Geschichte und Gegenwart der faschistischen Agitation

Die fragwürdige Aktualität von Leo Löwenthals und Norbert Gutermans Studie Falsche Propheten

Mit Blick auf den gegenwärtigen Autoritarismus und Rechtspopulismus und auf die Präsenz von Verschwörungsideologien und dem damit einhergehenden Antisemitismus wird die Neuausgabe von Leo Löwenthals und Norbert Gutermans 1949 publizierter Studie Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator von großen Teilen des deutschen Feuilletons als eine aktuelle Beschreibung rechter Propaganda und Politik gelesen. Der Suhrkamp Verlag, der Falsche Propheten im Februar 2021 neu bzw. zum ersten Mal jenseits der Ausgabe von Löwenthals Schriften vollständig aufgelegt hat, forciert diese Rezeption: »Was sich wie eine Kurzbeschreibung von Aspekten der politischen Kultur unserer Tage liest, ist Gegenstand eines Buches, das vor mehr als siebzig Jahren geschrieben wurde.«. »Inwiefern es auch ein Buch für unsere Gegenwart« sei, zeige »Carolin Emcke in ihrem Nachwort zu dieser Neuausgabe.« Die immer wieder betonte Aktualität dieser Studie wirft jedoch Fragen auf: Welche von Löwenthals und Gutermans Beobachtungen sind wie auf die Gegenwart übertragbar und welche davon haben eine historische Patina, die sich nicht wegreduzieren lässt? 

In Falsche Propheten arbeitete Löwenthal weniger ideengeschichtlich als in seinen vorherigen Arbeiten zu Autorität: Zusammen mit Norbert Guterman untersuchte er vielmehr empirisch Reden und Pamphlete von amerikanischen faschistischen Agitator:innen, um aus ihrer Rhetorik die manifesten Inhalte freizulegen. Die Studie erkennt bei diesen Agitator:innen eine rhetorische Technik, die »die Psychoanalyse auf den Kopf stellt«, so Löwenthal im Gespräch mit Helmut Dubiel: »Man macht die Menschen neurotisch und psychotisch und schließlich völlig abhängig von ihren sogenannten Führern.« Unter anderem diese Einsicht ermöglicht es so vielen heutigen Leser:innen der Falschen Propheten, eine Brücke zur Gegenwart zu schlagen. 

 

Täuschend aktuell? 

 

Wörtlich übersetzt würde Prophets of Deceit nicht Falsche Propheten heißen, sondern »Propheten der Täuschung«. Es sind Prophet:innen, die sich und andere täuschen und die durch ihre Täuschungsmanöver zur Bedrohung werden. Falsche Propheten beginnt unter dem Titel »Was der Agitator sagt« mit einer Montage aus Zitaten der untersuchten Reden und Texte von Agitator:innen. Diese wörtlichen Zitate lassen die historische Gebundenheit vieler dieser Reden erkennen, vor allem in ihrem unverhohlenen Antisemitismus: »Hitler und Hitlerismus sind die Geschöpfe des Judentums und Judaismus. Die erbarmungslosen Ausbeutungsmethoden, die gewisse Juden und ihre Satrapen [Statthalter im antiken Persien] auf Menschen anwenden, die nicht vorbehaltlos mit ihnen übereinstimmen, haben schlimme Reaktionen hervorgebracht. […] Vergeßt nicht, diese Juden sind Christen gegenüber erbarmungslos. […] « Andere Stellen ähneln durchaus heutiger Rhetorik, gerade beim Einwerben der Spenden: »Dies ist ein Kreuzzug. Ohne Geld wird es nicht gehen. Wir wollen es jedoch nur von enthusiastischen Freunden.« Um zu illustrieren, was die menschenfeindlichen Inhalte der faschistischen Agitation sind, wird diese Rede am Schluss mit einer Art Übersetzung »Was der Agitator meint« kontrastiert, die diese Täuschung entlarvt: »Ich biete euch nicht eine Utopie, sondern einen realistischen Kampf um den Knochen im Maul des anderen Hundes; das ist unser Programm. Nicht Frieden, sondern ständiger Kampf ums Überleben. Nicht Überfluß, aber den Löwenanteil. Könnt ihr, wenn ihr realistisch seid, mehr erwarten?« 

Von der Zeit über den Standard bis zur Jungen Welt ist man sich einig, dass diese fiktive Rede aus dem Mund Trumps stammen könne. Thomas Assheuer urteilte in der Zeit im Oktober 2020, »man muss sich schon taub stellen, um darin nicht den Sound des [damaligen] amtierenden US-Präsidenten zu hören.« Während Assheuer Trumps Namen gar nicht nennen mag, traut sich das der österreichischen Standard ebenfalls im Oktober 2020, inklusive einer Ferndiagnose: »So werden Psychopathen wie Donald Trump oder Parteien gewählt, die die ›Ausländer‹ für alles verantwortlich machen.« Im Gespräch mit dem Deutschlandfunk Kultur bemerkt Arno Orzossek im Februar 2021 unter der Maßgabe Warum die Analysen von früher so aktuell sind: »Ich will jetzt keine historischen Unterschiede verwischen, aber wer dieses Buch liest und kein einziges Mal an Donald Trump denkt, der hat einen Preis verdient.« Die Junge Welt titelt in ihrer Rezension zu Falsche Propheten im März 2021 »Leo Löwenthal schreibt lange vor Trump ein Buch über Trump« und vergisst dabei – wie der Suhrkamp Verlag selbst bei seiner Neuauflage – den Mitautor Norbert Guterman. Carolin Emcke schrieb in der Süddeutschen Zeitung im Januar 2021, quasi als Vorschein auf ihr Nachwort zur Neuauflage, etwas differenzierter: »Diese Untersuchung ist so aktuell wie nützlich, denn Löwenthal zeigt, wie sich das Verführungspotenzial autoritärer Demagogen nachvollziehen lässt, ohne ihrer behaupteten Volksnähe aufzusitzen.« 

Andere Urteile fallen etwas vorsichtiger aus. Auch anlässlich der Publikation des Adorno-Vortrags Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, »der aus heutiger Sicht nicht nur von historischem Interesse ist« – so der Klappentext des 2019 ebenfalls im Suhrkamp Verlag erschienenen Bandes –, zeigte sich der Mechanismus der modernen Medien, einem bestimmten Publikum alte Antworten auf neue Fragen als aktuell und aktualisierbar zu verkaufen. Dabei betonte der Historiker Volker Weiß, der das Nachwort zu Aspekte des neuen Rechtsradikalismus beisteuerte, im Gespräch mit dem Deutschlandfunk Kultur auch die Bedeutung von Falsche Propheten: »Leo Löwenthal hat zum Beispiel mit den ›Falschen Propheten‹ eine hervorragende Arbeit dazu vorgelegt und nachgewiesen, wie rechte Propaganda – und damit die ganze rechte Politik – systematisch davon lebt, ihre Adressaten im Zustand einer permanenten Neurose zu halten; also permanent schon pathologische Züge des Verfolgungswahns zu triggern«. Auf Blick nach rechts (bnr.de) fällt Armin Pfahl-Traughber im Februar 2021 ein gegenwärtiger Agitator ein: »Man kann mit seinem [Löwenthals] Buch auch gut Höcke-Reden analysieren und verstehen.« Damit zeigt er einen aktualisierbaren Nutzen der Studie an: die Methodik abstrahieren und auf neues Material übertragen, nicht nur von der Übertragbarkeit raunen. 

Es ist nicht leicht zu klären, woher das Bedürfnis stammt, in alten Texten Antworten für dringliche Fragen der Gegenwart zu finden. Gerade das Nachwort zu Aspekte des neuen Rechtsradikalismus markiert viele der historischen Differenzen. Es scheint – so die heuristische Unterstellung – das bürgerliche Suhrkamp-Publikum möchte aus habituellen Gründen nicht das Antifaschistische Infoblatt oder die Phase 2 konsultieren müssen, sondern vertraut dem Nimbus toter Männer. Diese sollen Probleme unserer Zeit erklären können und werden entsprechend »befragt«, was die Gegenwart vor ihnen bedeutet, oder gänzlich enthistorisierend als zeitlos gelesen. Adorno selbst kritisiert dieses Phänomen anhand eines Hegel-Jubiläums: »Nicht wird die umgekehrte Frage auch nur aufgeworfen, was die Gegenwart vor Hegel bedeutet.« Womöglich resultiert dieses Bedürfnis nach Aktualisierung auch aus dem gleichen Unbehagen an der Krisenerfahrung der Moderne, die Löwenthal und Guterman als wesentliche Ursache für die Agitation ausmachen. Diejenigen, die zwar die Agitation durchschauen, aber nicht unbedingt deren gesellschaftliche Bedingungen, wenden sich so zumindest den richtigen Propheten zu. 

 

Geschichte der faschistischen Agitation 

 

Woran liegt es, dass der historischen Studie Falsche Propheten häufig eine vermeintliche Aktualität attestiert wird. Die Erkenntnisse beziehen sich dezidiert auf faschistische Propaganda in den USA der 1940er Jahre. Dabei ist sowohl das Verfahren relevant, wie Löwenthal und Guterman mit den Quellen umgehen, als auch ihre Auswahl und wie sie diese begründen. Im Fließtext werden alle Agitator:innen konsequent anonymisiert und im Typus »der Agitator« verdichtet. Nur im Anhang werden die Quellen genannt und einzelne längere Zitate ihren Urheber:innen zugeordnet. Bei der Auswahl seien diejenigen berücksichtigt worden, »die eine deutliche Sympathie für den europäischen Totalitarismus oder den offenen Antisemitismus bekundeten.« Diese Einschränkung reduziert auch den amerikanischen Faschismus auf einen Import eines europäischen Phänomens – eine Perspektive, die Löwenthal und Guterman als Exilanten notwendig mitbringen. Trotzdem zeigt diese Sicht, dass die Themen des amerikanischen Faschismus sich vor allem um nationale Identität drehen und im Nachraum der Depression um soziale Ungleichheiten, für die einfache Sündenböcke ausgemacht werden. (Dass der amerikanische Faschismus der 1930er und 1940er nicht nur als Effekt eines europäischen Phänomens gesehen kann, zeigt Michael Joseph Roberto in The Coming of the American Behemoth.) Bloß die rhetorischen Muster der faschistischen Agitation und mehr noch die psychologischen Affekte, die davon angesprochen werden, sind so tatsächlich immer noch zu finden. Sie finden durch neue Medien bedingt vermutlich auch eine weitaus größere Verbreitung als das für die Reden und Artikel der 1940er der Fall war, die wie die genutzten Radiosender, Flugblätter und Redebühnen regional einen eingeschränkteren Radius hatten. Aber Antikommunismus und Rassismus reichten weit über das kleine Milieu der dezidierten Faschist:innen hinaus und hatten daher – ähnlich wie heute – bereits ihre Repräsentation im Parlament. Diese Phänomene wie Antikommunismus und Rassismus und erst Recht der Antisemitismus haben sich sowohl innerhalb der USA als auch für Europa enorm verändert. Die rhetorischen Muster werden entsprechend heute mit einem angepassten oder veränderten Inhalt gefüllt. Besonders die antisemitischen Redeweisen sind nach der Shoah selbst unter Faschist:innen häufig nur verschleierter und kodifizierter einsetzbar als noch in den 1940ern. 

Löwenthals und Gutermans Analyse zeigt, was die gesellschaftlichen und psychologischen Ursachen für bestimmte Denkweisen und ihren Erfolg sind. In dieser Hinsicht sind ihre zentralen analytischen Einsichten bedingt aktualisierbar, wenn man sie abhängig vom Material neu justiert. Denn die Ausgangsbeobachtung von Falsche Propheten geht von der Moderne als einer Krisenerfahrung aus, die sich in abstrakter Form leicht wiederfinden lässt, aber in ihrer konkreten Ausprägung einen Zeitkern hat: »Bei der Untersuchung des Phänomens der Agitation stellt sich also jetzt die Frage: handelt es sich hier um bloß flüchtige, gehaltlose und rein zufällige Emotionen, die vom Agitator zu echten Beschwerden aufgebauscht werden, oder stellen sie selbst eine in der Sozialstruktur verwurzelte Konstante dar? Die Antwort ist klar: Diese Gefühle können weder als willkürlich noch als gekünstelt ignoriert werden, sie sind grundlegend für die moderne Gesellschaft. Mißtrauen, Abhängigkeit, Ausgeschlossensein und Enttäuschung vermischen sich zu einem Grundzustand des modernen Lebens: der Malaise, des Unbehagens.« 

Diese Krisenerfahrung ist unter anderem eine Reaktion auf Veränderungen in der Arbeits- und Produktionsweise, Veränderungen im Nationalstaatsgefüge und der damit einhergehenden ökonomischen Unsicherheit. Das Unbehagen, das aus dieser Krisenerfahrung resultiert, ist für sich verständlich. Es ist »Ursache und Keimboden der Agitation«. Das Problem ist die jeweilige Reaktion darauf. Hier kommt zum Vorschein, was Löwenthal als »umgekehrte Psychoanalyse« bezeichnet: Anstatt die verdrängten Ängste und die Ursachen des Unbehagens freizulegen, wird das Unbehagen in der faschistischen Agitation verstärkt und die Verunsicherung der Menschen perpetuiert. 

Löwenthal und Guterman nähern sich dem Material mit psychoanalytischen Techniken und Interpretationsmustern. Um die Rhetoriken und Absichten der Agitation freizulegen, beschreiben sie mit dieser Methode die Themen der faschistischen Agitation: Erstens »wirtschaftliche Beschwerden« wie Bedrohung durch Fremde, durch Ausländer auf dem Arbeitsmarkt; zweitens »politische Beschwerden«, etwa die Bedrohung der nationalen Unabhängigkeit durch internationale Beziehungen und Gemeinschaft; drittens die Bedrohung durch »kulturelle Beschwerden«. Als Beispiel dafür dient Hollywood, das in den 1930ern und 1940ern einen enormen medialen Sprung macht und das von »Russian Jewish Communists« bestimmt wäre, um ihre materialistische Ideologie zu verbreiten. Dabei »identifiziert [der Agitator] Juden und Kommunisten« und findet damit den »einen, unversöhnlichen Gegner«. Das vierte und letzte Thema bildet die Bedrohung durch einen Verfall der Moral. Der Staat sei korrupt, die Bankiers seien die eigentlichen Herrscher, die christliche Kirche würde verdrängt werden: »Jedwede Organisation, die den Zielen des Agitators entgegensteht, bezieht er in die Verschwörung ein. Sie versucht, ›den amerikanischen Lebensstil zu zerstören‹, und er ruft alle Christen auf, zusammenzuhalten, weil eine Verschwörung im Gange sei, ›um die Kirche zu ruinieren‹.« Die Hauptkategorien der faschistischen Agitation sind »Unzufriedenheit, der Gegner, die Bewegung, der ›Führer‹.« Die faschistische Agitation liefert keine Antworten, »nirgends kann [der Sozialforscher] eine deutlich definierte Ursache entdecken, unter der das Publikum des Agitators offensichtlich leidet.« Stattdessen setzen sie auf gesellschaftliche Frustration – wirtschaftliche, politische, kulturelle, moralische Beschwerden – und bieten keine Antwort auf »die unmittelbaren Manifestationen gesellschaftlichen Unbehagens«. 

Es fällt nicht schwer, diese allgemeinen Kategorien auf heutige Phänomene zu übertragen. Denn es finden sich alle gängigen Strukturen, die auch aus der aktuellen Forschung zu Verschwörungsideologien bekannt sind: Die Welt wird als zu komplex und feindlich wahrgenommen. Etwas vermeintlich Eigenes, meist als nationale oder ethnische Identität bestimmt, wird durch irgendwie geartetes Fremdes – »die Ausländer«, »die Juden« – in seiner Existenz bedroht. Daher bedarf es eines Sündenbocks. Auch hier finden sich alle wahnhaften und für das 20. Jahrhundert typischen Vorstellungen von den gleichermaßen kapitalistischen wie kommunistischen Juden, die als der größte Feind ausgemacht werden. Die typische Artikulation der faschistischen Agitation ist das Ressentiment, der Feind sind vornehmlich Jüd:innen und Kommunist:innen oder bevorzugt beides in einer Person. In der zweiten These der Elemente des Antisemitismus aus der Dialektik der Aufklärung, an der Löwenthal als Autor beteiligt war, lautet diese Einsicht verdichtet: »Das Hirngespinst von der Verschwörung lüsterner jüdischer Bankiers, die den Bolschewismus finanzieren, steht als Zeichen eingeborener Ohnmacht […]«.  

Freilich müssen die abstrakten Kategorien als bedrohlich wahrgenommenen in dem Kontext betrachtet werden, in dem sie artikuliert und wie sie dabei wirkmächtig werden. Durch die veränderte mediale Öffentlichkeit gegenüber den 1940ern erfahren diese vermeintlichen Bedrohungen sowohl eine andere Quantität als auch Qualität. Gerade am Beispiel der Coronaleugner:innen wird deutlich: Es bedarf nur eines unbestimmten Unbehagens an politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, um diese als Bedrohung wahrzunehmen. Auch das, was in den 1940ern als Gerücht oder schlicht Falschmeldung noch in der medialen Verbreitung beschränkt war, kennt heute als Fake News keine Grenzen.  

Zudem kann Falsche Propheten bei der Unterscheidung zwischen den »Anhängern« und dem »Selbstporträt des Agitators« als Ausgangspunkt dienen. Während jedoch Löwenthal und Guterman ihre Beschreibung der Anhänger:innen lediglich aus den imaginierten Adressat:innen der Agitator:innen als u.a. »einfach Leute« gewinnen, können wir beispielsweise in einer Vielzahl von Telegram-Kanälen und -Gruppen die tatsächliche Zusammensetzung der Anhänger:innen von Hildmann und Ballweg analysieren. Ebenso bei denjenigen, die mehr oder weniger gierig Falschmeldungen glauben, und denjenigen, die sie eher aus politischem Kalkül verbreiten, finden wir zahlreiche Nuancen, die auf die Kategorien der jeweiligen Beschwerden nur sehr holzschnittartig übertragbar sind. Zwischen der Rede von einem Hollywood, das von »Russian Jewish Communists« kontrolliert werde, und dem Phantasma einer Neuen Weltordnung oder der Instrumentalisierung von Künstler:innen und Clubs liegen Unterschiede. Sie unter »kulturelle Beschwerden« zu subsumieren, mag mit Verweis auf Löwenthal und Guterman gelingen, aber mehr nicht. 

Die Redeweise der faschistischen Agitation besteht darin, vermeintliche Eliten zu identifizieren, zu behaupten, die Dinge beim Namen nennen, Alles-in-einen-Topf-Werfen, dunkle Andeutungen zu äußern, die dem Publikum genug Raum für ihre jeweilige Projektion geben: »Ihre Tätigkeit ist durch psychologische Manipulation gekennzeichnet: Sie spielen mit den vagen Ängsten«. Dabei appelliert der Agitator an die »Gefühle der Zuhörerschaft, in denen sich ihr Unbehagen manifestiert«: »Er kristallisiert und festigt diese Gefühle und verzerrt die objektive Situation. Diese Charakterisierung der Redeweise ist denkbar vage und scheint sich auf viele populistische Rhetoriken übertragen zu lassen. Die Differenzierung muss also mit Blick auf die Inhalte vorgenommen werden. Denn in den Themen, die sich auf Unzufriedenheit beziehen, wird das vage, unartikulierte Mißtrauen der Zuhörer stereotyp auf einen ewigen Betrug abgelenkt; ihr Gefühl, ausgeliefert zu sein, wird dazu benutzt, den Glauben zu nähren, daß sie das Objekt einer permanenten Verschwörung seien; dem, der sich ausgeschlossen fühlt, werden Bilder von verbotenen Früchten gezeigt. Die Enttäuschung dieser Leute wird verdreht in die volle Lossagung von Werten und Idealen. Ihre Angst wird einmal beschwichtigt, ein andermal in eine ständige Erwartung des apokalyptischen Untergangs übersteigert.« Die »umgekehrte Psychoanalyse« hat kein Interesse an der Lösung. Je mehr das unbestimmte Unbehagen verstärkt wird, desto leichter lässt es sich auf Feinde als einfache Antwort umleiten. Verwischt man also historische Differenzen, wenn man dabei Analogien zu heutigen faschistischen Agitator:innen und verschwörungsideologischen Phänomenen zieht? 

 

Gegenwart der faschistischen Agitation 

 

In der Jungle World betonte Alex Struwe im Februar 2021 den zentralen Anspruch Löwenthals: Es gehe ihm um eine entfaltete Gesellschaftstheorie. Daher ließe Falsche Propheten »sich weder als Klassiker musealisieren noch einfach aktualisieren«. Dieses Urteil erfasst differenzierter als alle anderen oben zitierten Stimmen des Feuilletons, was an Falsche Propheten nun aktuell ist und was nicht: Es ist kein Buch über Trump, nur weil sich für viele Leser:innen eine Ähnlichkeit aufdrängt. Es ist zwar leider auch kein Buch, das eine grundsätzliche Theorie der Gesellschaft entfaltet. Aber es erinnert an diesen großen Anspruch. Die faschistische Agitation ist ein besonderes Phänomen und unterscheidet sich in ihrer Ausprägung sowohl national als auch historisch. Aber die »gesellschaftliche Grundlage der Agitation«, die Löwenthal und Guterman identifizieren, verweist auf grundsätzliche Brüche in modernen Gesellschaften, die in ihren Produktions- und Lebensweisen bedingt sind. Diese lassen sich aber nur anhand der Einzelphänomene – gewissermaßen als Bruchstücke –, die sie hervorbringen, analysieren und kritisieren. 

Lars Rensmann versuchte dem in dem Artikel Leo Lowenthal’s Critical Theory of Populism and the Crisis of Liberal Democracy gerecht zu werden und ausgehend von Falsche Propheten eine Theorie des gegenwärtigen Autoritarismus und Populismus in der Krise der liberalen Demokratie zu entwickeln. Nach Rensmann zeige die Studie von Löwenthal und Guterman, wie die sozialen und psychologischen Ängste adressiert und emotionalisiert werden. Außerdem zeigt das Verhältnis zwischen autoritärem Populismus und Ökonomie, dass der Spätkapitalismus und die enorme Ungleichheit in der Verteilung von Ressourcen zu Unverständnis und begründeten rationalen Ängsten führen, die aber mit irrationalen Erklärungen und Vereinfachungen für die rechte Ideologie gebraucht werden. Insofern ist diese Studie von Löwenthal und Guterman wenn nicht zeitlos, so doch für unsere Gegenwart erkenntnisreich. 

Wenn man fragt, wo Falsche Propheten zwischen Klassiker und Aktualität changiert, sind dabei zwei Aspekte relevant: Das abstrakte Unbehagen und deren konkrete Ursachen. Die Ausgangsbeobachtung – die Malaise, das Unbehagen an der Moderne – scheint von faszinierender Aktualität zu sein. Das ist jedoch tückisch, denn die Krisenerfahrung um 1940 – während des zweiten Weltkrieges und für die USA nach der Depression – ist eine grundsätzlich andere als die heutige nach Ende des Kalten Krieges, mit ihren asymmetrischen Kriegen und eine sogenannte digitale Revolution später. Doch die Themenpalette und Rhetoriken der autoritären Demagog:innen und der Verschwörungsideologien, vor allem deren Antisemitismus, scheinen aktuell zu sein. Zumindest lassen sich die Erkenntnisse der Studie auf andere Beispiele übertragen oder an neuen Beispielen durchexerzieren. Die Frage ist, was damit jeweils gesagt ist – oder wieso man diese Studie dazu bräuchte: als Methode oder als Vorlage zum freien Assoziieren? 

Das große Defizit der Studie ist, dass sie gegen die faschistische Agitation keine konkreten Antworten und kein Antidot liefert. Das ist nicht ihr Anspruch und entsprechend kann man das Löwenthal und Guterman nicht vorwerfen. Mit dem Argument der Aktualität wird ein Text bemüht, in dem es zwar viele Berührungspunkte und Fluchtlinien zur Gegenwart gibt. Diese alleine liefern aber noch keine Erklärungen für die jeweiligen konkreten Ursachen heutiger Verschwörungsideologien. Die allgemeine Rede von der Malaise erklärt nicht die konkreten Bedingungen und Ursachen von QAnon oder dem Querdenker:innen-Milieu. Dass in Krisenzeiten Menschen für »psychologische Manipulationen empfänglich sein könnten«, ist eine abstrakte Erklärung, aber kein Gegenmittel zu den Manipulationen und deren Manifestationen. Die Mitte-Studien bzw. die Studien zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit liefern in vielerlei Hinsicht ähnliche Erkenntnisse mit aktuellem Material. Der Studies in Prejudice Series fällt dabei allgemein eine Pionierrolle zu, der Studie zum Autoritären Charakter und den Falschen Propheten im Besonderen. 

Wenn es jenseits des Mangels an konkreten Antworten eine unbedingte Aktualität der Studie gibt, so bleibt es der von Struwe betonte grundsätzliche Anspruch der Kritischen Theorie: Bausteine zu einer Theorie der Gesellschaft zu liefern, ohne eine solche Theorie bereits vollends entfalten zu können. Löwenthals bündige Definition der Kritischen Theorie als »Anzeige und Charakterisierung einer infamen Welt« bleibt selbst zu leisten, indem die ganz unmittelbaren Phänomene der infamen Welt erkannt und beschrieben werden, beispielsweise die der faschistischen Propaganda. Bloß in der Analogienbildung von historischen und gegenwärtigen Phänomenen ist diese Theorie nicht zu finden. Die Frage, was die Gegenwart vor Löwenthal und Guterman bedeutet, kann durchaus gestellt werden. Um zu einer Erkenntnis zu gelangen, können wir sie uns aber nur selbst beantworten. 

 

Chris W. Wilpert  

Der Autor ist Literaturwissenschaftler und lebt in Berlin.