Geschlechtslose Liebe

Die Abwesenheit der Geschlechterdifferenz in der Polyamorie-Debatte

Es ist schön, wenn Menschen merken, dass sie in viele verliebt sein können und die Liebe, obwohl aufgeteilt unter vielen, nicht weniger wird, sondern sogar wächst.Eine Version dieses Essays ist unter dem Titel »It Ain't Me Babe. Liebe und Geschlechterdifferenz anlässlich der Polyamorie-Debatte« in der Leipziger Zeitschrift Kunst Spektakel Revolution, #3/2013, erschienen. Dass Männer und Frauen, die dem Wunsch nach mehreren PartnerInnen gleichzeitig nachgeben, allerdings unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt werden, war der Ausgangspunkt der Polyamorie-Bewegung, die in den 1990er Jahren in den USA in der queerfeministischen Szene entstand. Der gesellschaftlichen Doppelmoral, nach der nicht-monogam lebende Männer tolle Hechte, Frauen hingegen verdorbene Flittchen seien, hielt 1997 das Kult-Buch der Bewegung, The Ethical Slut von Dossie Easton und Janet W. Hardy (auf Deutsch Schlampen mit Moral, 2014), eine Umkehrung entgegen. Aus dem Schimpfwort wurde die Selbstbezeichnung und dem Vorwurf der Unmoral begegneten die Autorinnen mit einem Katalog verantwortlichen Handelns in offenen, nicht-monogamen Beziehungen. Darin wurden alle Themen der entstehenden Polyamorie-Bewegung abgehandelt: Offenheit gegenüber allen beteiligten PartnerInnen, Regeln des Flirtens, Respekt individueller Grenzen beim Sex, Regeln für Sexparties und Gruppensex, Umgang mit Eifersucht, Verhandlung und Einvernehmen bei der PartnerInnenwahl, Sexualerziehung von Kindern, Zusammenziehen und Trennungen. Wichtig war schon in diesem Buch das Mantra der Poly-Bewegung: Erlaubt ist, was gefällt, so lange alle zustimmen. Die Kernregel lautet: Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation.

Mittlerweile ist Polyamorie aus einer Praxis explizit feministischer Subkulturen zu einem in der gesetzten Presse verhandelten Thema geworden, mit dem LeserInnen der Bravo genauso wie jene der Zeit vertraut sind. Die in den 2000er Jahren gewachsene Szene, organisiert in Stammtischen und Web-Foren, wird kulturindustriell gespiegelt: Zwar hat das US-amerikanische Network Showtime die Reality-TV-Serie Polyamory vor ein paar Jahren auf Eis gelegt, aber die ebenfalls von Showtime produzierte Serie Shameless, die viele Themen der Polys aufgreift, ist bereits bei der siebenten Staffel angelangt. Mit der Diffusion der Polyamorie-Themen in den Mainstream wurde aus einer feministischen Bewegung ein vorgeblich geschlechtsneutrales Beziehungskonzept, das schließlich auch von der Linken adoptiert wurde. Die einschlägigen Publikationen in Deutschland sind das Bändchen Polyamory von Thomas Schroedter und Christina Vetter und das Lob der offenen Beziehung von Oliver Schott, die beide 2010 erschienen sind. In einer launigen Rezension in der Konkret bezeichnete Iris Dankemeyer die beiden Bücher damals als »Ratgeberliteratur«, kritisierte ihren Glauben an kommunikative Vernunft und Organisationsfähigkeit, ihren akademischen Duktus sowie ihre Loslösung vom feministischen Diskurs und ihre Ignoranz gegenüber der Geschlechterdifferenz. Einer der angegriffenen Autoren, Oliver Schott, verteidigte sich in einer 19-seitigen Abhandlung, äußerte darin allerdings kein Wort zum Vorwurf der Geschlechtsblindheit. Dankemeyer hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Auf den Gedanken, dass die Organisation der Geschlechter asymmetrisch ist, zum Nachteil der Frauen funktioniert und vielleicht die Liebe selbst, mono oder poly, ein Gegenstand der Kritik sein könnte, kommt im Poly-Zusammenhang offenbar kaum jemand.

Integrierbare und gefährliche Triebe

Ein Blick in die Geschichte der Geschlechtscharaktere erinnert daran, dass die Liebe als Gefühl, entstanden im 18. Jahrhundert gemeinsam mit der bürgerlichen Gesellschaft, keineswegs denkbar ist ohne die Geschlechterdifferenz. Während der Mann im Zeitalter der Aufklärung durch den Gebrauch von Vernunft und Verstand zum Mensch wurde, bewies sich die Menschwerdung des Weibes auf einem anderen Gebiet: ihrer Sexualmoral. Mit der restriktiven Unterdrückung ihres Verstandes und der Disziplinierung ihres Körpers wurde die Frau Mensch als Gattungswesen, sie wurde le sexe, das Geschlecht überhaupt. Man könnte sagen, die bürgerliche Gesellschaft brachte nicht zwei Geschlechter, sondern bloß eines hervor (die Gleichung Mann = Mensch wird erst Ende des 19. Jahrhunderts brüchig, womit dann auch Männer ein Geschlecht bekamen, aber trotzdem dem allgemeinen Menschen enger verbunden blieben als die Frau). Die Zurichtung der Frau zum Gattungswesen machte zwar die Liebe zu etwas, das eng mit der Frau verknüpft wurde, aber das Weib sollte weniger selbst lieben als geliebt werden. Die geforderte Passivität in Liebesdingen machte aus der Frau bloß den Gegenstand leidenschaftlicher Zuneigung, nicht die Akteurin. Die aktiven, drängenden Helden der großen, passionierten Liebesromane und -dramen des 18. Jahrhunderts sind Männer, die zweifelnden, sich hingebenden Rollen spielen die Frauen. Das geschlechtliche Prinzip war denen zugewiesen, die weiblich sein sollten, die Liebe hingegen war eine Aktivität des Mannes. Dazu gedacht, das Geschlecht an sich selbst zu überwinden, wie man etwa an einer vielsagenden Äußerung Hegels ablesen kann: Der die Kraft der abstrakten Allgemeinheit besitzende Mann, so Hegel über die Ehe, »erkauft sich dadurch das Recht der Begierde und erhält sich zugleich die Freiheit von derselben.«

Während das körperliche Begehren der Frau im aufklärerischen Universum schlicht nicht zu existieren hatte, wurde die Sexualität des Mannes zwar ebenfalls unterdrückt, aber sie blieb thematisierbar. So ist beispielsweise die Erziehung des Zöglings Émile in Jean-Jacques Rousseaus Epoche machendem gleichnamigen Roman ohne das Begehren überhaupt nicht denkbar. Wenn die angeblich leidenschaftslose Kindheit des Knaben Émile zu Ende geht, markiert die Pubertät als »zweite Geburt« den Eintritt in die Gesellschaft, die erst den ganzen Komplex von Leidenschaft und Liebe hervorbringt: »Jetzt erst wird der Mann zum wirklichen Leben geboren, und nichts Menschliches ist ihm fremd«. Während Rousseau und viele andere aufklärerische Schriften sich für die weibliche Pubertät nicht interessierten, ist das Begehren des jungen Mannes ein viel diskutiertes Thema, denn nur derjenige, der gelernt hat zu begehren und zu lieben, eignet sich zum Staatsbürger und vollwertigen Mitglied der Gesellschaft. Sinnliche Sexualität und ziellose Liebe können dabei durchaus gefährlich werden, wie Goethe im Werther vorführte, aber die von Émiles Erzieher umsichtig angeleitete Liebe wird zu »Regel und Zügel« des Triebes, Quelle des Glücks und der Weisheit. Die durch die Vernunft gezügelten Leidenschaften des Mannes sind dabei gleichzeitig Voraussetzung der Vernunft und jener Antrieb, dessen sich die Erziehung zu Vernunft und Tugend zu bedienen hat. Die allgemeine Rede von der Sexualunterdrückung des Bürgers stimmt nur zur Hälfte: Der rigiden Kontrolle der Sexualität der Frauen steht die Indienstnahme des männlichen Triebes gegenüber. Nicht die Frau »repräsentiert« den »Trieb« und der Mann »die Vernunft«, sondern werdende Frauen und Männer unterscheiden sich im Ergebnis der Indienstnahme des Triebes. Die einen können lieben, die anderen werden geliebt. Dem mensch-männlichen Trieb, integriert für das Ganze, kann augenzwinkernd begegnet werden, der weibliche hat keine Existenzberechtigung, denn die Frau soll sich zum moralisch einwandfreien Objekt der Liebe zugerichtet haben, auf das sich das männliche Begehren gefahrlos richten kann. Die von den ethical Sluts zurückgewiesene Doppelmoral gegenüber weiblicher und männlicher Sexualität nahm in der Genese des vernünftigen Bürgers ihren Ausgang.

Liebe und Verlust des weiblichen Ichs

Wenn Männer und Frauen lieben, wusste man im 18. Jahrhundert, hat das unterschiedliche Bedeutungen. Die Willenskraft des Mannes geht aus der Konstellation von Begehren, Hingabe und Liebe gestärkt hervor, der Preis für die Hingabe der Frau ist die Empfindung der »Öde in sich«, wie Charlotte von Stein 1797 an Charlotte Schiller schrieb. Charlotte von Stein dachte in diesem Brief über die Lüge der spontanen Natürlichkeit der Muttergefühle nach, da das Weib hinter dem eigenen Kind noch mehr verschwindet als hinter dem Ehemann. Andere Frauen beklagen zwar die Geschlechterrollen, lehnen sich aber nicht gegen sie auf. Für die Bürde der Weiblichkeit, so die Schriftstellerin Sophie La Roche 1783, entschädige alleine die »Süße der Verbindungen der Liebe«, die in den Familien zu finden sei. Die Entschädigung kann nicht besonders groß gewesen sein, aber stark genug, um die Frauen bei der Stange zu halten. Zu dem Gefühl der Leere kam die Unschärfe des eigenen Selbst hinzu, worüber auch ein männlicher Schriftsteller wie Rousseau Bescheid wissen konnte. In seinem Liebesroman Julie oder Die neue Héloïse ließ er den Gutsbesitzer Wolmar über seine Gatting Julie sagen: »Ein Schleier von Verständigkeit und Sittsamkeit umhüllt ihr Herz so dicht, daß es keinem menschlichen Auge, nicht einmal ihrem eigenen, möglich ist, hindurchzudringen«. Julie kennt sich nicht, weiß nichts von sich, besteht nur aus ihrer Rolle. Die Liebe als Regel und Zügel des Triebes macht aus dem Mann den Bürger und verlangt der Frau das Opfer des ihr versagten Subjektstatus’ ab.

Trifft die Situation der Frauen des späten 18. Jahrhunderts noch immer zu? Haben Frauen nicht die Gleichstellung errungen, sind nicht so viele Fortschritte erzielt worden, dass von einer Angleichung der Geschlechter gesprochen werden muss? Fraglos hat sich die rigide Sexualmoral für Männer als auch für Frauen gelockert, haben sich die Ausgestaltungen der Rollen und Geschlechterkonstellationen vervielfältigt. Aber die Grundstruktur der Geschlechter in Sachen Liebe ist immer noch Gegenstand feministischer Kritik. So charakterisierte Barbara Duden 1977 den weiblichen Geschlechtscharakter als Resultat der »psychischen Zurichtung als eine Person ohne Ich«. Im selben Jahr skizzierte Germaine Greer die Tragödie der Weiblichkeit als Verstümmelung ihrer Liebesfähigkeit: »Frauen sind unfähig zur Liebe, weil sie, infolge ihres unzureichenden Narzissmus, sich nicht am Anblick ihres eigenen Geschlechts erfreuen.« Die Mailänder Feministinnen rund um den Frauenbuchladen Diotima versuchten dem Mangel an stärkender Bezugnahme der Frauen unter- und aufeinander mit dem Konzept des affidamento, des weiblichen Empowerments auf Grundlage gegenseitigen Vertrauens, zu begegnen. Duden, Greer und die Frauen von Diotima hatten die amerikanische und europäische Mittelklasse der 1960er, 1970er und 1980er Jahre vor Augen. Aber auch ein Blick auf spätere Veröffentlichungen zeigt, dass sich die Geschlechterrollen, wie sie mit der bürgerlichen Gesellschaft entstanden, nicht aufgelöst haben. 1990 untersuchte die amerikanische Psychoanalytikerin Jessica Benjamin in Bonds of Love (dt. Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht) die psychosozialen Mechanismen männlicher Überlegenheit, die sich zuvörderst in der Liebe zwischen den Geschlechtern und der Genese der Liebesfähigkeit herstellt. Und in den 2000er Jahren beobachtete die israelische Soziologin Eva Illouz in ihren Arbeiten über Liebe und Konsumkultur einen Verlust der Fähigkeit sich einzulassen im allgemeinen und ein deutliches Ungleichgewicht der Geschlechter auf dem Liebesmarkt im Besonderen. Während Männer einem »Überangebot« gegenüberstehen, haben Frauen mit einem »Knappheitsangebot« zu kämpfen. Die geschlechtsspezifische Asymmetrie in heterosexuellen Liebesbeziehungen, was Erwartungen als auch handfeste finanzielle Abhängigkeiten betrifft, ist nicht verschwunden. Nach wie vor sehnt sie sich nach der perfekten Symbiose und er nach einer Bindung, die seine Unabhängigkeit nicht gefährdet. In Die neue Liebesordnung führt Illouz 2013 den Erfolg des Bestseller Shades of Grey auf seinen Charakter eines symbolischen Lösungsangebots für den Konflikt zwischen klassischen Wünschen und schwankenden traditionellen Formen zurück: Die Destabilisierung der Geschlechterrollen reflektierend, bietet der Roman trotz dieser scheinbar verschwimmenden Geschlechtergrenzen die Möglichkeit, entlang »althergebrachter, sehr traditioneller Geschlechteridentitäten«, wie sie im vertraglich abgesicherten, sadomasochistischen Spiel der ProtagonistInnen aufgerufen werden, zu phantasieren. Selbst mitten in der scheinbaren Auflösung des Plots eines herkömmlichen rosaroten, blumigen Liebesromans bleiben so die Geschlechterrollen des dominierenden Mannes und der hingegebenen Frau im Liebesspiel erhalten. Auch der männliche Protagonist gibt sich der Lust hin, aber seine Passivität ist nicht mit der permanent präsenten Drohung des Verlusts souveräner Selbstbeherrschung verbunden. Der weiblichen Protagonistin gelingt als Ich-Erzählerin des Romans die Linderung einer Spaltung, die den realen Frauen immer schmerzhaft gegenwärtig bleibt, nämlich der Abgrund zwischen der Selbstbehauptung als Subjekt und der Rolle als geliebtes Wesen.

Von einer grundsätzlichen Aufweichung der Geschlechterdifferenz in der Liebe kann also auch nach einem nur kurzen Ausflug in die kulturellen Repräsentanzen des Geschlechterverhältnisses keine Rede sein. Die Differenz kommt dabei nicht aufgrund irgendeiner unabänderlichen Essenz zustande, sondern ist Ergebnis der psychischen und körperlichen Zurichtung, mit der sich die Geschlechtscharaktere reproduzieren.

Konzept Polyamorie

In einer aktuellen Studie zu Subjektivierung in Mehrfachpartnerschaften stellt die Soziologin Paula-Irene Villa fest, dass in polyamoren Beziehungskonstellationen »fixe Vorstellungen von vergeschlechtlichten Bedürfnissen oder Geschlechterrollen« nicht zu finden seien. Ganz traut die Autorin der Studie den Aussagen der von ihr interviewten Personen in polyamoren Beziehungen allerdings nicht: »Vordergründig geben sich Polyviduen als geschlechtslose Verhandlungspartner*innen.« Jede Recherche bestätigt das von Villa erhobene Selbstbild der Polyamorie-Bewegung, in deren Büchern und Chats das Wort »Geschlecht« nicht einmal mehr auftaucht, ganz so, als hätten die erweiterten und modifizierten Formen der Liebe die Geschlechterrollen aufgelöst. Was in einer lesbischen oder schwulen Subkultur eventuell noch Sinn macht, erscheint in bi- und heterosexuellen polyamoren Beziehungen jedoch ziemlich unwahrscheinlich. Trotzdem findet die Selbstverständigung der Szene ohne Bezug auf das Geschlecht statt, wie sie im Allgemeinen von alltagspraktischen Fragen abgehoben wirkt. Geschlechtsspezifische Arbeitsteilung betreffend Hausarbeit oder Zuständigkeiten für Kindererziehung sind kein Thema der Poly-Szene, geschweige denn Fragen wie jene, wer den Mietvertrag unterzeichnet, das Haus besitzt oder in Krankheitsfällen zuständig ist bzw. sein darf. Generell macht die Poly-Szene mehrheitlich den Eindruck einer sonnigen, problembefreiten Zone, in der Unsicherheiten, schwankende Selbstwertgefühle, Selbstaufgabe oder Zweifel, die mit Liebesbeziehungen genauso einhergehen wie Freude, sexuelle Erfüllung und Genuss wenig vorzukommen scheinen, erst Recht nicht verknüpft mit der Geschlechterdifferenz. Das negative Gefühl, das hingegen permanent benannt wird, ist die Eifersucht, aber sie gilt als überwindbar, Gegenstand der Bearbeitung in Gesprächen, Seminaren oder Selbsthilfe-Ratgebern. Im vergangenen Jahr wurde zwar das Problem des Missbrauchs in Poly-Strukturen verstärkt diskutiert, aber gemäß der »queeren Überzeugung, dass auch Frauen Männer missbrauchen können«, wie eine amerikanische Bloggerin ihrem Beitrag zum Thema voranstellt, habe emotionaler oder gar sexueller Missbrauch nichts mit dem Geschlecht zu tun. Auch harmlosere Fragen wie wer sich wann in den kommunikativ aufwändigen Beziehungsstrukturen um wen kümmert, verantwortlich fühlt, Zeit und emotionale Ressourcen teilt, scheinen in der Poly-Szene stets geschlechtsspezifisch ausgeglichen beantwortet zu werden. Liebe kennt kein Geschlecht – Polyamory ist der einführende Artikel auf einer deutschsprachigen Webseite der Bisexualitäts-Community/Bi-Szene übertitelt. Dabei handelt es sich nicht nur um einen Wunsch, eher eine Behauptung, als wäre die Gleichheit der Geschlechter nicht nur potentiell, sondern tatsächlich bereits Realität.

Kann es sein, dass die Geschlechterdifferenz in Poly-Beziehungen faktisch aufgehoben ist? Kennt die Polyamorie wirklich kein Geschlecht? Etliche Debatten in und über die Poly-Szene lassen da Zweifel aufkommen. Eine weitere amerikanische Autorin macht ihrem Ärger über die mediale Darstellung von Polyamorie Luft, in der typischerweise ein Hetero-Paar ihr Beziehungsleben durch weitere Nebenbeziehungen interessanter macht. Dabei behalten diese Nebenbeziehungen ganz bestimmte Formen: »You don't get Bob dating Dave, or Sue dating Tim&Jim&John while Bob stays home with a movie. Because whoa! That’s just going too far. I mean, playing around with women is one thing, but if you bring a second man into the picture, don’t the two guys need to, like, duke it out?« Die Autorin beklagt eine entstandene »polynormativity«, innerhalb derer die »one-penis-per-party« -Regel nur selten verletzt wird. Folgt man einigen Blogs, handelt es sich bei dieser Vorstellung, nach der »richtiger« Sex nur mit einem einzigen Penis geschieht, nicht nur um mediale Repräsentation, sondern auch um Wirklichkeit in den bi- und heterosexuellen Teilen der Poly-Szene. Eine Bloggerin aus Österreich beschreibt das Szenario zwei Frauen und ein Mann als so häufig, dass die Szene dafür einen eigenen Namen erfunden hat: »Wenn ein Hetero-Paar bestehend aus einer Bi-Frau und einem Hetero-Mann gemeinsam eine weitere Bi-Frau kennenlernen will, die mit beiden gleichzeitig eine Beziehung anstreben möchte«, wird die gesuchte Bi-Frau als unicorn bezeichnet, das nach ihr suchende Paar als unicorn hunters. Als Fabelwesen steht das Einhorn für Reinheit, Befruchtung und Jungfräulichkeit, in der Darstellung der Bloggerin ist es ein unter mehreren Beispielen, entlang derer sie die »patriarchalen Dynamiken innerhalb der Szene« kritisiert, und dazu rät, ihr besser fern zu bleiben. Zahlreiche andere Blogs vermitteln den Eindruck, dass der Aufforderung zur Auseinandersetzung mit Eifersucht in polyamoren Beziehungskonstruktionen vor allem Frauen folgen oder zumindest ein größeres Bedürfnis verspüren diese Auseinandersetzungen aufzuschreiben. Schließlich wird verständlich, wenn eine Bloggerin aus der deutschsprachigen Linken, von der »männlichen Dominanz, die das Thema Poly umgibt«, spricht. Der »Poly-Macker« ist in den Diskussionen um Polyamorie eine gar nicht so selten anzutreffende Bezeichnung und erinnert sofort an die in der Zweiten Frauenbewegung reflektierten Erfahrungen mit diversen Triebbefreiungsideen der 1960er Jahre, die sich schließlich als wenig vorteilhaft für Frauen herausgestellt haben. Die Geschlechterdifferenz mag in der Poly-Szene zwar kein Thema sein, der Sache nach ist sie jedoch nicht verschwunden.

Kritiker der Konzepte

Nach der Kritik von Iris Dankemeyer in der Konkret 2010 an den deutschsprachigen Polyamorie-Büchern entstand eine kurze Debatte in der deutschsprachigen Linken um das Konzept und seine Voraussetzungen. Als Kritiker der Polyamorie-Bewegung trat dabei der Autor Magnus Klaue auf, der 2011 in Berlin bei einer Podiumsdiskussion mit Oliver Schott, dem Verfasser des erwähnten Buches Lob der offenen Beziehung, seine Ablehnung der betriebsamen Verhandlungsmoral der Polys, ihre Verwandlung von Liebe in Sozialkompetenz, formulierte. Hinter der soziologisch-technischen Sprache der Polys, so Klaue, verschwindet »das Sprachlose, Dunkle, Unbearbeitete, das Sexualität in der gegenwärtigen Gesellschaft notwendig ausmacht«, verdinglicht in Identitätskonzepten, wobei die peniblen Normen noch die Rigidität des bürgerlichen Vertragsmodells der Ehe überholten. Liest man die Chats der Community, trifft Klaues Diagnose eines Sprachverlusts zu. In den Selbstbeschreibungen scheinen die individuellen Liebes- und Beziehungsgeschichten hinter der Sorge um das zutreffende Label zu verschwinden: »How to know? Polyamorous or non-monogamous?« oder »Relationship Anarchy vs Nonhierarchical Polyamory?« Die Zweifel an der richtigen Identitätsbezeichnung, die Suche nach der passenden Überschrift unter der die eigene Liebespraxis einsortiert werden kann, ist der Drang und Zwang sich bestimmten Markierungen zuzuordnen, wie er sich in schwächerer Form auch in den Selbstdarstellungen von, beispielsweise, Mitgliedern eines Vereins für Modelleisenbahnbau äußert. Allerdings ist die Zuordnung auf dem Gebiet der Sexualität noch viel unausweichlicher, denn hier handelt es sich, wie Foucault beobachtete, um die »Wahrheit« der Person, um das Geheimnis, das auffordert unablässig von ihm zu sprechen. Das Sprechen findet offenbar in endlos sich verzweigenden Definitionsketten statt. Das ist ziemlich ermüdend und so wird auf einem Blog ausgerufen: »So, fuck identity. I don't care what you call yourself. […] A person's actual desires, feelings, and behaviors are what matter. Not their label.« So zutreffend Klaue den Schematismus des Identitäts-Sprechens und die versachlichte Terminologie anprangert, so ähnlich ist er der Poly-Bewegung in einem anderen Punkt, nämlich dem Desinteresse für die Geschlechterdifferenz in der Liebe. Klaue wehrte sich zwar gegen die Vorstellung, man könnte der Erfahrung des permanenten Scheiterns in der Liebe mit einem positiven Beziehungsmodell begegnen, aber auch seine Ausführungen zu Liebes(un)fähigkeit blieben mit großer Selbstverständlichkeit geschlechtsneutral. Damit ist er nicht alleine.

Das Modell für Klaues Haltung, die von einer bestimmten Strömung in der deutschen Linken, die eher Subjektrettung als -kritik betreiben will, geteilt wird, hat vielleicht schon Max Horkheimer 1936 in den Studien über Autorität und Familie geliefert. »Im Gegensatz zum öffentlichen Leben«, setzte Horkheimer dort auseinander, hat »der Mensch in der Familie« einen Ort, »wo die Beziehungen nicht durch den Markt vermittelt sind und sich die Einzelnen nicht als Konkurrenten gegenübersehen.« Er ergänzte, dass dieser Ort die Möglichkeit böte »nicht bloß als Funktion, sondern als Mensch zu wirken«. Allerdings blieb er bei dieser Erkenntnis stehen und vergaß hinzuzufügen, dass das »Wirken als Mensch« im Rahmen der Familie nur dem Mann offensteht, denn Frauen hatten und haben ihre Funktion im familiären Zusammenhang darin, dem Mann sein Wirken als Mensch zu ermöglichen. Den Frauen stehen die Annehmlichkeiten des Wirkens als Mensch in der Familie eher selten zur Verfügung, wie jede Studie über geschlechtsspezifische Arbeitsteilung spätestens ab dem Moment, in dem Frauen Kinder bekommen, zeigt. Die Familie, erklärte Horkheimer, führe »zur Ahnung eines besseren menschlichen Zustandes«, weil in ihr »das Glück der anderen« gewollt sei. Das ist alles richtig, aber es zeugt gleichzeitig von einiger Ignoranz gegenüber der Verteilung zwischen Glück-Spendenden und -Empfangenden, der Auszehrung durch mütterlich-familiärer Fürsorge und der von Charlotte von Stein ausgesprochenen weiblichen »Öde in sich«. Ein befriedigender Fulltime-Job ist Glück-spenden nämlich noch nie gewesen. Diese tendenzielle Verklärung von Liebe und Familie und ihre Loslösung von der Subjektdisziplin zeigte sich auch manchmal beim ansonsten trocken polemisierenden Wolfgang Pohrt, beispielsweise in seinen 1990 erschienenen Essays über den französischen Schriftsteller Balzac. Pohrt hält darin fest: »Eine schwere Erschütterung aber, welche zumindest zeitweilig und manchmal für immer die unter dem Primat der Selbsterhaltung stehende Organisation des bürgerlichen Subjekts zusammenbrechen lässt, ist gerade das Wesen von Lust und Liebe. Niemand, der bei klarem Verstand ist und weiß, wovon er redet, kann sich diese begehrenswerten Dinge wirklich ernsthaft wünschen.« Lust und Liebe beinhalten ein Risiko, die Gefahr den Anforderungen nicht zu entsprechen, träumerisch Herzchen zu malen, statt im Büro zu sitzen. Aber sie kennen eben auch eine vermittelte Vernunft-gemäße Seite, ihre Integration in das aufgeklärte, freie Subjekt. Das einzelne Individuum war nie gleich der unter dem Primat der Selbsterhaltung stehenden Subjektform und mit diesem Bruch haben Autoren wie Rousseau stets kalkuliert. Gerade deswegen soll Rousseaus Émile lieben lernen. Seine Leidenschaften sind, richtig gelenkt, keine Gefährdung des ernsthaften moralischen Staatsbürgers und (geistigen) Arbeiters, die von Émiles späterer Ehefrau Sophie hingegen schon, und zwar so sehr, dass von ihnen nur verschämt die Rede sein kann. Balzac wie Baudelaire »verklären die Leidenschaften und die Entschlußkraft«, unterstrich Walter Benjamin in seiner Studie über Baudelaire und die Moderne (meine Hervorhebung), im Unterschied zur Romantik, der es um »den Verzicht und die Hingabe« geht. Pohrt, der in seinen Texten zu Balzac Benjamins Studie zitierte, übersah geflissentlich, dass Leidenschaft und Entschlusskraft, Passion und Willen in Benjamins Interpretation keinesfalls als scharfer Gegensatz gesetzt werden. Wer über starken Willen verfügt, der Welt die Prämissen der eigenen Selbsterhaltung zu diktieren unternimmt, kennt auch Leidenschaft; und – jedenfalls gültig für das männliche Subjekt – ohne Leidenschaft keine Festigkeit des Willens und kein Primat der Selbsterhaltung. Die tendenzielle Betrachtung von Familie und Liebe als Utopie im Bestehenden, wie sie bei Horkheimer und Jahrzehnte später bei Pohrt und auch bei Klaue anklingt, übersieht die weibliche Position. So entsteht die seltsame Konstellation, dass die BeziehungskonzeptlerInnen der Polyamorie-Bewegung und ihre KritikerInnen etwas Entscheidendes teilen, nämlich das Schweigen von der Geschlechterdifferenz. Die einen sprechen darüber gar nicht erst, die anderen tun so, als gehe es in der nicht-monogamen, heterosexuellen Liebe mit oder ohne queeren Touch um Verhandlungen zwischen zwei und mehr Seiten auf Augenhöhe.

Subsumption des Weiblichen

Die Einordnung des eigenen Liebeslebens unter die Bezeichnung für ein Konzept dient der Selbstvergewisserung und Versicherung, dass die Abweichung von der Norm erlaubt und nicht verwerflich ist. Darin ähnelt der Gebrauch des Wortes »Polyamorie« der Praxis von Selbsthilfegruppen: Wenn es einen Namen gibt und auf öffentlich dokumentierte Bekenntnisse zu Sache und Namen verwiesen werden kann, lassen sich die scheelen Blicke von ArbeitskollegInnen und Familie wenigstens in die Schranken weisen, Pathologisierungen zurückweisen und gesellschaftliche Akzeptanz schaffen. Das kann hilfreich sein. Aber warum kennt die Polyamorie kein Geschlecht? Warum fällt nicht auf, dass eine Übertragung eines Beziehungsmodells aus eher weiblichen, eher lesbischen als hetero- oder bi-Zusammenhängen in den Kontext von mindestens zwei Geschlechtern ein neues Nachdenken über die Geschlechterrollen in der Liebe erfordern würde? In einem deutschsprachigen Blog, der sich kritisch mit Polyamorie befasst, wird ein Befund der Soziologin Angelika Wetterer zitiert, die 2003 etwas sperrig »das Verschwinden der Ungleichheit aus dem zeitgenössischen Differenzwissen« feststellte und damit meinte, dass besonders unter gebildeten Paaren so getan wird, als wäre die gleichberechtigte Beziehung unter autonomen Individuen bereits gegeben. Mit anderen Worten: Liest man die Texte, Blogs und hört Gesprächen zu, die sich um Polyamorie drehen, ist es, als läge die beschworene Dekonstruktion der Geschlechter bereits hinter uns. Diese geschlechtsspezifische Blindheit der Poly-Diskussion erzeugt dann die erstaunliche Situation, dass im Gefolge der Frauen, die auf die Selbstverständlichkeit mehrerer BeziehungspartnerInnen pochen, jede Menge Männer dasselbe »Recht« für sich reklamieren. Polygynie, die Vielehe, bei der ein Mann mehrere Ehefrauen hat, wird plötzlich – verantwortungsvolle Binnen-Kommunikation hin oder her – als Variante von Polyamorie zum emanzipatorischen Konzept geadelt. Weil in der technischen Sprache der Modelle, Konzepte und dem Beharren auf der Gleichheit der VerhandlungspartnerInnen jede qualitative Differenz der Geschlechter gar nicht erst zum Thema werden kann, subsumiert die Polyamorie einmal mehr ungenannt die weibliche Rolle in der Liebe. Auf den Gedanken, dass Lieben und Geliebt-werden, in welcher Spielart auch immer, geschlechtsspezifisch unterschiedliches bedeuten könnte, kam kaum jemand der Beteiligten an der jüngsten Variante der linken Debatte um Liebe, Sexualität und Beziehungsformen. Weder die sozialtechnische Beziehungsarbeit noch die passionierte Leidenschaft oder die Hingabe sind etwas, auf das für Gesellschaftskritik rundweg gesetzt werden kann. Eine Perspektive feministischer Kritik würde derartige Alternativen jedenfalls relativieren.

Karina Korecky

Die Autorin schreibt zu feministischen Themen. Zuletzt: »Der Muttermythos. Die deutsche Öffentlichkeit diskutiert die Studie Regretting Motherhood der israelischen Soziologin Orna Donath«, in Konkret 3/2016. Sie lebt in Jerusalem.

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