1. Gegen Geschichte

Es ist beinahe amüsant, wie jene, die bis zuletzt am marxistisch-leninistischen Begriff des Fortschritts festhielten, diesen nun denen vor die Füße werfen, die ihn schon lange verworfen und ihn auf das zurückgeführt haben, was sein Zweck schon immer war: dürftige Legitimation des Opportunismus zu sein. Auf „historischer Mission“ befindlich, eherne „Gesetze der Geschichte“ befördernd, war man selbst, aller empfundenen und erfahrenen Ohnmacht zum Trotz, auf der Seite des Forschritts. Jedes noch so blutige Zurückschlagen der Konterrevolution, jede weitere bittere Niederlage, aber auch jeder Sieg, der sich in furchtbarer Regelmäßigkeit als noch größere Niederlage herausstellte, verlangte nach einer Rechtfertigung. Entweder waren die Verhältnisse noch nicht so weit oder die Menschen, die Geschichte ging ihren gesetzmäßigen Gang, nichts konnte diese Gewissheit sprengen, nicht einmal das deutsche Menschheitsverbrechen. Im Gegenteil wurde es subsumiert unter die Verbrechen des Imperialismus und derart rationalisiert und zugleich verleugnet. Je unabweisbarer die geschichtlichen Tatsachen nur noch ein entschiedenes „Schluss damit!“ nahe legten, desto unbeirrbarer wurden die Verbrechen zu Umwegen, die Niederlagen zu Notwendigkeiten stilisiert und die Hegelsche „List der Geschichte“, selbst schon Rationalisierung der für ihn nichtidentischen historischen Momente, wurde herabgewürdigt zum Taschenspielertrick. Und das nannten die Linken dann Fortschritt.

Insofern ist die Unterstellung, antideutsche Kommunisten hielten an diesem Begriff fest, eher projektiver Identifikation zu verdanken, der Verlagerung unerwünschter Anteile des eigenen Ich auf andere, als einer begründbaren Beobachtung. Aber das nimmt auch nicht wunder bei Leuten, denen sich beim Wort „Zivilisation“ die Nackenhaare sträuben, während sie schon das nächste revolutionäre Subjekt aufs Korn genommen haben: „die Völker“. Sie, die in zwanghafter Verstrickung selbst nach dem Ende der so genannten „bipolaren Welt“ weiter in den Kategorien des Kalten Krieges agieren und daher meinen zu wissen, dass alles, was sich gegen Amerika richtet, gut sei, müssen ihren Fortschrittsglauben verleugnen, weil ansonsten ihr, vorsichtig ausgedrückt, brüchiges Verhältnis zur Wirklichkeit offenbar würde. Wer wollte allen Ernstes behaupten, die Antiglobalisierungsbewegung sei fortschrittlich? Daher die scheinbare Distanz, die sich schonungslos und radikal gebende Kritik dessen, was offensichtlich ist, z.B. des Antisemitismus unter den Globalisierungsgegnern, aber dies auch nur, um wie der Bundeskanzler zu Bush zu sagen: „Unter Freunden gehört Kritik dazu.“ Mit dem Unterschied, dass die Linke das auch so meint, Schröder jedoch nicht; so viel zur Identität von Wahrheit und Lüge in der deutschen Ideologie.
Wer im Dienste der guten Sache meint, mit der organisierten Gegenaufklärung, deren neuester Firmenname „attac“ lautet, anbändeln zu müssen, der kann der Welt nur die Bestätigung abgewinnen, dass alles das Immergleiche sei, und muss sich folglich gegen eine US-Intervention in Afghanistan oder im Irak aussprechen. In seiner Affinität zu Gemeinschaft und Verzicht, die er Moral zu nennen gelernt hat, gehen ihm die Unterschiede flöten, der gegenwärtige Zustand kann schlimmer nicht mehr werden, jede Veränderung ist höchstens ein Mehr desselben Alten und Schlechten. Und es gibt ja nicht wenige Gründe und Befunde, die eine solche Haltung zur Welt rechtfertigen, sie geradezu zwingend machen. Die permanente Krise macht sogar jenen zu schaffen, die bislang an die Reformfähigkeit des Kapitalismus glaubten. Jede Illusion über eine tatsächliche emanzipatorische Dynamik, sei es der ökonomischen Entwicklung, sei es irgendwelcher gesellschaftlicher Verwerfungen, ist verloren, und so auch die Vorstellung davon, welche grundlegenden Voraussetzungen erfüllt sein müssten, eine solche Dynamik in Gang zu setzen. Flüchten sich die einen ins Kollektiv der Betrogenen und hängen dem Wahn an, es müsse doch irgendeine Instanz geben, bei der man sich beschweren könne, schirmen die Abgeklärten sich ab und behelligen die interessierte Öffentlichkeit mit ermüdenden Erkenntnissen à la „Nachts sind alle Katzen grau“. Illusionslos zu sein ist jedoch etwas anderes als sich aller Illusionen beraubt zu wähnen: Was Abgeklärte wie Betrogene verbindet, ist der Wunsch, wieder Illusionen haben zu dürfen. Die Denunziation des Fortschritts, wie sie hier betrieben wird, ist eben keine Kritik der falschen Gewissheiten, es ist Gejammer darüber, dass sie nicht existieren; anstatt die Verhältnisse wenn schon nicht zu kritisieren, so doch wenigstens zur Kenntnis zu nehmen, wird sich über sie beklagt wie übers Wetter.
Diese Linken nehmen also nicht Abschied von der Geschichtsphilosophie, sondern wollen lediglich eine neue anstelle der alten. Eine, die wirklich wahr sei, die ihre Prognosen Wirklichkeit werden lasse. Eine solche ist einfacher zu finden, als man gemeinhin annimmt, denn es bedarf weder der Anstrengung des Begriffs, der kritischen Durchdringung oder gar erfahrungsgesättigter Analyse, vielmehr ist es besser auf all diese komplizierten Arbeitsgänge zu verzichten. Ihr Name ist „gesunder Menschenverstand“ und meint nichts anderes als die Fähigkeit der Individuen zur Anpassung an gesellschaftliche Begebenheiten. Wer das begriffen hat, steht immer auf der Seite der Sieger, und wer kann es den Linken verübeln, dass sie einmal auf dieser Seite stehen wollen? Und ist es in diesem Zusammenhang nicht bemerkenswert, wie traumtänzerisch Betrogene wie Abgeklärte zuletzt doch wieder alle gemeinsam beim guten, alten Antiimperialismus landen? Gibt das nicht doch dem so gescholtenen Fortschrittsbegriff recht, wenn heutzutage nicht nur die Linken, sondern alle gegen Israel und Amerika sind (außer Israel und Amerika selbst, versteht sich)? Bewahrheitet sich zu guter Letzt die Prognose der KP China in der „Polemik über die Generallinie“ von Anfang der Sechzigerjahre, in der die Parole „Proletarier aller Länder, vereinigt euch“ erweitert wurde und nun „Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker, vereinigt euch“ lautete? Is a dream coming true?
Ebenso wenig wie Zivilisation und Fortschritt eins sind, ist der Traum von einer Sache, von dem Marx sprach, und der Glaube an den Fortschritt dasselbe. Der totalisierten Verwertung ein entschlossenes „Ich mache mit!“ zuzurufen, vermeidet die Erkenntnis, dass man nicht einmal zum Mitmachen mehr gebraucht wird. Hier beginnt der Wahnsinn. Im Hohldrehen ihrer Omnipotenzfantasien und ihren Rationalisierungen der eigenen Überflüssigkeit beginnen die Subjekte tatsächlich Geschichte zu machen, d.h. sie begehen Verbrechen, die sich durch ihre vollendete Sinnlosigkeit auszeichnen. Deutschland ist nicht umsonst das Paradebeispiel einer „nachholenden Entwicklung“. An ihrem Ende hätte allerspätestens der 8. Mai 1945 stehen müssen, der kurze Moment aber ward verpasst, die negative Dialektik der Geschichte nimmt unverändert ihren Lauf, und ihre Apologeten sind drauf und dran, ihr einen weiteren barbarischen Bewältigungsversuch entgegenzusetzen und sich damit als die Vollstrecker ihres Vollzugs zu beweisen.
Übrig bleibt der durch nichts begründbare, von nichts ableitbare und mit nichts beweisbare Traum, der einem absoluten Bilderverbot unterliegt, denn einstweilen ist er nicht mehr als die Ahnung davon, dass es anders sein könnte. Dass die Möglichkeit bestünde, davon zeugt die Notwendigkeit der Ideologie, die das Versprechen verriet. Und doch bleibt einzig dem Individuum, das nur als Behältnis für das Tauschsubjekt in der wertverwerteten Welt eine Existenzberechtigung hat, die Ahnung von der Möglichkeit; seine Abschaffung im kollektiven globalen Albtraum würde den Traum ebenfalls beseitigen. Seine revolutionäre Verwirklichung jedenfalls läge nur jenseits von Geschichte und Fortschritt, die Bedingung ihrer Möglichkeit jedoch ist untrennbar verbunden mit dem bürgerlichen Subjekt und seiner Fähigkeit, unglücklich zu sein. Es geht nicht um Vollendung von Geschichte, sondern darum, ihre Vollendung zu verhindern, um eine Atempause, die zur Weiterentwicklung radikaler Kritik an jenen Bedingungen zu nutzen wäre, die den Antisemitismus als Reaktion auf die Dauerkrise des Kapitalismus stets aufs Neue hervorbringen.

Tjark Kunstreich
Berlin