Frühlingsgefühle

Internationale Aufbrüche und ihr linker Widerhall

Eines ist mit Blick auf das vergangene Jahr kaum zu bestreiten: Für eine kurze Zeit schien die Welt ist nicht nur in Bewegung, sondern sogar in Aufruhr geraten zu sein. Von Tunesien, Ägypten und Libyen, über Griechenland, Spanien und England bis nach Amerika und Israel haben die Menschen im letzten Jahr die Straße und mancherorts auch den Straßenkampf für sich entdeckt. Einige dieser Revolten haben sich, wie die riots in England, nach einigen Tagen mehr oder weniger von selbst wieder aufgelöst. Andere sind, wie die Proteste in Spanien und die Occupy-Bewegung in Amerika, nach monatelangen Aktivitäten abgeflaut – oder, wie die Revolten in Ägypten, Tunesien und Libyen, in eine undurchsichtige nachrevolutionäre Phase eingetreten. Manche Proteste hingegen halten, wie die Kämpfe in Syrien oder die Streiks in Griechenland, bis heute an. Die den internationalen Aufbrüchen gewidmete Frühlingsausgabe der Phase 2 erscheint so in einer eigentümlichen Zwischenphase: Über den Ausgang der internationalen Aufbrüche ist zwar noch nicht entschieden; die Überraschung und Verwunderung über das plötzliche Auftreten der über den Globus verteilten Protestbewegungen haben jedoch ebenso nachgelassen, wie die Frühlingsgefühle, die das Aufstandsjahr bei dem Einen oder der Anderen geweckt haben mag. 

Fernab des geteilten historischen Augenblicks haben die einzelnen Kämpfe weder auf den ersten, noch auf den zweiten Blick viel miteinander gemein. Schon über ihre Ursachen lässt sich streiten. Während die Proteste in Athen und New York als Reaktionen auf die größte ökonomische Krise nach der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929 verstanden werden können, waren es unverhältnismäßige Polizeieinsätze mit Todesfolge, von denen die Revolten in den Vorstädten von Paris und London ihren Ausgang nahmen. In Spanien wiederum trieb die bevorstehende Einführung neuer Schulgesetze die Menschen massenhaft auf die Straße. Noch einmal komplizierter wird es, wenn die Proteste und Kämpfe im Nahen Osten in das Tableau mit aufgenommen werden. Waren es zunächst vor allem soziale Probleme, die die Aufstände in Tunesien und Ägypten motivierten, so fegten die Proteste binnen kurzer Zeit wie ein Lauffeuer über die territorialen Grenzen hinweg und lösten einige der größten politischen Revolutionen der jüngeren Geschichte in dieser Region aus. So verschieden die Ursachen und Anlässe, so unterschiedlich sind auch die politischen Ziele. Während am einen Ort Menschen ihr Leben im Kampf gegen autoritäre und totalitäre Regimes riskieren, wird anderenorts unterdessen für Bildung und Gerechtigkeit oder gegen Banken, Finanzmarktkapitalismus und die Krise demonstriert. Wieder woanders brennen zwar Autos und Geschäfte, aber wogegen sich der Unmut hier eigentlich richtet, das lässt sich anhand der Sozialstruktur der randalierenden Gruppen bestenfalls vermuten – erkennbar ist es nicht. Auch die sich abzeichnenden gesellschaftlichen Folgen der internationalen Aufbrüche könnten am Ende verschiedener kaum sein. Es macht einen Unterschied ums Ganze, ob die Zelte im Zucotti Park oder auf dem Tahir Square aufgeschlagen werden. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass hier die Proteste tatsächlich den Weg für einen grundlegenden Wandel der gesellschaftlichen und politischen Ordnung ebnen könnten, während sie dort wie eine Seifenblase zu zerplatzen drohen, die nach ihrer Auflösung keine Spuren hinterlässt. Längst ist der Zucotti Park aufgeräumt und das Leben an der Wall Street geht seinen gewohnten Gang.

Dennoch gibt es nicht Wenige, die in der Gleichzeitigkeit und Unvorhersehbarkeit des historischen Auftritts der Aufstände auf der Weltbühne Grund für Hoffnung erblicken. Dadurch werde doch wenigstens einer Lügen gestraft: der postmoderne Zeitgeist, der sich aller Unzulänglichkeiten zum Trotz in der gegenwärtigen als der besten aller möglichen Welten eingerichtet habe. Bevor die Berichte über streikende Hafenarbeiter, protestierende Ägypterinnen und trommelnde Okkupanten die Seiten der Tages- und Wochenzeitungen füllten, hatte sich auf diesen ein von drögen Statistiken unterfüttertes Lamento über den Anbruch des postpolitischen Zeitalters breit gemacht. Als dessen Wegmarken wurden der Verlust politischer Utopien und die in zahlreichen Studien zur Politikverdrossenheit dokumentierte politische Enthaltsamkeit angesehen. Dort wo sie mit der These vom Ende der Politik konfrontiert wurden, schienen sich die Stimmen der Proteste aller Verschiedenheit zum Trotz nicht in einer Kakophonie zu verlieren, sondern zu einem Kanon zusammenzuschließen, dessen leicht zu erlernender Text lautet: »Eine andere Welt ist möglich und wir sind zu kämpfen bereit«.

Die Ausrufung eines postdemokratischen Zeitalters gehört – wie die Diagnose des Endes der Geschichte oder die Deklaration eines Kampfs der Kulturen – zu den großen Deutungsangeboten einer Zeit, die ihrem eigenen Selbstverständnis zufolge keine großen Erzählungen mehr kennt. Auch wenn Vieles gegen das Jonglieren mit solchen Großtheorien sprechen mag, so eignen sie sich gleichwohl in einzigartiger Weise zum Abstecken eines Terrains, auf dem gesellschaftlichen Entwicklungen wie den gegenwärtigen und jüngst vergangenen Aufständen fragend begegnet werden kann. Deshalb kann ein kurzer Blick auf sie lohnen. Die Diagnose eines postpolitischen oder postdemokratischen Zeitalters, die dieser Tage durch die Aufstände in Frage gestellt werden soll, wurde von Jacques Rancière und Colin Crouch in den politischen Diskurs eingeführt. Letzterer beschreibt Postdemokratie als einen Zustand, in dem demokratische Institutionen zwar formal in Takt sind, politische Entscheidungsprozesse sich aber zunehmend den Formen vordemokratischer Zeiten annähern. Der Begriff bezeichnet bei Crouch den Verlust politischer Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten durch eine Ökonomisierung der Politik. Rancière richtet seine Kritik nicht nur gegen eine bestimmte Institutionalisierung des Politischen, sondern gegen Institutionalisierungsprozesse als solche. Weil sie die Regeln festschreiben, nach denen sich das alltägliche Geschäft der Politik zu richten hat, trügen Institutionalisierungen notwendig zu einer Schließung des Politischen bei. Dadurch werde verdeckt, dass der politische Raum und die ihn konstituierenden Regeln, die über Ein- und Ausschluss entscheiden, selbst Gegenstand gesellschaftlichen Streithandels sind. Konsensuelle Demokratie als die gegenwärtige Gestalt der Institutionalisierung des Politischen lebe von der Illusion, dass in ihr jeder und jede repräsentiert sei und alle zu ihrem Recht kämen. Dagegen plädiert Rancière mit dem Verweis auf die historischen Kämpfe der Arbeiter_innenklasse oder der Frauenbewegung für einen politischen Streithandel, der den Blick auf die Ausgeschlossenen und Nicht-Repräsentierten lenkt. Lässt sich die Ausrufung eines postdemokratischen Zeitalters bei Crouch als kritische Replik auf eine bestimmte Gestalt der These vom Ende der Geschichte verstehen, so verwandelt sie sich bei Rancière geradezu in eine Spielart derselben. Das in einer konsensuellen Demokratie gefangene, politische Subjekt Rancière’scher Provenienz ist die Kehrseite einer gesellschaftlichen Ordnung, die suggeriert, mit ihrer geschichtlichen Entwicklung an ein Ende gekommen zu sein. Der postmodernen Absage an große Erzählungen zum Trotz ist mit der Diagnose eines Endes der Geschichte in ihrer populärsten, von Francis Fukuyama vertretenen Gestalt gerade nicht die Aufgabe der modernen Geschichtserzählung, sondern deren Vollendung gemeint. Hatte nicht das durch den Tod eines der beiden kämpfenden Giganten besiegelte Ende des Kalten Krieges die Unbesiegbarkeit des liberalen Kapitalismus und der parlamentarischen Demokratie zweifelsfrei vor Augen geführt? Wo alle großen Kämpfe bereits ausgetragen sind und alles Wichtige schon entschieden ist, da bleibt als einzige Aufgabe die Verwaltung der Welt. Doch die These vom Ende der Geschichte ist nicht erst durch die Aufstände im vergangenen Jahr herausgefordert worden. Mit der Prophezeiung eines »Clash of Civilizations« (dt. Kampfs der Kulturen) hatte Samuel P. Huntington ihr schon vor mehr als einem Jahrzehnt den Kampf angesagt. Manchen, die Huntingtons Theorie zunächst belächelt hatten, ist nach den Anschlägen vom 11. September 2001 das Lachen im Halse stecken geblieben. Es ist nicht nötig, die Anschläge und den anschließenden Kampf gegen der Terror, der die internationale Politik in den vergangenen Jahren über weite Strecken bestimmte, als realpolitische Einlösung des von Huntington heraufbeschworenen Kampfes der Kulturen anzusehen, um zuzugeben, dass nach den Anschlägen auf das World Trade Center ein Ende der Geschichte nicht in Sicht schien. Zehn Jahre später wurden mit dem Anbruch des »arabischen Frühlings« die Karten im Spiel der Geschichte erneut gemischt und anders verteilt. Noch ist der Ausgang dieser Partie ungewiss. Letztlich wird es nicht der distanzierte, theoretisch interessierte Beobachter, sondern die Geschichte selbst sein, die eine Entscheidung forciert. Doch die referierten Urteilssprüche vom Ende des Politischen, vom Ende der Geschichte und vom Kampf der Kulturen können dabei helfen, die historischen Möglichkeiten zu erkennen, die gegenwärtig zur Verfügung stehen.

Nicht nur seitens der Aktivistinnen und ihrer begeisterten Zuschauer sind die Proteste hierzulande mit der These vom Ende des Politischen in Zusammenhang gebracht worden. Wo die Einen ihre Widerlegung feierten, glaubten die Anderen sie gerade bestätigt zu finden. Als in London die Innenstadt brannte, vergaß kaum eine der angereisten Journalistinnen und keiner der Kommentatoren den apolitischen Charakter der Aufstände zu erwähnen. Obwohl die sozialen Ursprünge der Aufstände weder zu übersehen noch zu leugnen waren, fehlte ihnen tatsächlich jene Übersetzungsleistung, die den individuellen Unmutsäußerungen nicht nur zu einer kollektiven Aktion, sondern auch zu einer gemeinsamen Artikulation verholfen hätte. In der Folge verkam der Protest zu einem Spektakel, das für einige Zeit das Bildmaterial für die ersten Seiten der Tages- und Wochenzeitungen lieferte. Politisch spielte er jedoch lediglich als willkommener Vorwand für die Stärkung der nationalen law and order Politik eine Rolle. Waren die Revolten in den französischen banlieues und den englischen Großstädten apolitisch, so bleibt die Occupy-Bewegung vorpolitisch. Wie G. B. Taylor schon in der letzten, 41. Ausgabe der Phase 2 gezeigt hat, ist ihr die Form des Protests zum Fetisch geworden und hat jede inhaltliche Auseinandersetzung verdrängt. An die Stelle der Aushandlung politischer Forderungen ist eine Debatte über Kommunikations- und Mitbestimmungsstrukturen getreten, welche noch dazu auf dem Missverständnis aufbaut, dass sich alle miteinander verstehen. Auch die Verhandlung von Kommunikationsstrukturen kann zum Gegenstand der politischen Auseinandersetzung werden. Die Durchsetzung kollektiver Vertretungen in Tarifverhandlungen hat dies einst vorgeführt. Politisch agiert wird jedoch nur dann, wenn durch die Formulierung einer gemeinsamen Forderung die Grenzen der selbstreferentiellen Bezugnahme überschritten werden. In dieser Hinsicht fällt die Occupy-Bewegung sogar noch hinter die Alterglobalisierungsbewegung zurück, mit der sie ansonsten viel gemein hat. Die These vom Ende des Politischen scheint auch dort noch den Sieg davonzutragen, wo Protesten der politische Charakter beim besten Willen nicht abgesprochen werden kann. Das gilt für die zahlreichen Demonstrationen, Streiks und Interventionen im krisengebeutelten Griechenland. Als Ministerpräsident Papandreou auf den kühnen Einfall kam, die Akteure und Akteurinnen mittels Volksentscheid tatsächlich an der politischen Entscheidung über Krisenlösungsstrategien teilhaben zu lassen, kostete diese Torheit ihn nicht nur das internationale Vertrauen, sondern auch sein Amt. Zumindest die Aufstände in der westlichen Welt fügen sich so in vielerlei Hinsicht nahtlos in die Gegenwartsdiagnose einer postdemokratischen Gesellschaft ein. Wenn davon ausgegangen wird, dass es sich bei den Protesten nicht um eine Neuformierung oder gar Neuerfindung des Politischen handelt, dann ist die entscheidende Frage, was es für eine Gesellschaft bedeutet, dass ihre Konflikte nicht mehr politisch austragen werden.

Vor der Folie der These vom Ende des Politischen können die Aufstände in der westlichen Welt in den Blick genommen werden. Dementsprechend kann der Streit zwischen dem Postulat des Endes der Geschichte und der Prophezeiung eines Kampfs der Kulturen als Raster fungieren, um Entwicklungsmöglichkeiten der arabischen Aufstände auszuloten. Als sich im Frühling vergangenen Jahres die Menschen ausgerecht in der Region erhoben, von der es alle Welt am wenigsten erwartet hatte, wurden die sich wie ein Lauffeuer verbreitenden Aufstände im Westen freudig als bürgerliche Revolutionen des Nahen Ostens begrüßt. Auch der Kampf der Kulturen schien sich zu Gunsten von libertéegalité und fraternité (dt. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) zu entscheiden. Vergessen war für einen Moment der Ausgang der letzten Revolution in dieser Region. Dabei hatte der iranische Nachbar drei Jahrzehnte zuvor gezeigt, dass eine Revolution nicht dem okzidentalen Vorbild folgen muss, sondern zu einer die Islamisierung von Staat, Politik und Gesellschaft führen kann. Nach den Wahlerfolgen der Islamisten in Tunesien, der Einführung der Sharia in Libyen oder der Machtaufteilung zwischen Militär und Muslimbrüdern in Ägypten hat mittlerweile noch bei den größten Freund_innen der Aufstände die anfängliche Euphorie einer nüchternen Betrachtung Platz gemacht. Politisch gesehen stehen die arabischen Aufstände erst am Scheideweg. Neben ihrem unmittelbaren Ausgang, sind vor allem die langfristigen Folgen ungewiss. Ob die nächsten Jahrzehnte dort eher einem Kampf der Kulturen, einem Sieg der Demokratie oder vielleicht sogar einer Erklärung des Endes des Endes der Geschichte gleichen werden – darüber lassen sich dieser Tage allenfalls besser oder schlechter begründete Spekulationen anstellen.

Jedenfalls ist im vergangenen Jahr viel passiert. Es war zwar keine Sintflut, aber immerhin eine Welle der Proteste, die auf die Welt niederstürzte. Dies ist Grund genug um den internationalen Aufbrüchen im Frühling danach einen Schwerpunkt zu widmen. Allein die Gleichzeitigkeit der Aufstände und Revolten, Proteste und Besetzungen wirft allen offenkundigen Verschiedenheiten zum Trotz Fragen auf. Wenn es mehr als ein Zufall sein sollte, dass sich die Proteste gerade dieser Tage mehren, dann müssen sich bestimmte sozialhistorische Voraussetzungen dafür finden lassen. Welche Rolle spielt dabei die Krise? Sollte der Marxismus doch Recht haben mit seiner Annahme, dass es ökonomische Krisen sind, die am Ursprung aller sozialen und politischen Proteste stehen? Und würde das bereits etwas über den Charakter der Aufstände aussagen, d.h. eine Antwort auf die Frage geben, ob es sich hierbei um ökonomische, politische oder soziale Konflikte handelt?

Auch das Verhältnis verschiedener hiesiger linker Gruppierungen zu den Aufständen ist zu hinterfragen. Es ist erschreckend, dass es auch heute noch Linke gibt, die aus der Geschichte des realexistierenden Sozialismus nichts gelernt haben und lieber dem »Sozialisten« Assad, als den Aufständischen Syrern und Syrerinnen die Hand reichen. Verwunderung rief aber auch die Euphorie hervor, mit der auf der Gegenseite von manchen Linken auf die Aufstände reagiert wurde. Glaubten da etwa Einige nach Jahren des Wartens endlich wieder ein neues revolutionäres Subjekt entdeckt zu haben? Fernab dieser vereinzelten Reaktionen blieb es um die Linke jedoch ungewöhnlich still. Zwar gab es durchaus linken Gruppen, die sich als Teil der Aufstände begriffen. Anders als bei den Ereignissen von 1968 spielten sie jedoch weder eine entscheidende Rolle innerhalb der verschiedenen Protestbewegungen, noch wurden diese als linke Bewegungen wahrgenommen. Die Zurückhaltung und Unentschiedenheit der Linken könnte Ausdruck ihrer inneren Gespaltenheit und ihrer gesellschaftlichen Machtlosigkeit zugleich sein. Eine entscheidende politische Akteurin ist sie jedenfalls schon lange nicht mehr. Auch deswegen hat sie sich oft auf die Position des Kritikers zurückgezogen, der weniger auf die begrüßenswerten, als auf die problematischen Aspekte politischer Auseinandersetzungen aufmerksam macht. Gründe gibt es dafür weiterhin genug: Sei es der zumindest latente Antisemitismus, der die Proteste hier wie dort wie ein Schatten begleitet, eine verkürzte Kapitalismuskritik oder ein antiliberales Gesellschaftsverständnis.

All die genannten Aspekte machen die Frage virulent, was das Auftreten der Proteste aus einer gesellschaftstheoretischen Perspektive bedeutet. Welche Ursachen liegen ihnen zu Grunde und in welche Richtung weisen sie? Sind sie ein letzter, im Dunkel der Nacht verhallender Aufschrei oder die Ankündigung eines neuen Morgens? Die dem Aufstandsjahr folgende neue Unübersichtlichkeit stellt Gesellschaftskritik vor Herausforderungen, die sowohl in der konkreten Analyse der verschiedenen Proteste, als auch in der Suche nach den gesellschaftlichen Ursachen und der globalen Bedeutung dieser unruhigen Zeiten bestehen. Keine dieser Herausforderungen ist leicht zu meistern. In den Beiträgen des aktuellen Schwerpunkts der Phase 2 stehen konkrete Analysen im Vordergrund. Der Fokus der Ausgabe bewegt sich weg von den großen Fragen und hin zu den arabischen Aufständen. An dieser Entwicklung lässt sich etwas ablesen – über den Zustand linker Gesellschaftskritik ebenso, wie über die Aufstände selbst. Zum einen wird es immer schwieriger auf die großen Fragen »Wohin weisen gesellschaftliche Entwicklungen?«, »Welche Veränderungen sind möglich?« und »Welchen Beitrag kann eine linke Gesellschaftskritik leisten?« eine befriedigende Antwort zu finden. Zum anderen impliziert die Verschiebung ein Urteil über die verschiedenen Ereignisse. So gibt es nicht nur keine große Erzählung, in die sich die Aufstände des vergangenen Jahres nahtlos einfügen würden. Vielmehr ist die Tatsache, dass sich der überwiegende Teil der Beiträge in diesem Heft mit den Aufständen im Nahen Osten beschäftigt, vermutlich weniger dem Zufall geschuldet, als Ausdruck von deren gesellschaftlicher Relevanz. Während die Proteste im Westen den bitteren Beigeschmack nicht loswerden, dass sie ebenso ungehört im Sande verlaufen könnten wie viele ihrer Vorgänger, könnten die Aufstände in der arabischen Welt tatsächlich den Weg für einen tiefgreifenden gesellschaftlichen und politischen Wandel ebnen.

Entschieden ist der Ausgang der Proteste jedoch weder hier noch dort. Darauf verweisen Bini Adamczak und Julia König im optimistischsten Beitrag des aktuellen Schwerpunkts. Für sie verweist die Gleichzeitigkeit der Aufstände auf einen historischen Augenblick, in dem die Geschichte das erste Mal seit langem wieder offen für gesellschaftspolitische Alternativen und Vorschläge sei. Vor allem im Nahen Osten stünden die Aufstände dabei vor der doppelten Aufgabe, das Schlimme beenden und das Schlimmste verhindern zu müssen. Nur eines ist für die Autorinnen derzeit gewiss: Das Ende der Geschichte ist zu Ende.

Etwas von dieser Euphorie ist auch noch im Interview mit Bernd Beier zu spüren, der im vergangenen Jahr nach dem Anbruch des »arabischen Frühlings« Tunesien und Libyen bereiste. Zugleich warnt Beier jedoch davor, die gesellschaftliche Bedeutung islamistischer Gruppierungen zu unterschätzen. Sie seien nicht nur von Beginn an Teil der Aufstandsbewegungen gewesen, sondern in vielen arabischen Ländern seit Jahrzehnten institutionell verankert. Darin liege ihr Vorsprung gegenüber politischen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen begründet, die erst infolge der Aufstände entstanden seien. Damit, so Beier, könne aufgrund der Beteiligung der Islamisten an den Protesten von einer »Enteignung der Aufstände« keine Rede sein.

In zwei weiteren Interviews haben wir mit Eldad Beck über die Bedeutung des Antisemitismus für die Aufstände und mit Hozan Ibrahim über die anhaltenden Kämpfe in Syrien gesprochen. Beck, der von der Islamisierung des Nahen Ostens, der ungebrochenen Virulenz des Antisemitismus und den Sorgen Israels angesichts der neuen politischen Situation in der Region berichtet, widerspricht Beiers Einschätzung des Verlaufs der Aufstände, wenn er von einer nachträglichen »Entführung der Revolution« durch islamische Kräfte spricht. In dem Gespräch mit Ibrahim, der seit einiger Zeit als politischer Flüchtling in Deutschland lebt, stehen hingegen die gesellschaftspolitische Situation und die andauernden Kämpfe in Syrien im Vordergrund. Besonders empört zeigt sich Ibrahim über die Solidaritätsbekundungen deutscher Linker mit dem Regime Assads.

Der Artikel von Jonathan Weckerle über die Hisbollah ergänzt die in den beiden Interviews vorliegenden Einschätzungen der Lage im Nahen Osten. Ausgehend von einem historischen Abriss widmet sich Weckerle dem Ansehensverlust, den die Hisbollah in den vergangenen Jahren erlitten hat. Dennoch stelle sie eine der politisch und gesellschaftlich einflussreichsten Kräfte im Libanon dar. Solange sich die Hisbollah darüber hinaus auf die Unterstützung aus dem benachbarten Syrien verlassen könne, bestehe kein Grund zur Annahme, dass sich der Reputationsverlust zu einem realpolitischen Bedeutungsverlust ausweiten wird. 

Nicht sozial-, sondern begriffsgeschichtlich nähert sich Carl Melchers den Aufständen in der arabischen Welt. Dabei stellt er dem lateinischen Revolutionsbegriff sein arabisches Äquivalent gegenüber. An einer auf Hannah Arendt zurückgehenden idealtypischen Unterscheidung zwischen politischen und sozialen Revolutionen festhaltend, versucht er Freiheit gegenüber Gerechtigkeitsforderungen als normatives Kriterium zu etablieren, an dem sich auch die Aufstände in Tunesien, Libyen, Ägypten und Syrien messen lassen müssten.

Die in der vergangenen Ausgabe begonnene Auseinandersetzung mit der Occupy-Bewegung findet in der aktuellen Phase 2 eine Fortsetzung. Dass die Bewegung durch das von ihr proklamierte Ideal der Transparenz ihre eigene Forderung nach einer neuen Öffentlichkeit untergräbt, möchte Robert Zwarg in seinem Beitrag zeigen. Die Inthronisierung der Transparenz schaffe nicht nur Distanz als Grundbedingung des öffentlichen Lebens ab, sondern auch die dialektisch auf die Öffentlichkeit bezogenen Privatsphäre. Weil Transparenz so in Zudringlichkeit umschlage, sieht Zwarg in der die Welt umspannenden Occupy-Bewegung auf eigentümliche Weise Marshall McLuhans Vision eines globalen Dorfes verwirklicht.

Auch Hannes Gießler stimmt in die Kritik an der Occupy-Bewegung ein, geht dann aber von der Kritik zu den Kritikern der Bewegung über. Diesen wirft er vor, die berechtigte Kritik an der falschen Aufhebung des Kapitalismus als Ausrede zu benutzen, um ihrerseits nicht über dessen richtige sprechen zu müssen. Ausgehend von einem historischen Rekurs auf das Scheitern des Realsozialismus vertritt Gießler die These, dass das selbst auferlegte Bilderverbot auf Seiten der Occupy-Kritiker Ausdruck des Scheiterns sei, sich eine andere Welt auch nur vorzustellen, in der sich jene Schrecken des Realsozialismus nicht gleichermaßen wiederholen. Wo die Geschichte die schlechte Aufhebung des Kapitalismus vorgemacht hat, scheint es eine gute kaum mehr als Denkmöglichkeit zu geben.

Der aktuelle Schwerpunkt der Phase 2 bewegt sich damit in einem Spannungsfeld, das von der traurigen Vermutung, der Kapitalismus könnte sich am Ende doch als die beste der möglichen Welten erweisen, bis zu einer euphorischen Kampfansage gegen ihn reicht. Wo der Eine im Angesicht der internationalen Aufstände über die Möglichkeit eines Endes der Geschichte – zumindest der Emanzipationsgeschichte – nachdenkt, da ist für die Anderen die Stunde der Herausforderung gekommen. Selbst dort jedoch, wo die Frühlingsgefühle wie in diesem Fall den Winter überdauern konnten, ist aus ihnen nicht die große Liebe geworden. Was am Horizont sichtbar wird, das ist auch hier nicht ein bessere, sondern lediglich die Möglichkeit einer anderen Welt. Aber vielleicht ist in einer Gegenwart, in der sich die Menschen Statistiken zu Folge bis vor kurzem eher ein Ende der Welt als ein Ende des Kapitalismus vorstellen konnten, die Wiedergewinnung der Möglichkeitsform schon ein sehr großer Schritt.

Phase 2 Leipzig