Gezündelt

Die wesentlichen Elemente antiziganistischer Ressentiments anhand einer Collage der Berichterstattung des Berliner Tagesspiegels (1)

Wer die Berichterstattung der Berliner Tagespresse »Gezündelt« lautete eine offenherzige Überschrift über einem Kommentar im Tagesspiegel vom 3. Juni 2009, der nur als hetzerisch bezeichnet werden kann. über eine Ereigniskette, zu deren Startpunkt die Präsenz von etwa 40 Roma in einem Kreuzberger Stadtteilpark gemacht wurde, einer kritischen Nachlese unterzieht, stößt auf die Allgegenwart und strukturelle Funktion von Antiziganismus in der Presseberichterstattung. So hat auch die Aktion Sühnezeichen einen »Appell für eine »faire und neutrale« Wahrnehmung von Roma in der Öffentlichkeit durch Medien und Parteien« veröffentlicht. http://www.asfev.de/aktuelles/nachrichten/2009/appell_fuer_eine_faire_und_neutrae_wahrnehmung_von_roma_in_der_oeffentlichkeit_durch_medien_und_parteien/ (14. Juli 2009). Zu detaillierteren Analysen antiziganistischer Presseberichterstattung in Deutschland verweise ich auf die Studien Franz Hamburger (Hrsg.), Kriminalisierung von Minderheiten in den Medien. Fallstudien zum »Zigeuner«-Bild der Tagespresse, in: Schriftenreihe des pädagogischen Instituts der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz 1988; Oliver Tolmein, Die rassende Reporterin, in: konkret. H. 12, 1991, 20–25; Ulrich Wolff, Die Romafrage. Presseberichterstattung und Zigeunerstereotyp, in: Wulf D. Hund, (Hrsg.), Zigeunerbilder. Schnittmuster rassistischer Ideologie, Duisburg 2000, 81–93.

 Der Beginn der Ereigniskette Mitte Mai 2009 lag wohl darin begründet, dass sich AnwohnerInnen und Behörden an der besagten Gruppe von ca. 40 rumänischen Roma, die im Görlitzer Park campierte, störten. Die Polizei kam daraufhin mehrere Tage lang regelmäßig, manchmal stündlich, und häufig nachts in den Park, um Kontrollen der Campierenden durchzuführen. Nach diesen eher unbeachteten Schikanen erhöhte sich die Aufmerksamkeit der »Öffentlichkeit«, als VertreterInnen des Jugendamtes und der Polizei versuchten, unter der Drohung, einige der Kinder der Campierenden wegen »Verwahrlosung« in ihre Obhut zu nehmen, Die antiziganistische Tradition dieser Praxis wird im Fortgang des Artikels noch erläutert. die Gruppe aus dem Park zu vertreiben. AnwohnerInnen und andere benachrichtigte Personen konnten dies verhindern, indem ein Überbrückungsaufenthalt der betroffenen Personen im besetzten Haus Bethanien zur Verfügung gestellt wurde. Im Folgenden gab es zahlreiche Verhandlungen auf verschiedenen behördlichen Ebenen und diverse politische und mediale Interaktionen, während die Betroffenen jeweils von den Orten, an denen sie sich gerade aufhielten, vertrieben wurden: Der Aufenthalt im Bethanien wurde durch eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs beendet, weil Räume mitgenutzt wurden, in die bald eine KiTa einziehen sollte. Aus einer Kirche in Kreuzberg, die von der Gruppe zusammen mit UnterstützerInnen besetzt wurde, wurden die Betroffenen mit rassistischen Sprüchen und einer klar abweisenden Haltung genauso wieder verwiesen, wie zehn Tage später aus dem Heim für AsylbewerberInnen in der Motardstraße. Hier wurde ihnen zwar eine Nothilfezahlung in Höhe von 250 Euro angeboten, im Hintergrund standen aber die Verpflichtung zur Ausreise und die Drohung einer polizeilichen Räumung.

 Der detaillierte Ablauf der Ereignisse selbst soll allerdings in der folgenden Analyse nur am Rande eine Rolle spielen: Der Autor befand sich weder in der Gruppe der UnterstützerInnen, noch ist er selbst direkt von den Geschehnissen Betroffener und sieht sich somit auch nicht in der Position, angemessen berichten zu können. Eine kritische Beschreibung der Ereignisse findet sich auf http://www.netz-gegen-nazis.de/artikel/be-berlin-don-t-be-rom-neunzig-roma-ueberordern-berlin-9022 (21. Juni 2009). Auch eine Bewertung des »Wahrheitsgehalts« der verschiedenen Vorwürfe wie »Verwahrlosung« oder »Diebstahl«, die an einzelne Betroffene, wie an Roma als Gruppe herangetragen wurden, ist aus mindestens zwei Gründen abzulehnen. Zum Ersten ist eine wichtige Voraussetzung für die Analyse des Antiziganismus, ihn nicht mit den vermeintlichen »Eigenschaften« oder »kulturellen Eigenheiten« von Roma in Verbindung zu bringen. Grundsätzlich ist die Verfasstheit der Mehrheitsgesellschaft zu analysieren, um ein Ressentiment zu verstehen. Gerade bei Antiziganismus wird aber häufig versucht, den Hass auf »Zigeuner« mit dem angeblich »devianten Verhalten« von Roma zu erklären. Oft wird dabei einerseits Verständnis für dieses »Verhalten der Roma« geäußert, weil es sich ja durch die Umstände bedinge, genauso häufig ist aber auch Verständnis für die Ablehnung von Roma zu hören, weil »deren Verhalten« ja »wirklich unangenehm« sei. Eine solche Herangehensweise lehne ich ab. Zweitens wird von Seiten organisierter Roma-Verbände seit längerem die Forderung erhoben, mit der unseligen Tradition eines »Schreibens über Roma« zu brechen. Selbst die wohlgefälligsten Studien zur Sozialstruktur, Sprache oder Kultur »der Roma« reproduzieren in den allermeisten Fällen antiziganistische Motive. In einer gesellschaftlichen Situation, in der Äußerungen politischer, kultureller oder literarischer Art von Roma »als Roma« noch marginalisierter sind als Roma selbst; und die Forschung von Nicht-Roma »über Roma« in einer jahrhundertelangen Tradition der Stigmatisierung und der (Re-)Produktion von Stereotypen, inkl. der Beteiligung an Verfolgung und Vernichtung steht, sollte jede gewünschte Unterstützung für Äußerungen von Roma gewährleistet sein. Zugleich verbietet sich jedoch das »Schreiben über Roma«. Gerade weil die beiden genannten Aspekte zusammen gedacht werden können und müssen, ist es für Nicht-Roma jedoch möglich und geboten, Antiziganismus als Problem der Mehrheitsgesellschaft zu begreifen und als solches zu untersuchen. Auf den entstehenden Widerspruch hat Herbert Heuß hingewiesen: »Damit findet sich der Antiziganismusforscher, eingeführt als Teil historischer Antirassismusforschung, unversehens in einer paradoxen Situation, in der sich der moralisch-intellektuelle Antirassist seit jeher befindet: die jeweils diskriminierten Gruppen, gegen die sich Rassismus richtet, entwickeln – unterstützt darin von intellektuellen Antirassisten – eine Minderheitenpolitik, die sich um eine ethnische Identität formiert – und gleichzeitig ist diese ethnische Identität theoretisch nicht positiv zu beschreiben, eben weil die Antworten, die bislang auf die Frage der ethnischen Differenz gegeben wurden, den Weg zur Vernichtung der Minderheiten bereiteten. Der Ausweg aus dieser paradoxen Situation bleibt solange nur Kümmerform von Gesellschaftskritik, solange die antirassistische Ideologie nur als politisch und moralisch korrekt auftritt, aber ohne Analyse der als unveränderbar akzeptierten Gesellschaftsform auszukommen meint«. Heuß, Herbert, Aufklärung oder Mangel an Aufklärung? Über den Umgang mit den Bildern vom »Zigeuner«, in: Engbring-Romang, Udo und Strauß, Daniel (Hrsg.), Aufklärung und Antiziganismus, Seeheim 2003, 11–33, hier 28f.So soll im Folgenden die antiziganistische Berichterstattung der Berliner Zeitung Der Tagesspiegel über die eingangs geschilderten Ereignisse dargestellt und analysiert werden. Der Tagesspiegel war im Übrigen nicht das einzige Blatt, das im Laufe der Berichterstattung antiziganistische Stereotype reproduzierte. Er ist auch nicht das Schlimmste. Er wurde gerade ausgewählt, weil er als liberale und seriöse Zeitung gilt. Um auch die Berichterstattung der Berliner Zeitung, der taz und der B.Z. detailliert zu analysieren, bedürfte es einer weitaus umfassenderen Untersuchung. Allerdings kann zusammenfassend gesagt werden, dass sich alle Zeitungen ungefähr so verhielten, wie es für kritische BeobachterInnen zu erwarten gewesen wäre. Die Berliner Zeitung zeigte sich größtenteils liberal, durchsetzt mit wenigen antiziganistischen Äußerungen, bestand allerdings auf den gesetzlichen Rahmenbedingungen, die einen dauerhaften Aufenthalt unmöglich machen würden. Die taz positionierte sich tendenziell auf der Seite der betroffenen Roma, verfiel aber immer wieder in antiziganistische, meist romantisierende Stereotype. Die B.Z. hetzte von Anfang an gegen »Bettel-Roma« und schürte alle denkbaren antiziganistischen Vorurteile.

 Antiziganismus ist ein Phänomen, das sich seit über 500 Jahren vom Osmanischen Reich bis auf die Britischen Inseln in ähnlichen Grundformen manifestiert. Zentral sind dabei Vorwürfe der »Arbeitsscheu« (aus denen »Betteln«, »Betrug« und »Diebstahl« folgen), des »Nomadentums« (aus dem sich »Heimatlosigkeit«, »Campen«, »Ausweisung« und »Spionage« ableiten) und der »Primitivität« (mit der »ungezügelte Sexualität«, der Fokus auf »Kinder« und »Schmutzigkeit« zusammenhängen). Entgegen dieser Negativbewertungen entstand mit dem Einsetzen der literarischen Romantik das Bild des »freien«, »ungebundenen«, »lebenslustigen« »Zigeuners«, der »am Lagerfeuer« sitzt, »Geige spielt«, »tanzt«, »aus der Hand liest« und einfach »in den Tag hinein lebt«. Diese romantisierenden Bilder stellen allerdings nur die positiv gewendete Kehrseite des gleichen Ressentiments dar. Für eine ausführlichere Kritik des Antiziganismus sei auf den im Mai bei Unrast in Münster erschienenen Sammelband »Antiziganistische Zustände – Zur Kritik eines allgegenwärtigen Ressentiments«, herausgegeben von Markus End, Kathrin Herold und Yvonne Robel, verwiesen.

 Alle diese zentralen Stereotype finden sich wieder in der Berichterstattung des Tagesspiegels. Änneke Winckel isoliert zehn verschiedene Motive und Motivationen für antiziganistische Berichterstattung in den Medien wie »Aberglauben«, »Selbstschuld« und »Kriminalität«, die sich ebenfalls allesamt wiederfinden. Winckel, Antiziganismus, 148ff. An dieser Stelle soll jedoch versucht werden, nicht einfach das Auftauchen von antiziganistischen Stereotypen zu konstatieren, sondern die verschiedenen Strategien und Argumentationsweisen herauszuarbeiten.

Objekte der Sozialtechnologie

Zu Beginn der Berichterstattung versucht Der Tagesspiegel noch, »Neutralität« zu gewährleisten (24. und 25. Mai). Alle folgenden Zitate sind, wenn nicht anders angegeben, aus dem Tagesspiegel; in Klammern jeweils das Erscheinungsdatum. Dabei werden sowohl die Positionen der Behörden, als auch die der betroffenen Roma und der UnterstützerInnen zitiert und kaum explizit Stellung bezogen. Aber richtig gelingen mag bereits das nicht. Die Betroffenen werden von Anfang an hauptsächlich als Objekte und »Problem« dargestellt: »In Kreuzberg spitzt sich ein Streit um knapp 60 aus Rumänien stammende Roma zu« (24. Mai). Eine grüne Jugendstadträtin wird mit den Worten zitiert: »Nach Prüfung der Lage habe man sich entschieden, die Kinder bei der Familie zu belassen« (24. Mai). Das ist eine generöse Geste, ist es doch im allgemeinen üblich, Roma ihre Kinder wegzunehmen und ihnen gleichzeitig vorzuwerfen, »sie« würden »Kinder stehlen«. Dass »Zigeuner« »Kinder stehlen« ist ein jahrhundertealtes Stereotyp, das jedoch offensichtlich jederzeit wieder aktiviert werden kann. So begannen beispielsweise die antiziganistischen Pogrome in Neapel im Mai 2008 mit dem Vorwurf einer italienischen Nicht-Romni, eine Romni habe ihr Kind gestohlen. Zu Italien vgl. den Artikel von Katrin Lange in der Phase 2. 32, 46–48; sowie dies., Die Stille durchbrechen. Antiziganistische Stimmungsmache in Italien und der Widerstand dagegen, in: End u.a., Antiziganistische Zustände, 233–250. Aber das Kindeswohl scheint gefährdet, da »sie« »zwei Wochen ohne Zelte unter freiem Himmel gehaust haben sollen« (24. Mai). Als »Zigeuner« stigmatisierte Gruppen waren schon immer bevorzugtes Objekt sozialtechnologischer Praktiken. Bereits unter Kaiserin Maria Theresia kam es Mitte des 18. Jahrhunderts in Österreich-Ungarn zu Versuchen der Zwangsassimilation. Dabei wurden Familien oder ganze Gruppen in vorbestimmten Dörfern festgesetzt, ihnen wurde verboten eigene Sprachen zu sprechen. Schon damals war ein zentraler Bestandteil dieser Zwangsmaßnahmen die Wegnahme von Kindern unter dem Vorwand, es sei für das Kindeswohl das Beste. Ein weiteres sehr prominentes Beispiel für diese antiziganistische Praxis findet sich in der Schweiz. Dort veranlasste die »Hilfsorganisation« Pro Juventute zwischen 1926 und 1973 mit ihrer Aktion Kinder der Landstrasse, dass Jenischen Sammelbezeichnung für vagierende Arme seit dem 19. Jhdt. aufgrund ihrer »Vagantität« die Kinder weggenommen und diese in speziellen Heimen oder psychatrischen Kliniken untergebracht wurden, wo sie häufig weggesperrt oder pathologisiert wurden. Auch das Wohl der Kinder der in Berlin betroffenen Gruppe von Roma war den Behörden kaum noch der Rede wert, nachdem diese den Görlitzer Park verlassen hatten.

»Fremd und faul«

»Wohin mit den Roma« (25. Mai) fragt sich nun also der Tagesspiegel. Dass »sie« nicht in Berlin bleiben können, scheint klar zu sein, denn »sie« sind »ganz anders«. Vorhandenes »Wissen« dazu wird dank einer begleitenden Reportage aus »der Gegend«, aus der »ein Großteil der Roma, die wochenlang in Berlin für heftigen Streit sorgten«, »stammt« (14. Juni), bestätigt: »Die Roma« sind arm und dabei irgendwie auch recht »fremd«: »Ileana Vasile steckt sich eine Zigarette in die Zahnlücke neben ihrem Goldzahn. Sie ist 50 Jahre alt und Zauberin, [...] hat zehn Kinder und 30 Enkel« wird eine Interviewpartnerin beschrieben. Das Äußere einer jungen Romni ist dem Journalist einige Zeilen wert: »Florentina ist 20, sie trägt Badelatschen, einen roten Rock und ein tief ausgeschnittenes T-Shirt, auf dem »Rabbit« steht. Ihre schwarzen Haare werden von einer weißen Plastikblume zusammengehalten« (14. Juni). Danach werden Gedanken über die Frage ihrer Jungfräulichkeit zitiert, die ihr Bruder anstellt. Ein Bild der jungen Frau rundet diese Männerphantasie ab. Ähnliche Stereotype ruft die Berliner Zeitung vom 11. Juni in einem Artikel über das Putzen von Autoscheiben ab, wenn sie schreibt: »Das Ärgernis ist weiblich, jung, hat lange, schwarz glänzende Haare und trägt einen weit schwingenden Rock, der bis auf die Füße reicht«.

 In der romantischen Variante des Antiziganismus tauchen häufig solche Bilder auf. Sowohl das Bild der »alten hexenartigen Zigeunerin« (»Zahnlücke«, »Zauberin«), als auch das Bild der »jungen erotischen Zigeunerin« à la Carmen sind klassische Bilder eines geschlechtlich konnotierten Philoziganismus. Zu Geschlechterbildern im Antiziganismus siehe Rafaela Eulberg, Doing Gender and Doing Gypsy. Zum Verhältnis der Konstruktion von Geschlecht und Ethnie, in: End u.a.., Antiziganistische Zustände, 41–66.»Roma« sind jedoch nicht einfach nur »anders«, für den Tagesspiegel sind »sie« auch ein »Problem«: »Mitunter fühlen sich Berliner aber von teils aufdringlichen Scheibenputzern genervt« (25. Mai), eine Café-Betreiberin will »mehrfach Roma beim Stehlen erwischt« (27. Mai) haben, »sie« bekommen »Drei Mahlzeiten am Tag, den Rückflug gibt es gratis« (3. Juni) auf »unsere« Kosten. »Ja, die Roma sind frech«, sogar »etwas dreister als deutsche Sozialfälle« (12. Juni).

 Die Vorwürfe des angeblichen »Bettelns« und »Stehlens« von Roma sind ebenfalls traditioneller Bestandteil des antiziganistischen Ressentiments. Nach Wulf D. Hund und Roswitha Scholz Wulf D. Hund, Das Zigeuner-Gen. Rassistische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ders. (Hrsg.), Zigeuner: Geschichte und Struktur einer rassistischen Konstruktion, Duisburg 1996, 11–35 und Roswitha Scholz, Antiziganismus und Ausnahmezustand: Der »Zigeuner« in der Arbeitsgesellschaft, in: End u.a., Antiziganistische Zustände, 24–40. hängt die Entstehung dieser Stereotype des Antiziganismus eng mit der Durchsetzung des Kapitalismus und der Arbeitsgesellschaft zusammen. »Der Zigeuner« ist eine Projektion von gesellschaftlich tabuisierten Regungen, Vgl. Max Horkheimer und Theodor W Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1989, 201. in diesem Fall der Faulheit. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden in ganz Europa Arbeitshäuser eingerichtet, in denen Menschen durch Zwangsarbeit zum Fleiß erzogen wurden. Als »Zigeuner« stigmatisierte Menschen und Gruppen waren häufig von diesen Maßnahmen betroffen. Da der »Zigeuner«-Begriff ambivalent bleibt zwischen einer sozialen und einer rassistischen Bestimmung, konnte das Bild der »Faulheit« der »Zigeuner« auch als Mahnung an alle anderen Teile der »Mehrheitsbevölkerung« verstanden werden, fleißig zu sein, sich konform zu verhalten, denn im Hintergrund stand die Drohung, zum »Zigeuner« zu werden. So hatte zwar die Aktion Arbeitsscheu Reich von 1938 einen eindeutig antiziganistischen Anlass, gleichzeitig wurden jedoch auch zahlreiche Menschen interniert, die nicht als »Zigeuner« galten. Genauer zu dieser Maßnahme siehe Wolfgang Ayaß, »Ein Gebot der nationalen Arbeitsdisziplin«. Die Aktion »Arbeitsscheu Reich« 1938, in: Feinderklärung und Prävention. Kriminalbiologie, Zigeunerforschung und Asozialenpolitik. [Beiträge zur nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 6], 43–74.

»Heimatvergessen«

Dieses abweichende Verhalten ist dem Tagesspiegel dann doch zu viel und indem er das Folgende zur Überschrift erhebt, schließt er sich der Forderung an: »Körting fordert Roma zum Gehen auf« (8. Juni). »Land und Bezirke dürfen sich nicht länger gegeneinander ausspielen lassen. Sie müssen den vorgeblichen Roma klarmachen, wo ihre Heimat liegt« (3. Juni). Offensichtlich vergessen »Besetzer-Nomaden« (30. Mai), die »wie Nomaden der Neuzeit« »leben« (6. Juni) und »in Europa von Land zu Land« »wandern« (6. Juni) manchmal, wo ihre »Heimat liegt«. Der Topos von der angeblichen »Heimatlosigkeit« der »Zigeuner« gehört ebenfalls zum Kernbestand des Antiziganismus. Dies ist insbesondere in diesem Fall interessant, weil einerseits in sehr vielen Artikeln darauf hingewiesen wird, dass es sich um »rumänische Roma« (3. Juni) gehandelt habe, andererseits wird in den obigen Zitaten direkt das alte antiziganistische Bild von den »herumziehenden Zigeunernomaden« bedient. Diese Ambivalenz ist nur auf den ersten Blick unlogisch, bei genauerem Hinschauen entspricht sie der Konstruktion der »heimatlosen Zigeuner« sehr genau: Dass »Zigeuner« eine Staatsangehörigkeit besessen haben, hat die sie verfolgende Mehrheitsbevölkerung noch nie davon abgehalten, sie für »fremdländisch« zu erklären. In Deutschland wurden nach der Beendigung der Massenvernichtung durch die Alliierten viele als »Zigeuner« verfolgte Sinti staatenlos. Während des NS war ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen worden und in der BRD sahen die Behörden häufig keine Grundlage, die Staatsbürgerschaft zurück zu geben bzw. anzuerkennen Noch in den siebziger Jahren wurde einem Sinto die Ausstellung eines Reisepasses verweigert, weil seine Vorfahren im späten 19. Jahrhundert angeblich illegal vom Königreich Württemberg ins Königreich Bayern übergesiedelt waren. Vgl. Sieghart Ott, Die unwillkommenen Deutschen, in: Tilman Zülch, (Hrsg.), In Auschwitz vergast, bis heute verfolgt: Zur Situation der Roma (Zigeuner) in Deutschland und Europa, Hamburg 1979, 227–236. Aber dieser Entzug der Staatsbürgerschaft hat im Antiziganismus System: Eine »Nationalität« haben »Zigeuner« im ressentimentverhafteten Denken nämlich nicht, »nur« eine Staatsbürgerschaft. So sind »Zigeuner« im Stereotyp zwar beispielsweise »Rumänen«, aber andererseits »nicht so richtig«. Und insbesondere steht für alle »richtigen Rumänen« fest, dass »Zigeuner« nicht »dazu gehören«. Vgl. Anda Nicolae Vlada, und Malte Kleinschmidt, Von »Zigeunern und Vampiren«. »Der Zigeuner« als das Andere des rumänischen Selbst, in: End u.a., Antiziganistische Zustände, 204–232. »Zigeuner« sind im Bezug auf die Kategorie »Nation« ambivalent, sie stehen für das Nicht-Identische. Eine Hinweis darauf findet sich beispielsweise in Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Hamburg 1992, 111.

»Schuldkomplex«

Aber der Tagesspiegel hilft und macht »ihnen« deutlich, dass »sie« zumindest »hier« nicht bleiben können und nur Recht »auf einen befristeten Aufenthalt [haben]. Nicht weniger, aber auch nicht mehr« (26. Mai). Und dass »sie« sich keine Hoffnungen auf eine Übernahme von Verantwortung machen sollen: »Es handelt sich auch nicht um die Nachfahren jener Sinti und Roma, die den Nationalsozialismus überlebt haben. Es geht hier um Menschen, die in Berlin die Sommermonate nutzen, um das schmale Einkommen der eigenen Großfamilie aufzubessern« (26. Mai). Mit dieser Aussage wird der eliminatorische Charakter des nationalsozialistischen Massenmords an den europäischen Roma und anderen als »Zigeuner« verfolgten Menschen geleugnet. Alle heute lebenden Roma haben die geplante Vernichtung überlebt oder sind Nachfahren jener, die den Massenmord überlebt haben und den Zwangssterilisierungen entkommen sind. Auch hier ist das antiziganistische Motiv offensichtlich, das das »Vortäuschen falscher Tatsachen« kombiniert mit dem immerwährenden Versuch, sich »Leistungen zu erschleichen«. Auch in einem späteren Kommentar wird genau diese Verbindung aufgegriffen: »Bald wird sich wieder einmal europaweit herumsprechen, dass in Berlin jeder auf Kosten der Allgemeinheit angenehm und in Frieden leben kann, sofern er nur in der Lage ist, ein paar passende Knöpfe zu drücken und sich als verfolgt darzustellen in der Hoffnung, dass niemand das Gegenteil beweisen kann« (3. Juni). Der Zynismus, einen Aufenthalt im Lager in der Motardstrasse, für das DIE GRÜNEN Anfang 2008 forderten, es wegen »Unzumutbarkeit« und mit dem Verweis auf das »Grundrecht auf Menschenwürde« zu schließen, http://gruene-berlin.de/site/fileadmin/kopofo/dateien/Rundbriefe/0802/R0802_P_a_nterbringungAufnahmeeinrichtung.pdf (16. Juli 2009). als »angenehm und in Frieden« darzustellen, ist erschreckend. In einem Brief an die B.Z. vom 16. Juni fantasiert die Leserin gar von einem »Schlaraffenland«. »Der Gedanke an Glück ohne Macht ist unerträglich, weil es überhaupt erst Glück wäre« würden Adorno und Horkheimer antworten. Wer scheinbar »nicht den Schweiß von Mühsal und Körperkraft« vergießt, wird zum »Wunschbild der durch Herrschaft Verstümmelten [...]«. Horkheimer, Dialektik der Aufklärung, 181.

Im folgenden setzt sich diese Auffassung, »die Roma« hätten geschickt die Berliner Behörden mit ihrem »Schuldkomplex« manipuliert und führten nun auf »unsere Kosten« ein Luxusleben, weiter durch: »Sonnenklar ist auch, dass sich nun die »Leichtigkeit des Seins« in Berlin herumgesprochen hat. Auch wer keine Ansprüche auf staatliche Hilfen hat, erreicht sein Ziel durch moralischen Druck« (14. Juni). Am Ende ist im Tagesspiegel so selbstverständlich, dass »eine Gruppe Roma« gezeigt hat, »wie man die Verwaltung der Hauptstadt an den Rand der Lächerlichkeit bringt« (19. Juni), dass es in einem Artikel über den Anstieg des »Linksradikalismus« ganz nebenbei fallen gelassen werden kann. Berlin sei »eine Irrenanstalt«, »die Krone setzt dem jecken Treiben wohl die Gruppe von 100 Roma auf, die aus dem EU-Land Rumänien als Touristen einreisten und die Hand aufhielten. Damit sie gefälligtst [sic] wieder verschwinden, zahlte ihnen der Senat 250 Euro – mehr als das damalige Begrüßungsgeld für Ossis« (12. Juni), klagt ein Redakteur.

»Überfremdung«

Aufs Neue drohte – wie Anfang der Neunziger – die »Überfremdung«: »Die Zahl der Roma im Spandauer Asylbewerberheim hat sich verdreifacht« (3. Juni) und »verglichen mit dem, was die Stadt dann [mit dem Ende der Einschränkungen der Freizügigkeit in der EU, M.E.] erwartet, ist die nun stadtbekannte Roma-Truppe nur eine winzige Vorhut« (14. Juni). Bereits 1992, kurz nach den antiziganistischen Pogromen in Rostock-Lichtenhagen sah beispielsweise der Spiegel eine »Masseneinwanderung« von Roma, einen »Ansturm aus dem Südosten« auf Deutschland zurollen. »Sinti und Roma nach Bonn«, in: Der Spiegel. H. 37 1992, Hamburg, 30–36, hier 33. Hierbei wird die angeblich hohe Geburtenrate mit dem immer neuen Auftauchen aus dem Nichts kombiniert. Das Überschwemmen einer »Nation« ist ein Motiv, das sich in vielen Ressentiments findet. Das Spezifische am Antiziganismus könnte die Kombination aus der »Nichtsesshaftigkeit« mit der Bedrohung durch »Betteln«, »Diebstahl« und »asozialem Verhalten« sein. Diese Kombination macht eine Überflutung einerseits wahrscheinlicher, weil die »Nomaden« ja nicht in ihrer »Heimat« verwurzelt« sind, andererseits gefährlicher, aufgrund der »schlechten Eigenschaften« der Roma.

»Lösung«

Aber wie könnte das Problem gelöst werden? Immerhin muss auch der Tagesspiegel erkennen, dass Roma »immer verschleppt, versklavt und verfolgt« (3. Juni) wurden, dass eine »systematische Ermordung von einer halben Million Sinti und Roma in Konzentrationslagern der Nazis während des Zweiten Weltkriegs« (3. Juni) stattfand und deren »Planer [...] ihre Schreibtische in dieser Stadt« (4. Juni) hatten. Auch auf die jüngere Vergangenheit wird hingewiesen: »Während des Kosovokrieges wurden auch sie Ziel »ethnischer Säuberungen«« (4. Juni) und auch heute werden »Roma von Rassisten gejagt« (12. Juni). Aber »müssen wir in Berlin uns für all das interessieren?« (4. Juni) fragt sich eine Journalistin und antwortet sich gleich selbst: »Nein, müssen wir nicht« (4. Juni). Der Schluss, einen Aufenthalt zu ermöglichen, beispielsweise durch Gewerbescheine, erscheint den RedakteurInnen des Tagesspiegels »nicht sehr realistisch« und geradezu »skurril« (5. Juni); manche, wie den CDU-Innenexperten Kurt Wansner ergreift blanke Panik: »Die Gewerbeschein-Idee ist völlig durchgeknallt. Wenn der Senat das durchzieht, haben wir in aller Kürze sämtliche Sinti und Roma in der Stadt«. Zitiert nach der B.Z. vom 4. Juni 2009.

»Ruhig bleiben« (12. Juni) mahnt da der Tagesspiegel, Berlin kann nichts tun, denn »gelöst werden muss und kann das Problem nur in Rumänien und nicht in Berlin« (5. Juni). Ein bisschen Mitleid heucheln, jegliche Verantwortung ablehnen, ein wenig »zündeln« und ansonsten »ruhig bleiben« angesichts der »Dreistigkeit« »der Roma«, das ist die Devise des Tagesspiegels, denn so etwas »muss eine Metropole, die mit Weltoffenheit kokettiert, ganz ohne Dramatisierung verkraften« (12. Juni).

Das ist ehrlich. Berlin »kokettiert« nur mit »Weltoffenheit«, dahinter, kaum versteckt, zeigt sich der alte Antiziganismus ungeniert in all seinen Facetten.

 ~Von Markus End. Der Autor ist Mitherausgeber des Sammelbandes Antiziganistische Zustände. Er lebt in Berlin und promoviert zu Semantiken des Antiziganismus. Der Artikel basiert auf einem Beitrag für das Magazin des bayrischen Flüchtlingsrats Hinterland.