Gegen den falschen Frieden

Zum Schwerpunkt dieser Ausgabe

Die Entscheidung über einen Krieg im Irak ist zum jetzigen Zeitpunkt gefallen. Die Entscheidung für den Schwerpunkt dieser Ausgabe ist allerdings mehr als drei Monate alt. Wir hätten uns folglich der alten Tradition des Zeichendeutens, die aus den Gedärmen der materiellen Verhältnisse und den Meldungen der Magazine und Tageszeitungen die Zukunft zu weissagen weiß, verschreiben müssen, um die passgerechten Analysen zur Gegenwart hier zu versammeln. Solche Hexerei gehört natürlich zum Handwerkszeug linksradikaler Blätter, aber hier soll verraten werden, wie es uns auch diesmal wieder gelang.

Der Krieg gegen den Irak ist das Thema der Stunde, weil es nicht erst fallende Bomben und explodierende Granaten sind, die ihn wirksam werden lassen. Der Aufmarsch der Truppen, die ultimative Entschlossenheit zum Losschlagen - gemäß irgendwelcher Regeln oder gegen sie - sind Teil der kriegerischen Handlungen. Dass eine solche Situation sogar sehr lange wirksam sein kann, hat der Kalte Krieg bewiesen, der kurioser Weise als Erfahrung bei der Analyse der gegenwärtigen Situation im Gegensatz zum II. Weltkrieg keine Rolle spielt. Dabei ist doch augenfällig, dass der Aufmarsch der Truppen am Golf und die permanent vorgetragene Drohung ihres Einsatzes selbst schon erhebliche Wirkungen entfalteten. Eine Wirkung, die allerdings wesentlich darauf beruhte, dass die Entschlossenheit zum Krieg glaubhaft vermittelt wurde.
Und dieser Glaube war es auch, der die deutschen Menschen massenhaft auf die Straßen trieb. So dass sich in Leipzig schon Erinnerungen an den Herbst ‘89 einstellten. Der Protest konnte sich diesmal allerdings des Wohlwollens der Regierenden sicher sein, vereint doch der Antiamerikanismus die von Wirtschaftssorgen zerfressene deutsche Nation mit ihrer gewählten Vertretung. Der Glanz des »alten Europas« spiegelt sich in den Augen der Friedensbewegten, die im Gedenken an die deutschen Opfer in Stalingrad und den Bombennächten, als Zivilgesellschaft den wahnsinnigen, amerikanischen Cowboys etwas entgegensetzen wollen. Darzulegen, warum diese zivilgesellschaftliche Bewegung samt ihrer Ikonen Grass und Niedecken selbst ein Übel und zu bekämpfen sei, wäre uns zu wenig gewesen. Denn gerade weil wir die Position vertreten, dass mit der Auseinandersetzung um den Irakkrieg wesentliches im Selbstverständnis der kapitalistischen Zentren (Deutschland nicht ausgenommen) verhandelt wird, beschäftigen uns die Fragen nach Positionierungsmöglichkeiten der radikalen Linken zu diesem Thema samt seiner fortdauernden gesellschaftlichen Resonanzen über den Tag hinaus.
Und hier beginnt schon das Problem. Sind sich alle noch weitgehend einig, dass eine Imperialismustheorie Leninscher Couleur ungeeignet ist, die bewaffneten Konflikte der Gegenwart theoretisch zu erfassen, gehen die Meinungen, wie statt dessen zu analysieren sei, weit auseinander. Der Schwerpunkt beginnt deshalb mit zwei gegensätzlichen Beiträgen von Michael Heinrich und Jost Müller. Die Beiträge sind eine Fortsetzung ihrer Diskussion auf der letzten Veranstaltung der Antifaschistischen Aktion Berlin (AAB) vor ihrer Spaltung »Sag mir, wo du stehst« . Die dabei im Mittelpunkt stehende Bezugnahme auf die marxistische Kapitalismuskritik oder ihre »postmoderne« Überarbeitung prägt auch die weiteren Artikel zu dieser Thematik. So stellt Robert Kurz die Überzeugung dar, der Kapitalismus reagiere in den gegenwärtigen und kommenden militärischen Konflikten vor allem auf seine Krise, während Phase 2 (Berlin) versucht, anhand derselben Phänomene die Theorien einer Ära neuer Kriegsformen plausibel zu machen, die statt eines vereinfachenden Erklärungsrasters die genaue Analyse der konkreten Konflikte erfordere.
Gerade weil die verschiedenen Ansätze je plausible Elemente enthalten, zeigt sich, dass es in der Zeit seit dem Kalten Krieg noch nicht gelungen ist, eine angemessene Position zu finden. Die grundsätzliche Veränderung, die sich im Charakter militärischer Auseinandersetzungen durch den Wegfall des sozialistischen Blocks ergeben hat, lässt alte Fragen neu auftauchen, ohne dass die alten Antworten ungebrochene Geltung beanspruchen könnten. Die zwei folgenden Artikel können als Anhaltspunkte gelesen werden, trotz des Bedürfnisses nach neuen Ansätzen diesen nicht allzu leicht Glauben zu schenken. So weist Jochen Faun darauf hin, dass die Zivilgesellschaft Illusionen des Krieges entstehen lässt, in der dessen »neue« Formen dem Modell der eigenen zivil(isiert)en Kriegsführung entgegenstehen. Und Nicolas Siepen assoziiert frei zu Begriffen, die aus »Tausend Plateaus« von Deleuze/Guattari entlehnt sind, eine Warnung, das faschistische Potential, das vom Begriff der Multitude bei Negri/Hardt verborgen wird, nicht zu übersehen.
Die daraus hervorgehende Spannung zwischen zivilgesellschaftlicher Identitätsbildung in den Metropolen und einem tatsächlichen antiemanzipatorischen Potential, das sich in der Gegnerschaft zur kapitalistischen Weltordnung gebildet hat, wirkt in der aktuellen Debatte über die Positionierung zum Krieg im Irak polarisierend: Inwiefern sind im arabischen Raum politische Verhältnisse dominant, mit denen eine Linke sich nicht nur nicht gemein machen darf, sondern deren Bekämpfung sie auch dann begrüßen soll, wenn sie nicht im Interesse der Emanzipation geschieht? In dieser Frage rät Matthias Küntzel zur allgemeinen Vorsicht. Es gäbe nichts zu beschönigen an der Bewegung des Islamismus. Die Kritik am Handeln der USA gegen ihn dürfe deshalb nicht zur Solidarität mit Hamas & Co. werden, sondern müsse da ansetzen, wo sie aus strukturellen oder strategischen Gründen in ihr Gegenteil umschlägt. Aus einer solchen Perspektive gäbe es allerdings naheliegendere AdressatInnen einer linken Politik. Womit nicht in erster Linie die Friedensbewegung gemeint ist, sondern EU und Bundesregierung mit ihrer Unterstützung islamistischer Bewegungen.
Aus einer solchen Darstellung der Lage ergeben sich allerdings weitere Fragen. Erstens, wie gelingt es, die politischen Verhältnisse, in denen sich der Islamismus entfaltet, richtig einzuschätzen, und zweitens, wie ist die Spannung zwischen den USA und einem Teil Europas, zu dem an maßgeblicher Stelle Deutschland gehört, die doch in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht weit engere Bindungen haben als sie zu irgendeinem arabischen Staat oder zu den arabischen Staaten insgesamt bestehen, zu interpretieren? Für den durch die erste Frage eröffneten Komplex liefert Volker Weiss eine Analyse der Gemeinsamkeiten und Unterschiede des europäischen und islamistischen Antisemitismus, während Udo Schneider in einem Beitrag zu den unterschiedlichen Strategien innerhalb der Nato, der Dynamik von gegenseitiger Angewiesenheit und Kontrollversuchen bei zunehmender Konkurrenz auf den Grund geht.
Hier hätte sich sicher noch einiges anfügen lassen und wird wohl auch in Zukunft noch hinzugefügt werden. Doch zugleich drängt sich die Frage auf, was tun? Die sich formierende Zivilgesellschaft in ihrem volkstümelnden Antiamerikanismus bekräftigt erkennbar die Verhältnisse. Hinter ihrer jetzigen Kriegsverdrossenheit lässt sich die nächste Kriegsbegeisterung, wenn das »alte Europa seiner Verantwortung gerecht wird«, statt wie der US-Kapitalismus nur materiellen Interessen nachzujagen, schon erkennen. Und das kollektive Selbstmitleid, den II. Weltkrieg verloren zu haben statt selbst Supermacht zu sein, ist in ihren Äußerungen bis zur Unerträglichkeit präsent. Folglich ist dem Bündnis gegen Antisemitismus und Antizionismus zuzustimmen, wenn es fordert, konkrete Kriterien, die aus der Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Antiamerikanismus hervorgehen, für die Konfrontation mit der Friedensbewegung zu entwickeln. Da die radikale Linke allerdings auch kein Grünenparteitag ist, der sich gefälligst zwischen Krieg und Frieden für das Deutschland einträglichere Übel zu entscheiden hat, ist auch zu verstehen, wenn die Autonome Antifa [M] von einer Unterstützung des Irakkriegs nichts wissen will. Denn die Aufgabe der radikalen Linken besteht nicht darin, sich für das Mögliche zu entscheiden, sondern das realpolitisch Undenkbare zu fordern.
Von der Auseinandersetzung mit der sich militarisierenden deutschen Gesellschaft samt der heute aus Antiamerikanismus und Antisemitismus neu konstituierten Friedensbewegung über den Kampf gegen die materielle und politische Unterstützung völkischer und islamistischer Bewegungen bis hin zur eigenen Unterstützung emanzipatorischer Kräfte, die gegenwärtig aus dem Irak kommend in Deutschland kein Asyl bekommen oder hier im Rahmen der Antiterrorgesetze verschärfter Repression ausgesetzt sind, reichen die möglichen Aufgaben einer emanzipatorischen Linken. Dass es für diese Aufgaben wie für das Festhalten an der Überwindung des Kapitalismus nicht angemessen ist, sich in den gesellschaftlichen Konsens der Friedensdemos einzureihen, ist offensichtlich, auch wenn nicht alle als verloren gelten sollen, die sich an ihnen beteiligen. Andernfalls hätte der revolutionäre Antifaschismus auch in den Lichterketten der neunziger Jahre aufgehen können.

Phase 2 Leipzig