässt selbst den Antikommunismus des Kalten Krieges und die marktliberalen Elemente der ökonomischen Integration Europas in einem positiven Licht er­scheinen, da sie zu den Gewährleistungsmomen­ten gehörten, die in Westdeutschland zur Heraus­bildung einer progressiveren politischen Kultur führten, während im Ostblock ethno-nationalisti­sche und völkische Denkweisen unverfälschter erhalten blieben.

Es stellt sich indes die Frage, inwiefern eine solche geschichtsbewusste Haltung aktuell Gel­tung beanspruchen kann und nicht durch ihre ständige Reklamation seitens der etablierten Po­litik und der politischen Bildung bereits zur rei­nen Phrase verkommen ist. In unseren Augen fordert die eingangs geschilderte Tendenz der Re­nationalisierung dazu auf, den historischen Fort­schritt Europas bewusster wahrzunehmen und argumentativ zu verteidigen. Die Mehrzahl der Linken sieht zwar die Gefahr des Rechtspopulis­mus, reagiert aber darauf durch die Aktivierung veralteter Kritikmuster: Imperialismus, soziale Ungleichheit und bürokratische Entmündigung sollten demnach an erster Stelle kritisiert wer­den, um eine weitere Rechtsentwicklung zu ver­hindern. Linke sollten in der Gegenwart vor allem für ein egalitäres und demokratisches Europa kämpfen, da ansonsten ohnehin die Grundlage für eine Einigung des Kontinents verloren ginge.Vgl. u.a. Karl Heinz Roth/Zissis Papadimitriou, Die Katastrophe verhindern. Manifest für ein egalitäres Europa, Hamburg 2013. Ferner das Manifest von DIEM25 (Democracy in Europe Move­ment 2025): http://bit.ly/29l96pK. Diese Argumente unterschlagen jedoch, dass ein großer Teil des rechten Erfolgs auf generellen Globalisierungsängsten beruht und sich gegen Einwanderung, Digitalisierung, sich weiter mo­dernisierende Geschlechterverhältnisse, die Ver­einigten Staaten und Israel sowie gegen die Herr­schaft transnationaler Eliten und Finanzspekula­tion wendet.

Mehr noch, im Kampf gegen Europa finden sich rechte und linke Organisationen nicht selten vereint. Der Widerstand gegen die Zustimmung der EU zum transatlantischen Freihandelsabkom­men ist keine linke Domäne, sondern auch ein An­liegen des Front National. Die von alten und neuen Linken unterstützte Europa-Bewegung des ehe­maligen griechischen Ministers Yanis Varoufakis, DIEM 25, weist ebenfalls Überschneidungen zwi­schen rechtem und linkem Populismus auf. Wäh­rend in ihrem Manifest einerseits die EU als »au­ßerordentliche Leistung« gelobt wird, weil sie den Kontinent »in Frieden zusammengeführt« und Menschenrechte an die Stelle von »mörderische[m] Chauvinismus« gesetzt habe, wird andererseits eine politische »Verschwörung« zugunsten der Fi­nanz- und Industriekonzerne beklagt. Opfer der Konzernmacht seien die »stolze[n] Völker« Euro­pas und die Nationalstaaten, deren Souveränität ausgehöhlt werde. Neben der formulierten Sorge um eine Renationalisierung steht gleichzeitig die Forderung, die nationale Selbstbestimmung vor supranationaler Entscheidungskompetenz zu be­wahren. Die formulierten sozial-ökonomischen Vorschläge, die auf Umverteilung und staatliche Investitionsprogramme hinauslaufen, bleiben an die nationale Form gebunden. Dass daneben auch die Offenheit Europas für Menschen aus der gan­zen Welt postuliert wird, dürfte sich als Makulatur erweisen, sobald die »europäischen Völker« tat­sächlich, wie von DIEM 25 gewünscht, entschei­dungsmächtig werden und die Anwartschaft auf staatliche Leistungen gegen die nach Wohlstand und Sicherheit suchenden Einwanderer auf Grundlage nationaler Zugehörigkeit regeln.

Was aber tun, wenn linke, sozial motivierte Europakritik nicht anders als rechtspopulistische die »Völker« zur Verteidigung des Nationalstaates mobilisieren will? Was tun, wenn verschwörungs­theoretische Machtkritik von links und rechts die in ihrer Grundidee vernünftige Institutionalisie­rung europäischer Staatlichkeit delegitimiert? Was tun, wenn linke und rechte Kritik die histori­sche Entwicklung der offenen Gesellschaften Eu­ropas nicht als Grundlage, sondern als grundfal­sches Hemmnis begreift? Angesichts dieser Kon­stellation ist die Verteidigung der real existieren­den EU eine fortschrittliche Position.

Roter Salon im Conne Island

Der Rote Salon ist eine Veranstaltungsgruppe des Conne Island in Leipzig. Er versteht sich als Ort linker Selbstkritik und beschäftigte sich in der Vergangenheit unter anderem mit der Geschichte des Arbeiterliedes, der Rezeption des 17. Juni in der Linken sowie mit dem Mythos »Linkes Zentrum«. Mehr unter: roter-salon.conne-island.de