Frieden und Krieg

Trotz oder gerade wegen der fehlenden Hoffnung auf eine emanzipatorische Gesellschaftstransformation sieht Hendrik Wallat aktuell die Notwendigkeit, über das Verhältnis von Gewalt und emanzipatorischen Ansprüchen zu reflektieren. Der von ihm herausgegebene Sammelband ist ein Beitrag zu einer Diskussion um das Erbe des Realsozialismus für die heutige und zukünftige Linke. Auch wenn diese Debatte bereits seit einigen Jahren geführt wird, erreichte sie bisher nur einen kleinen Personenkreis. In der Einleitung attestiert Wallat der Linken daher ein geringes Geschichtsbewusstsein und eine mangelnde kritische Reflektion auf die eigene Geschichte, zu der sowohl der Zusammenbruch der Sowjetunion als auch die Erfahrung zählt, dass die Revolution und der historische Kommunismus einen zu hohen Preis hatten. Die Geschichte der gescheiterten Revolution ist, so Wallat, entscheidend für die Zukunft der Emanzipation. Der Band befasst sich aber nicht allgemein mit der Tragödie und den Gründen für das Scheitern des Sozialismus. Der Schwerpunkt der Beiträge liegt vielmehr auf dem Verhältnis von Gewalt und Moral und auf der Frage, ob der Zweck die Mittel heiligt und inwieweit wir bereits das Resultat unserer Geschichte als Linke sind. 

Im Rahmen dieses Spannungsfeldes werden zahlreiche Intellektuelle und politische Persönlichkeiten vorgestellt und diskutiert, darunter auch wenig beachtete Denker, wie zum Beispiel Hans Most oder Arthur Koestler. Bedauerlicherweise ist unter den behandelten Personen keine einzige Frau, obwohl auch Hannah Arendt oder Emma Goldmann relevantes zu den Themen Gewalt und Revolution beigetragen haben. In der Linken finden ihre Schriften heute kaum nennenswerte Beachtung und daher wäre es wünschenswert gewesen, sie in diesem Band zu Wort kommen zu lassen.

Die acht Beiträge sind anhand von vier Themenfeldern sortiert. Das erste Kapitel Grenzen der Befreiung analysiert problematische Ansätze, die bereits in einigen Ideen vom Sozialismus angelegt sind. Sozialrevolutionäre vs. Reaktionäre Gewalt betrachtet wiederum die Begründungsmuster unterschiedlicher Gewaltbegriffe bei Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Carl Schmitt. Gewalt und Moral in der Kritischen Theorie setzt sich mit der Reflektion von Gewalt und Moral bei Benjamin, Bloch und Adorno auseinander, wohingegen das letzte Kapitel Gewaltdiskussion in der libertären Bewegung die Positionen dreier Anarchisten sowie die Albert Camus’ darstellt.

Zwei Beiträge stechen besonders ins Auge. Sebastian Tränkle zeigt in seinem Artikel »Parteisoldat des Himmels« sehr plastisch anhand literarischer Beispiele, inwieweit bereits die moralische Begründung der Revolution den Weg dazu bereitet, dass es wiederholt zu bewegungsinternen Säuberungen kommen konnte. Da die Freiheit des Individuums immer wieder dem Ziel der Bewegung geopfert wird, ist das Ziel der Bewegung, nämlich die Befreiung der Menschheit, also das Glück aller, von Anfang an getrübt und daher ungültig. Am deutlichsten weist Tränkle dies anhand eines recht unbekannten Romans Arthur Koestlers, Die Erlebnisse des Genossen Piepvogel in der Emigration, nach. Anhand der Handlung des Werks lässt sich nachvollziehen, wie das allem übergeordnete Ziel des Kommunismus zu individuellem Verzicht und dem Ausschluss Einzelner führt, also einem Ergebnis, das der Idee einer befreiten Gesellschaft entgegen steht.

Phillippe Kellermanns Beitrag »Exemplarische Positionen zur Gewaltfrage im klassischen Anarchismus« stellt anhand der Biographien von Johan Most, Errico Malatesta und Pierre Ramus die Breite und die Widersprüchlichkeit der Gewaltdebatte im Anarchismus dar. Kellermann verknüpft die Biografien mit den Werken und erklärt die politischen Positionen aus den unterschiedlichen Lebensumständen heraus. Es entsteht ein komplexes, aber auch widersprüchliches Bild. Damit erhält die Debatte über Gewalt und Moral eine weitere Facette, da sich die libertäre Bewegung stärker den Themen Arbeit und Armut widmete und sich im Gegensatz zur sozialistischen und kommunistischen Bewegung weniger aus intellektuellen oder akademischen Kreisen speiste.

Obwohl für einige Artikel ein abgeschlossenes Philosophiestudium oder zumindest die jahrelange aktive Teilnahme an Debatten über das Erbe der Sowjetunion und die Bedingungen einer emanzipatorischen Transformation notwendig ist, finden sich in dem Sammelband viele interessante Ansätze und Positionen, die gerne in einem resümierenden Fazit gegen- und miteinander diskutiert hätten werden können. Auch wenn der Ausgangspunkt des Buches explizit die Geschichte der Linken ist, die als Schlüssel für die Zukunft verstanden wird, fehlt eine deutlichere Berücksichtigung heutiger Debatten um Gewalt und Perspektiven, beziehungsweise Utopien. Ebenso wie die Abwesenheit von Philosophinnen, Politikerinnen und Aktivistinnen irritiert, ist es auffallend, dass keine Autorin hier zu Wort kommt. Dies hat sicherlich nachvollziehbare Gründe, aber eine Reflektion dieses Umstandes wäre angebracht gewesen. Dennoch: ein spannendes Buch, das erhellende Gedanken über politische Gewalt und ihre Grenzen ermöglicht.

Ulrike Breitsprecher

Hendrik Wallat (Hg.): Gewalt und Moral. Eine Diskussion der Dialektik der Befreiung, Unrast-Verlag, Münster 2014, 286 S., € 18,00.