Franco Basaglia, der Vordenker der italienischen Anti-Psychiatrie, bezeichnet die Psychologie – als Wissenschaft und in ihrer institutionalisierten Form – als »Befriedungsverbrechen«. Zunächst schienen die Sozialwissenschaften »neue Chancen und Ausblicke zu eröffnen. Psychiatrie, Psychologie und Psychoanalyse präsentierten neuartige Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zur Linderung menschlichen Leids«.Franco Basaglia und Franca Basaglia-Ongaro (Hrsg.), Befriedungsverbrechen. Über die Dienstbarkeit der Intellektuellen. Frankfurt/Main 1980, 19. Doch sobald sie in den »institutionalen Sog der Macht [gerieten] und der Imperative der Klassenteilung zu erliegen begannen, verkehrten sie sich zunehmend in Werkzeuge von Herrschaft und Herrschaftsausübung: Theoriebildung ›von oben‹, Bereitstellung von Zähmungskenntnissen«.Ebd., 20. Die Kritik der herrschaftlichen Funktion der Psychologie hat die Bewegungen einer kritischen Psychologie in zwei Richtungen gespeist. Einerseits im Zweifel an der Nützlichkeit der Psychologie überhaupt (»Zerschlagt die Psychologie« war der Leitspruch dieser Tradition der Studierendenbewegung. Viele dieser kritischen Ansätze haben sich in den 1990er Jahren postmodernen Fragestellungen zugewendet) und dem Anspruch der Entwicklung einer emanzipatorischen Alternative (die im Weiteren zur Ausbildung der Kritischen Psychologie Berliner Schule führte).
Psychologie und Therapie sind aufgespannt in den Widersprüchen zwischen der Stärkung individueller Glücksansprüche gegen herrschaftliche Anforderungen und marktförmigen Reklamierungen. Gleichzeitig verweisen die Zahlen psychischer Erkrankungen auf einen nicht geringen Handlungsbedarf. Psychische Erkrankungen sind die häufigste Ursache für Krankenhausaufenthalte, zwischen 2001 und 2006 nahm die Zahl der Krankentage aufgrund psychischer Störungen um 17 Prozent zu, von 2 Prozent im Jahr 1976 stieg sie 2006 auf 8,9 Prozent.Spiegel online vom 23. Juli 2007.
Das Feld ist komplizierter geworden seit die Anforderung, individuelle »Ressourcen« selbsttätig in die eigene Marktgängigkeit zu investieren, Teil neoliberaler Herrschaft geworden ist, »Empowerment« demnach nicht an sich Teil eines Befreiungsdiskurses ist. Wie also lässt sich die Aufgabe emanzipatorischer Psychologie und Therapie bestimmen, die Klienten nicht einfach fit für den Markt machen und mangelnde Selbstaktivierung als Teil persönlichen Scheiterns diskutieren, andererseits aber das Leiden an den Verhältnissen nicht ignorieren, bestenfalls sogar zum Ausgangspunkt von emanzipatorischem Handeln machen will?
Gefühle in Zeiten des Kapitalismus
Eva IllouzEva Illouz, Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurt/Main 2006. analysiert die Ausbreitung von Therapie und eines professionalisierten Umgangs mit Emotionen im 20. Jahrhundert. Eine wichtige Entwicklung sieht sie in der Popularisierung der Psychoanalyse. Durch die »Taschenbuch-Revolution« haben sich ihre Konzepte verallgemeinert, der Blick vieler auf ihre Biografie hat sich gewandelt. Mit der Institutionalisierung von Psychologie und Beratung/Therapie und deren Ausrichtung auf »normale Leute«Ebd., 43. in den fünfziger und sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts, zunächst in den USA, und der Institutionalisierung des Feminismus in den siebziger Jahren, werden die therapeutischen Diskurse gestützt und ausgeweitet. Die Herstellung von Gleichberechtigung zwischen den Partnern und von gelingender Sexualität, die Überwindung hergebrachter Rollenverständnisse, das Erlernen von »zuhören können« etc. fordert eine »Arbeit an sich selbst« und den eigenen Gefühlen. Anhand von Ratgeberliteratur aus den achtziger Jahren zeigt Illouz den damit einhergehenden Rationalisierungsschub intimer Beziehungen: Der reflexive Akt des Benennens von Emotionen, um mit ihnen besser zurecht zu kommen, verleiht ihnen eine Ontologie, ein Eigenleben, macht sie zum Objekt und dadurch Kosten-Nutzen-Rechnungen zugänglich.
Die humanistische Psychologie (verbunden mit den Namen Maslow und Rogers) wollte zwischen Behaviorismus und Psychoanalyse eine »dritte Kraft« sein und wurde mit der Inspirierung von Selbsterfahrungsgruppen massenwirksam. Sie befördert die Vorstellung, dass Gesundheit und Selbstverwirklichung dasselbe seien; entsprechend wird Krankheit zunehmend gegenüber der Vorstellung modelliert, dass Gesundheit mit völliger Selbstverwirklichung gleichgesetzt wird.
Illouz sieht im Gefolge des Niedergangs der sozialen Bewegungen der siebziger Jahre eine Verschiebung von der Vorstellung von »Rechten« zum Pochen auf »Anerkennung« von Individuen und Gruppen – auch dies »schwappt« aus den therapeutischen Diskursen »herüber«. Erfolg wird zunehmend als Spiegel des echten und wahren Selbst statt als Ergebnis von Fähigkeiten angesehen. Verschiedene zivilgesellschaftliche Akteure und Diskurse greifen dies auf, wie Diskurse um sexuellen Missbrauch (Alice Miller) und um Traumata, etwa wenn mit der Diagnose der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) die gesellschaftliche Anerkennung der Vietnam-Veteranen gesichert wurde, oder die Pharmaindustrie und die psychologischen Vereinigungen, die dem Diagnosemanual DSM »Störungen« wie Trotzverhalten zufügten. Der Anerkennungs-Diskurs prägte die Art staatlicher Intervention und »bot ein wesentliches Modell für die Individualisierung, das vom Staat angenommen und propagiert wurde«Ebd., 89..
Emotionen und psychisches Leid in Zeiten von Prekarisierung/Aktivierung
Das Narrativ der Selbsthilfe ist eng verbunden mit dem des psychologischen Scheiterns und des Elends, so dass wir »selbst dann Herr im eigenen Hause sind, wenn es brennt«.Ebd., 75. Hier können die neuen gesellschaftlichen Anforderungen an die Subjekte »aufsetzen«. Die »Reformen« des Arbeitsmarktes, die neuen Steuerungsmodelle der Arbeit, setzen auf »Aktivierung« der Subjekte mit all ihren »Ressourcen«, ihrer Kreativität und Emotionalität. Die Verallgemeinerung des Therapeutischen ist auch in den Unternehmen angekommen: Schwankend zwischen Affirmation und Kritik fragt Bergmann in brandeins: »Wie Konflikte auf eine konstruktive Weise lösen? Wie Fluktuation managen? Weil solche psychologischen Fragen wichtiger werden, haben der Jargon und die Praxis der Selbsterfahrungsgruppen in Unternehmen Einzug gehalten. Ein Heer von Personalentwicklern, Trainern und Therapeuten lebt sehr gut davon [...]«.Jens Bergmann, Sei du selbst. Brandeis (3) 2001, 88–92, 92.
Der Mobilisierungs- und Aktivierungs-Diskurs erfordert ein neues Selbstverhältnis, in dem z.B. die Emotionalität ein Teil des subjektiven Kapitals wird, das es jederzeit bereit zu halten und zu investieren gilt. Im Umkehrschluss ist mangelnder Erfolg keine Frage struktureller Ungleichheit, sondern der Grund liegt im Versagen der Einzelnen, in ihrem mangelnden Engagement, eben der nicht gelungenen Selbst-Mobilisierung. Hegemonial werden solche Diskurse, Sichtweisen und Politiken nicht dadurch, dass eine Mehrheit ihnen emphatisch zustimmt. Auch der Mangel an alternativen Vorstellungen, die für viele Menschen ein leidvolles »nach innen nehmen« der Anforderungen bedeutet, ist Teil einer passiven Zustimmung oder doch passiver Anerkennung der hegemonialen Verhältnisse.
Technologien der Selbst-Aktivierung
Eine zentrale Technik, wie die Subjekte die Aktivierung lernen sollen, stammt aus dem Bereich therapeutischer Diskurse: Neurolinguistisches Programmieren (NLP). In zahllosen Management- und Selbstmanagement-Ratgebern, sogar bei den CastingshowsChristina Kaindl, »Du musst ihn fühlen, den Scheiß!« Neoliberale Mobilisierungen im Imaginären und der Kämpf um neue Lebensweisen am Beispiel von Big Brother und Popstars. Das Argument, 261 (3, 47. Jg. 2005), 347–360; dies. (Hrsg.): Subjekte im Neoliberalismus. Marburg 2005., wird das Konzept explizit oder implizit als Mittel der Selbstaktivierung, der Mobilisierung der eigenen Ressourcen, vor allem der Emotionalität, angepriesen. Mittels »Ankern« soll gelernt werden, ein bestimmtes Gefühl unabhängig von der aktuellen Situation zu mobilisieren – und so etwa frisch und motiviert zur Arbeit zu gehen, Kreativität für die Konstruierung eines neuen Produkts freizusetzen oder glaubwürdig ein bestimmtes Gefühl auf der Bühne rüberzubringen. So wird das Erlernen neuer, positiver emotionaler Wertungen und die Umdeutung negativer Wahrnehmungen ermöglicht. Das Konzept bezieht sich u.a. auf Theatertechniken von Stanislawski und Strasberg. Auch hier geht es darum, die eigenen Gefühle – in diesem Falle für die Bühne – quasi als »Kapital« für die Modellierung von Theaterszenen nutzbar zu machen. Entsprechend lernt man nicht, so zu tun wie die Person, die man in einer Szene darstellt, versetzt sich in diesem Sinne nicht in andere Personen hinein, sondern ergründet, um welche Emotionen es in der Szene geht, erforscht, wann man selbst solche Gefühle hatte – und trainiert, die damit verbundenen Ausdrucksformen durch Aktualisierung der Situation und ihrer Gefühle darzustellen. »Das Verfahren [des NLP] beruht auf einer einfachen Umkehrung: Weil ein bestimmtes Erlebnis, etwa die Bewältigung einer schwierigen Aufgabe, unweigerlich bestimmte physiologische Reaktionen und innere Bilder hervorruft, soll das Evozieren eben dieser Bilder und Reaktionen die Energien mobilisieren können, die es zur Bewältigung einer schwierigen Aufgabe braucht. Das Ziel ist der Weg«.Ulrich Bröckling, Diktat des Komparativs. Zur Anthropologie des »unternehmerischen Selbst«. In U. Bröckling u. E. Horn (Hrsg.), Anthropologie der Arbeit. Tübingen 2002, 157–173, 169. Erfolg wird wörtlich zur Einstellungssache, der »Selbstmanager zum Regisseur seines ›gehirngerechten Erfolgsfilms‹«.Ebd., 170. Die evozierten Bilder sollen Realitäten nicht abbilden, sondern produzieren.Letztlich handelt es sich um eine Neuauflage der »Geistheilung« (»mind cures«), wie sie schon von der frühen Psychoanalyse kritisiert wurde. In dieser Tradition wurden etwa die Granatschocks von Soldaten aus dem ersten Weltkrieg als Produkt negativen Denkens verstanden. Die Psychoanalyse betonte dagegen die (Selbst-) Erkenntnis, die Analyse des Widerstands; vgl. Eli Zaretzky, Freuds Jahrhundert. Die Geschichte der Psychoanalyse. Wien 2006, 245.
Dem Aktivierungsgedanken entsprechend erscheint Untätigkeit und Arbeitslosigkeit ein Problem mangelnden Engagements und mangelnder Aktivierung. Unter den Hartz-Gesetzen etwa müssen die Arbeitssuchenden von sich aus nachweisen, was sie zur Erlangung einer neuen Arbeitsstelle getan haben. Dadurch wird nahegelegt, die Arbeitsmarktprobleme seien im Prinzip durch Eigeninitiative aus dem Weg zu räumen, sie werden personalisiert und in die Verantwortung/Schuld der Einzelnen gestellt. Die Ostberliner Psychiaterin Margarete Steinrücke schildert den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und psychischer Destabilisierung bei ihren KlientInnen: Besorgte oder mitleidige Nachfragen von Familie und Freundeskreis werden zunehmend als unerträglich empfunden und führen zu einem sozialen Rückzug. Die Individualisierung der Schuld, die Verknüpfung von Misserfolg und mangelndem Engagement ist bei den Betroffenen voll angekommen. »Es sind Leute dabei, die bringen mir ihre Aktenordner mit, mit ihren hunderten von Bewerbungen, weil sie mir zeigen wollen, was sie gemacht haben, dass sie nicht schwindeln und dass sie sich wirklich Mühe gegeben haben«.Margarete Steinrücke, Soziales Elend als psychisches Elend. In: F. Schultheis u. K. Schulz (Hrsg.), Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Zumutungen und Leiden im deutschen Alltag. Konstanz 2005, 198–208, 203.
Da mit der Dauer der Arbeitslosigkeit auch die Zumutbarkeit von Arbeitsstellen außerhalb der eigenen Qualifikation, bisherigen Entlohnung oder dem bisherigen Lebensmittelpunkt anzunehmen zunimmt, steigen auch Druck und Zwang.
Die Verunsicherung soll die Arbeitsintensität und -dauer steigern – und tut es auch. »Das sind häufig Leute [...] völlig am Ende, Frauen, auch meistens mit Kindern, die ganz schnell so einen kleinen Posten bekommen, eine kleine Leitungsfunktion, die erst mal total stolz und auch geschmeichelt sind, dass sie jetzt diese Verteilung überwachen dürfen. [...] dann halten sie noch länger durch, und dann kommt irgendein Punkt, da sind die so erschöpft und physisch nicht mehr in der Lage, das weiterzumachen und so verzweifelt, da nicht rauszukönnen. Das ist meistens schon das Bild einer schweren Erschöpfungsdepression«.Ebd., 205.
Depression als Negativ-Folie des Aktivierungs-Paragidmas
Alain EhrenbergAlain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/Main 2004. analysiert den Wandel der Depression zur »Krankheit unserer Zeit«. Ähnlich wie Illouz sieht er seit den Umbrüchen der sechziger Jahre nicht die Unterdrückung von Wünschen und Begehren als zentrale »Schnittstelle« zwischen Individuum und Gesellschaft, sondern ihre Entwicklung und Verwirklichung im Vordergrund; nicht die Introjektion der Grenzen, sondern das Verschieben der Grenzen des Möglichen ins Unabsehbare. »Die Person wird nicht länger durch eine äußere Ordnung [...] bewegt, sie muss sich auf ihre inneren Antriebe stützen, auf ihre geistigen Fähigkeiten zurückgreifen. Die Begriffe Projekt, Motivation, Kommunikation bezeichnen heute die neuen Normen«.Ebd, 8. Die Forderung »man selbst zu werden« und sich selbst als grenzenlose Kapitalisierungsmaschine zu betrachten sieht er im Zusammenhang mit der Ausweitung von Depressionen, die »uns die aktuelle Erfahrung der Person [zeigt] denn sie ist die Krankheit einer Gesellschaft, deren Verhaltensnorm nicht mehr auf Schuld und Disziplin gründet, sondern auf Verantwortung und Initiative«.Ebd, 9. Die Verschiebung der psychischen Erkrankungen im Rückgang der Zwangsneurosen zugunsten der depressiven Erkrankungen sieht Ehrenberg in diesem Zusammenhang. Gleichzeitig wandle sich die Depression seit den achtziger Jahren. »Die alte traurige Verstimmtheit wird zu einer Handlungsstörung und das in einem Kontext, in dem die persönliche Initiative zum Maß der Person wird«.Ebd., 13. Weil die gesellschaftlichen Normen weniger über Sozialisation internalisiert würden, sei die Ausweitung von Strafsystemen und Sicherheitsdiskursen gesellschaftlich auf dem Vormarsch. Die neoliberale Mobilisierung und Individualisierung lege die Grundlage für die Erschöpfung und den Aufstieg der neuen Antidepressiva zur »Volksdroge«, deren Versprechen es ist, die Anforderungen der Selbstführung und Selbstverantwortung zu bewältigen.
Linke Perspektiven?
Abschließend bleibt nach einer emanzipatorischen Perspektive zu fragen. Die »ideologische Funktion der Sicherung bürgerlicher Herrschaftsverhältnisse« kann nur wirksam werden, wenn sie zugleich »für die Individuen in deren Streben nach ›restriktiver Handlungsfähigkeit‹ unter Anerkennung und ›Ausnutzung‹ der gegebenen Machtstrukturen, also [...] für den individuellen Aufbau ›deutender‹ Weisen der Welt- und Selbstbegegnung funktional ist«.Klaus Holzkamp, Grundlegung der Psychologie. Frankfurt/Main 1983, 393f. Es bedarf also gesellschaftstheoretischer Analysen, etwa der Veränderungen der Produktionsweise und der damit einhergehenden veränderten Anforderungsstruktur an die Einzelnen.
Inwieweit die Überschreitung restriktiver Bewältigungsweisen für die Einzelnen funktional werden kann, hängt nicht zuletzt davon ab, ob und wie (stark) alternative, oppositionelle, gegen den Strom gerichtete Handlungs- und Denkmöglichkeiten in den Bedeutungszusammenhängen repräsentiert sind. Klaus Holzkamp nennt »kooperative Integration«, wenn solche Denk- und Handlungsmöglichkeiten als subjektiv möglich erscheinen, weil das Risiko, gesellschaftlichen Anforderungen nicht ungebrochen nachzukommen, durch kooperative Zusammenhänge (wie auch immer vermittelt) abgefedert ist.
Hier zeichnen sich auch für die praktische Beratungstätigkeit Perspektiven und Aufgaben ab. Ist die Psychologie – und sind die PsychologInnen, die als BeraterInnen und TherapeutInnen arbeiten – eher eingebunden in die Konformierung von Subjektivität/Emotionen in kapitalistischen Produktionsweisen, ins Training der Aktivierung oder führen sie emanzipatorischen Strömungen Kräfte zu, indem sie deren Einbindung in und potenzielle Widerständigkeit gegen die Produktions- und Lebensweise sichtbar machen?
Wie können die Betroffenen im Aufbau von kooperativen Bezügen unterstützt werden, die ihnen ermöglichen gegen die herrschaftlichen Nahelegungen anzudenken? Welche Kompetenzen in Fragen der lebensweltlichen, zivilgesellschaftlichen und politischen Möglichkeiten gilt es für die Beratenden und Therapierenden zu erarbeiten, um hier mit den Betroffenen zusammen Optionen zu besprechen? Die praktischen Ansätze der 68er, der Antipsychiatriebewegung und der Irrenoffensiven liegen weitestgehend brach. Viele Ansätze der Reformpsychiatrie tauchen unter neoliberalen Vorzeichen erneut auf. Es zeigt sich, dass die De-Institutionalisierung der psychosozialen Versorgung häufig billiger ist.
Holzkamp hat den etwas umständlichen Begriff des »gesellschaftlich-subjektiven Zusammenhangs- und Widerspruchswissens« (ZWW) entwickelt. Er verweist darauf, dass psychologische Praxis – potenziell – aus erster Hand über die Verwerfungen und psychischen Kosten der gesellschaftlichen Zumutungen berichten könnte. Was – und ob – in der Praxis aber von den gesellschaftlichen Widersprüchen erfahren wird, hängt zentral von den Begriffen und Konzepten ab, mit denen in der Praxis gearbeitet wird. Es geht also darum, eine Psychologie voranzubringen, die sich nicht blind auf die Seite der gesellschaftlichen Anforderungen stellt und die Menschen fit macht für die Konkurrenz, die aber andererseits auch nicht über ihr subjektives Leiden hinweggeht. Das ist einerseits eine inhaltliche Fragestellung. Wenn die Psychologie nicht über Begriffe und praktisches Wissen verfügt, mit denen herrschaftliche Anforderungen als solche gedacht werden können, können die dadurch hervorgerufenen Formen individuellen, psychischen Leidens nicht erfasst werden. Wenn das Leiden an den Verhältnissen nicht an die Einzelnen »zurückgereicht« werden soll, müssen sich PsychologInnen und TherapeutInnen (wieder) verstehen als Teil eines gegenhegemonialen Projektes – und sich am Aufbau von Bezügen und Beziehungen ihrer KlientInnen beteiligen, die es ihnen ermöglichen, ein kooperatives »Hinterland« gegen individualisierende Nahelegungen zu entwickeln. »Gedanklich«, also zur Herausbildung von Distanz und Kritik gegen gesellschaftliche Anforderungen, wie auch praktisch, als Eingebundenheit in alternative Netzwerke, vom Arbeitslosenfrühstück bis zur Gewerkschaft. Auch für Basaglia ist die Frage der Psychologie zwischen Befriedung und Befreiung letztlich eine der Hegemonieverhältnisse – zu denen auch Nicht-PsychologInnen beitragen.
Illouz fasst als Auftrag an eine emanzipatorische Psychologie »eine Kritik sozialer Ungerechtigkeit zu reformulieren, die sich für die Art und Weise interessiert, in der der Zugang zu psychologischem Wissen [...] dazu beiträgt, unterschiedliche Formen des Selbstseins zu hierarchisieren«. Darüber hinaus geht es um eine Wiedergewinnung von Handlungsfähigkeit und damit Emotionalität, in der die Verwickeltheit der eigenen Interessen mit denen des Marktes aufgegriffen und entwirrt werden können. Die »gefährliche Seite« der Emotionalität liegt darin, dass, wenn ich mir meine Emotionen als erkenntnis- und handlungsleitend für meine Entscheidungen wieder aneigne, die Funktionalität von individueller Konkurrenz und der Verzicht auf veränderndes Handeln brüchig werden kann. Stattdessen könnte der »utopische Pol« von Emotionalität in den Blick geraten, der nicht auf Aktivierung und Anpassung gerichtet ist, sondern auf »die Schaffung von Bedingungen ›menschlicher‹ Lebenserfüllung/Bedürfnisbefriedigung« und darin gleichzeitig die »Gewinnung von Entschiedenheit, Fülle und Angstfreiheit gegenwärtiger Emotionalität« ermöglichen würde.Ebd. 410. Es würde der Blick dafür frei, wie Beziehungen jenseits der Konkurrenz aufgebaut werden können.
CHRISTINA KAINDL
Die Autorin ist Psychologin und promoviert in Politikwissenschaft über den Zusammenhang zwischen neuen Subjektanforderungen im neoliberalen Kapitalismus und dem Erstarken von Neofaschismus. Sie lehrt an der FH Stendal.