Globalisierung der Menschenrechte

Der Anschlag auf das World Trade Center in New York sei ein Angriff auf die gesamte freie Welt gewesen, heißt es unisono in allen Medien sowie der gesamten Öffentlichkeit der westlichen Hemisphäre. Ein "Krieg gegen den Terror" stehe bevor, in dem die Werte der westlichen Welt gegen die "Barbarei" verteidigt werden müssen. In Wirklichkeit wird der "Kampf für Menschenrechte" lediglich die weitere Durchsetzung der westlich-kapitalistischen Ordnung im globalen Maßstab bedeuten - ein Diskussionsbeitrag.
 

America under Attack

Keine Stunde war an jenem 11. September 2001 nach dem Anschlag auf das World Trade Center (WTC) und das amerikanische Pentagon vergangen, da war sich die amerikanische wie europäische Presse und Öffentlichkeit bereits einig. Ein Angriff auf die "freie Welt", auf die "Zivilisation" schlechthin habe stattgefunden. Obwohl weder ein BekennerInnen-Schreiben noch irgendwelche Beweise vorlagen, konnten die Schuldigen bereits genannt werden: Osama bin Laden samt seiner islamistischen Drahtzieher im fernen Afghanistan sowie der irakische " Diktator" Saddam Hussein kämen für eine solche Tat nur in Frage. Die Beweislage war also völlig unerheblich, und so drängt sich der Eindruck auf, dass diese auch in Zukunft ohne Belang bleiben sollte und der Anschlag auf das WTC nur anschob, was in der ideologischen Schublade der "freien Welt" schon griffbereit lag: Der Kampf der "westlichen Welt" gegen die Vorboten der "Barbarei" bzw. der "Barbarei" als solcher.
Getroffen hat die USA der Anschlag vor allem aber aus einem Grund: Der Terroranschlag von New York hat die Brutalität des Krieges von der Peripherie direkt ins Zentrum der westlichen Welt getragen. Diese Situation ist für die USA eine völlig neue, werden sie doch zum ersten mal in ihrer Geschichte (bis auf Pearl Harbor) von einem kriegerischen Schlag im eigenen Land getroffen, war der Anschlag zum ersten mal kein kalkulierbares Risiko eines Einsatzes in anderen Territorien der Welt, sondern demonstrierte er die unkalkulierbare Brutalität terroristischer Aktivitäten.
Die scheinbare Gewissheit, nach dem Ende des "Kalten Krieges" von nun an weitestgehend allein entscheiden zu können, gegen wen Krieg geführt wird und gegen wen nicht, ist nun mit einem Schlag dahin. Die amerikanische High-Tech-Militär-Maschinerie ließ den Eindruck aufkommen, dass die USA zumindest im eigenen Land unangreifbar sind. Dieser Mythos ist nun mit einem Mal zerstört worden.
Die derzeit zur Schau gestellte Menschlichkeit ist indes pure Heuchelei und lediglich politisches Instrument zur moralischen Legitimierung weiterer kriegerischer Eskalationsmaß nahmen seitens der USA und deren Bündnispartner. Es ist in der Tat nicht ausschlaggebend, dass zivile, scheinbar unbeteiligte Menschen beim Anschlag auf das WTC ermordet wurden, es ist ausschlaggebend, dass diese Menschen AmerikanerInnen waren und insofern RepräsentantInnen der westlichen Demokratie. Es ist also mitnichten die alleinige Herleitung antiimperialistischer bzw. antiamerikanistischer DemagogInnen, den Anschlag als Angriff auf die Symbole der USA zu bezeichnen. Es ist vielmehr die Selbstbezeichnung einer getroffenen Nation, die den Angriff nicht als das bezeichnen will, was er ist, sondern ihm bewusst eine symbolische Bedeutung beimisst, um reagieren zu können. Der Anschlag ist ein antiamerikanischer, ein antisemitischer und ein unmenschlicher Akt, bezeichnet wird er jedoch als Anschlag auf die freie Welt, auf die Zivilisation; die Symbolik wird der Welt frei Haus geliefert.

Antiamerikanismus, Antizionismus, Antisemitismus

Die symbolische Bedeutung, die dem Anschlag beikommt, ist auf der anderen Seite aber keinesfalls eine Halluzination der "westlichen Welt", um handlungsfähig zu bleiben. Für die Attentäter selbst sowie für die Rezeption derjenigen, die sich nun mit diesen verbal verbünden, besaß der Anschlag ebenso einen symbolischen Gehalt. Im Zuge dieser Auseinandersetzung droht sich nun erneut ein Antiamerikanismus Bahn zu brechen, der strukturell antisemitische Züge trägt.
Amerika wird einmal mehr als das Böse schlechthin in der Welt dargestellt. Amerika selbst wird nicht als ein kapitalistischer Staat betrachtet, sondern als der Inbegriff des Kapitalismus an sich. Besonders das WTC sei das Symbol des amerikanischen Finanzkapitals, das im Gegensatz zu dem produzierenden Kapital an den Grausamkeiten und Ungerechtigkeiten des Kapitalismus schuld sei. Dies ist in der Tat eine falsche Analyse der kapitalistischen Logik. Die Finanzsphäre wird seit Bestehen des Kapitalismus in weiten Kreisen mit dem Judentum identifiziert. Es seien die jüdischen SpekulantInnen, die die wahren NutznießerInnen des Kapitals darstellen und den Rest der Welt ausbeuten. Lokalisiert wird dieses "jüdische Finanzkapital" wahlweise in Israel selbst oder in Amerika, konkret New York/Manhattan.
Ein weiteres beliebtes antisemitisches Argumentationsmuster, das nach dem Holocaust und der Staatsgründung Israels eine Rolle spielt, ist die angeblich unverhältnismäßige Parteinahme der USA für den Staat Israel in den Konflikten des Nahen Ostens. Die spezifische historische Situation, die die Existenz eines jüdischen Staates dringend vonnöten macht, wird ignoriert und Israel als Vorbote des amerikanischen Imperialismus verunglimpft. Der Angriff auf das WTC sei damit also auch ein berechtigter Widerstand gegen die imperialistische Politik der USA in genau dieser Region und damit auch ein berechtigter Angriff auf den "imperialistischen Staat" Israel. Die ideologische Konstruktion dieses Arguments zeigt sich auch am Wandel, dem die Israel-Politik der USA und der EU unterliegt. Die uneingeschränkte Parteinahme der USA für Israel ist heutzutage nur noch Propaganda. Vielmehr wird derzeit Israel seitens der EU und seitens der USA verschärft kritisiert und vermehrt eine Annäherung an die palästinensischen bzw. arabischen Positionen gesucht. Die frühere starke Unterstützung der israelischen Politik durch die USA ist heute hinfällig. Eine Argumentation, die die angeblich einseitige Parteinahme der USA als Grund für den Terroranschlag beschreibt, ignoriert den Umstand, dass es diese einseitige Parteinahme nicht mehr gibt, es diese eine Ursache für den Anschlag auf das WTC bzw. auf amerikanische Institutionen oder die USA selbst nicht sein können.
Eine Kritik, die sich auf die Staaten USA und Israel (oder wahlweise auch nur eines von beiden) als die Hauptschuldigen der weltweiten Ungerechtigkeiten konzentriert, geht also an der Sache vorbei. Es sind nicht einzelne Staaten als solche oder, noch schlechter, die Menschen in ihnen, die an den Ungerechtigkeiten des Kapitalismus und des Imperialismus schuld sind, sondern es sind die kapitalistischen und imperialistischen Verhältnisse selbst, die es anzugreifen gilt. Die weltweite Ordnung des Kapitalismus ist nicht zu begreifen und erst recht nicht abzuschaffen, wenn in gute und schlechte KapitalistInnen und in gute und schlechte kapitalistische und imperialistische Staaten unterschieden wird, ohne die Wirkungsweise des Kapitalismus und des Imperialismus als Ganzes zu kritisieren.
Die sich langsam formierende Antikriegsbewegung scheint die Fehler der Vergangenheit nun wiederholen zu wollen. Amerika wird als Hauptfeind ausgemacht, dem sich die "besonnenen Staaten", wie z.B. die BRD, entgegenzustellen haben. Diese sollen für eine friedliche Ordnung sorgen und die "zügellosen" Bestrebungen Amerikas bändigen. Diese Art Antiamerikanismus muss aufs Schärfste verurteilt und bekämpft werden, da in dessen Gefolge ebenso strukturell antisemitische Positionierungen in der Linken wieder hoffähig werden.
Der Kampf gegen Kapitalismus und Imperialismus ist kein Kampf gegen konkrete Phänomene derselben, sondern muss ein Kampf gegen diese Dinge insgesamt sein. Er kann nicht die alleinige Kritik an den USA als vermeintlichen "Strippenziehern" sein, sondern muss die kapitalistische und imperialistische Ordnung als solche und alldiejenigen Staaten und Bündnisse ins Visier nehmen, die diese Ordnung tragen.

Die Welt soll ordentlich sein

Der im Anschluss an den Anschlag in Windeseile vorgetragene nationalistische Pathos sowie das sofortige Bestreben nach einem wirkungsvollen Gegenschlag machen deutlich, wie sehr die USA im Mark getroffen wurden. Die Diskussionen um Sicherheit vor Terrorismus und die damit einhergehende massive Intensivierung des militärischen Arsenals wurde durch diesen Anschlag zur Farce. Die Ausstattung des amerikanischen Luftraums mit einem neuartigen Hightech-Abwehrsystem und der damit verbundene Ausstieg aus dem ABM-Vertrag sollte der amerikanischen Nation das Gefühl geben, dass die USA die "neuen Gefahren des Terrors" im Griff haben und die Sicherheit des eigenen Landes gewährleistet sei. Dieses Gefühl ist mit dem Anschlag auf das WTC mit einem Mal zunichte gemacht worden.
Der Logik staatlichen Handelns folgend, soll die Glaubwü rdigkeit der amerikanischen Sicherheit wieder hergestellt werden. Der wirksame Gegensc hlag soll zeigen, dass die USA die Situation im Griff haben und selbst nach solchen Terroranschlägen nicht in Ohnmacht verfallen. Am deutlichsten demonstrierte dieses Ansinnen der amerikanische Präsident George W. Bush, der in jeder Ansprache betonte, dass Amerika stark genug sei, um sich angemessen gegen derartige Attacken zu wehren, die VerursacherInnen würden durch Amerika zur Verantwortung gezogen werden. Amerika, so der einhellige Kommentar, ist nicht in seine Grenzen gewiesen worden, sondern wurde zu einem "Krieg für die Freiheit" herausgefordert, welchen erfolgreich zu führen, es selbstverständlich bereit sei.
Auf der anderen Seite sind es aber auch nicht die USA allein, die das Hohelied auf die "freie Welt" spielen. Vielmehr ist es die gesamte sich so nennende "freie Welt ", die nun den " Krieg gegen den Terror" vor sich sieht und bereit ist, diesen Krieg zu führen. Gerhard Schröder hat bereits in seiner ersten Ansprache an die Nation nach dem Anschlag auf das WTC verkündet, dass es nun verstärkt darum gehen müsse, die eigenen Werte im weltweiten Maßstab durchzusetzen und sich nicht auf Gebiete "vor der eigenen Haustür" zu beschränken. Der Historiker Arnulf Baring schreibt in der Bild, dass nun ein "Krieg zwischen Morgenland und Abendland" bevorstünde.
Es überrascht, mit welcher Einhelligkeit innerhalb weniger Stunden die Floskel von der "freien Welt" in die Öffentlichkeit geblasen wurde. Fragt man sich ernsthaft, was damit gemeint sein könnte, wird man schnell feststellen, dass die "freie Welt" auch ganz einfach als "kapitalistische Welt" übersetzt werden kann. Wer sich dazuzählen kann, bestimmen die Staaten nicht selbst, sondern wird an deren Bereitschaft, an der globalen Ordnung des Kapitalismus samt seiner westlichen Zentren teilzunehmen, gemessen. Die StichwortgeberInnen der "freien Welt" sind die westlichen Großmächte wie USA, EU und Japan.
Die sich aus Sicht der USA und ihrer BündnispartnerInnen nach den Anschlägen als notwendig ergebenden Reaktionen gliedern sich in die bereits bestehenden Strategie n einer weltweiten Ordnung ein. Auch wenn sie keinesfalls als direktes Ergebnis dieser Plä ne interpretiert werden kö nnen, weil sie tatsä chlich vom Imperativ, auf die Anschläge eine Antwort finden zu müssen, getragen werden, sind sie doch auch im Rahmen der schon vor den Anschlägen bestehenden Strategien und allgemeinen Handlungsrichtlinien, auf die sie sich beziehen, zu interpretieren.
Die Propaganda des Kampfes der "freien Welt" gegen die " Barbarei" erinnert stark an alte imperialistische Begründungsmuster zur Legitimation des eigenen imperialistischen Strebens. So war die Politik imperialistischer Staaten seit jeher von einer Propaganda begleitet, die dem mörderischen Treiben ein menschliches Antlitz zu verpassen suchte. Es ging immer darum, dass die "moderne Welt" den " Wilden" der Peripherie Kultur und Zivilisation - zu deren eigenem Wohlbefinden selbstverständlich - beibringen wollte. Und auch der jetzt erneut vorgetragene Kampf um Menschenrechte begleitet ein verändertes imperialistisches Bestreben zur Ordnung der Welt.
Nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Hemisphäre sahen sich die USA sowie ihre Bündnispartner in Europa bemüßigt, ein neues Bündnissystem zu initiieren. Der Zusammenbruch des Sozialismus führte zwar tatsächlich dazu, dass in nahezu allen Staaten der gesamten Welt der Kapitalismus als Wirtschaftsform Einzug hielt, nicht jedoch dazu, dass auch alle Staaten dem Ordnungsmodell der westlichen Welt sich anpassen wollten. So mussten sowohl im Zweiten Golfkrieg des Jahres 1991 als auch im Jugoslawienkrieg 1999 die Verhältnisse ein Stück zurecht gebombt werden. Diesen beiden Kriegen war gemeinsam, was sich jetzt im Zuge der Auseinandersetzungen nach dem WTC-Anschlag erneut anbahnt: Der Westen habe all diese Kriege nur zum Zwecke der Durchsetzung der Menschenrechte geführt. Sie sollten Akte der Menschlichkeit darstellen und das Böse in der Welt wirksam bekämpfen. Folgerichtig wurde sowohl Hussein als auch Milosevic als irakischer bzw. Serben-Hitler bezeichnet und hätten beide den Plan eines Großarabiens bzw. Großserbiens bereits in der Tasche. Die Schlachtfelder waren denn auch die Schlachtfelder gegen die Vergangenheit des Nationalsozialismus. Eine dem Nationalsozialismus ähnliche Vernichtungspolitik spiele sich sowohl im Irak als auch in Jugoslawien ab. Diese Argumentation findet sich besonders in Deutschland. Völlig ignoriert wird dabei die Spezifik des Nationalsozialismus, die darin besteht, dass die Neuaufteilung der Welt über ein rassistisches und antisemitisches Vernichtungsprojekt vollführt werden sollte. Die gnadenlose Vernichtung von Millionen Menschen war ein primäres Ziel der nationalsozialistischen Kriegsführung. So war besonders in Deutschland die regierungsamtliche Argumentation während des Jugoslawienkriegs darum bemüht, dem NS ähnliche Mechanismen nach Serbien bzw. in den Kosovo zu projizieren. Auch wenn für die Behauptung, dass die jugoslawische Regierung im Kosovo-Krieg einen Vernichtungsfeldzug vollführen würde, jegliche Beweise komplett fehlten, wurde die Vision eines neuen Auschwitz, das in Jugoslawien stattfinden würde, gebetsmühlenhaft wiederholt.

Globalisierung der Menschenrechte

Der Kampf um jene Menschenrechte besitzt jedoch nicht nur einen propagandistischen Zweck, sondern ist sich auch ein Stück weit selbst Zweck. Die beschleunigte Globalisierung des Kapitalismus, die vermehrt die Kritik von den Kapitalverhältnissen nahezu ohnmächtig unterliegenden Menschen auf sich zieht, ist nicht nur wirtschaftlicher Prozess bzw. logische Gesetzmäßigkeit kapitalistischer Akkumulation, sondern ist ebenso ein politisches Projekt. Die Globalisierung als politisches Projekt ist das Wesen des propagierten Kampfes um Menschenrechte der "freien Welt" gegen die "Barbarei".
Die Zentren der westlich-kapitalistischen Ordnung bedürfen der Peripherie zur Sicherung ihrer eigenen Funktionsweise. Staaten bzw. Regionen, die sich den Globalisierungsbestrebungen entgegenstellen, bedrohen die Ordnung des globalen Kapitalismus der westlichen Freihandelszonen.
Dabei ist es durchaus nicht gewollt, dass an den westlichen Freihandelszonen alle Staaten der Welt teilnehmen. Es geht gar nicht darum, ein Ordnungssystem zu installieren, das allein nach dem Diktat der Großmächte funktioniert. Ein unmittelbares Interesse besteht nur in den Gebieten der westlichen Freihandelszonen, in denen sich staatliche Konstellationen bilden, die diesen Freihandelszonen im Wege stehen, wie z.B. die Bundesrepublik Jugoslawien. Dort ist es fü r die EU dringend vonnöten, derartige Konstellationen, die der freien Herrschaft des Kapitals nach speziellen Gesetzen widersprechen und gefährlich werden können, ihrem eigenen Diktat zu unterwerfen oder aber jene Konstellationen zu zersprengen. Ein Großteil der Staaten der Welt soll jedoch mitnichten in die Freihandelszonen integriert werden. Sie sollen lediglich den Bestrebungen der westlichen Großmächte nicht im Wege stehen.
Am augenscheinlichsten tritt jenes Bestreben in den direkten Einflusszonen der westlichen Großmächte zu Tage. Im "Vorhof" der USA zeigt es sich im Plan Colombia, in Europa bei dem Krieg gegen Jugoslawien. Der Aufbau der nord- und lateinamerikanischen Freihandelszone AFTA ist ein Projekt der USA, dem sich die Länder Lateinamerikas zu unterwerfen haben. Die AFTA ist das Nachfolgeprojekt der NAFTA, die lediglich die Staaten Nordamerikas umfasste und nun auf die Staaten Lateinamerikas ausgeweitet werden soll. Die Unterwerfung Brasiliens, das sich als letztes Land gegen die Teilnahme an der AFTA wehrt, sowie der militärische Eingriff in Kolumbien zur Stabilisierung der dortigen Verhältnisse im Rahmen des Plan Colombia zielen auf die Durchsetzung einer von den USA diktierten Ordnung der wirtschaftlichen, politischen und rechtlichen Verhältnisse ab.
Gleiches gilt in Europa für Jugoslawien, das als politisch wie wirtschaftlich wichtiges Land sich dem Diktat der EU unterwerfen soll. Die jugoslawischen Verhältnisse nach 1990 waren der Freihandelszone EU ein Dorn im Auge. Es drohte eine riesige Region zu entstehen, die den Bestrebungen der EU entgegenläuft und sich damit einer direkten Einflussnahme entzieht. Diesen Machtfaktor zu zerstören, war das entscheidende Anliegen der Nato, das zur kriegerischen Intervention in Jugoslawien führte.
Der Kampf für Menschenrechte meint jenen Kampf für eine stabile politische Ordnung, welche die Voraussetzungen für eine Teilhabe jener Länder an den Freihandelszonen der westlichen Welt darstellt bzw. diesen nicht entgegensteht. Die proklamierten Menschenrechte sind dabei nicht ideologische Tarnung eines imperialistischen Plans, sondern sind Teil des Planes. Es sind die Rechte, die die Basis einer Demokratie bedeuten, die den wirtschaftlichen Interessen der westlichen Großmächte entsprechen. Die betroffenen Länder haben die Voraussetzungen zu schaffen, unter denen Kapitaltransfer und die gesicherte Ansiedlung von Unternehmen stattfinden kann. Es geht also darum, demokratische Institutionen nach westlichem Vorbild zur Garantie der kapitalistischen Verkehrsformen durchzusetzen. Nicht von der Hand zu weisen ist aber auch, dass der Kampf für Freiheit ebenso eine gewisse ideologische Selbständigkeit besitzt. Wenn heute davon gesprochen wird, den Menschen in Afghanistan die Freiheit zu bringen, ist dies durchaus ernstgemeint. Auch wenn ein solches Ansinnen nicht den Ausschlag für kriegerische Interventionen gibt, wird im Ergebnis dennoch das ehrliche Bewusstsein festzustellen sein, dass den Menschen dieses Landes, wie vorher schon denen der ehemaligen sozialistischen Länder, die Freiheit gebracht worden sei.
Die Vorsicht, die die USA im Vorfeld des Krieges gegen Afghanistan walten ließ , hatte jedoch ganz wesentlich das Ziel, Bündnispartner in der Region zu gewinnen. Es geht darum, die "islamische Welt" zu spalten, in diejenigen, die die Taliban unterstützen, und diejenigen, die sich auf der Seite der "freien Welt" gegen die Taliban verbünden. Es geht in diesem Konflikt also nicht allein darum, die Taliban zu zerbomben, sondern auch darum, Verbündete zu finden, auf die die USA und Großbritannien unmittelbaren Einfluss nehmen können. Zudem stellt der Krieg eine Warnung an all diejenigen dar, die sich dem Ordnungsmodell der westlichen Welt verweigern wollen.
Wir haben es also hier durchaus mit einer neuen Form des Imperialismus zu tun. Dabei geht es nicht mehr darum, weltweit fremde Länder zu besetzen, um sie der eigenen Herrschaft und damit auch der Ausbeutung zu unterwerfen. Vielmehr existieren nur in der unmittelbaren Umgebung der westlichen Großmächte konkrete politische Ziele, die durch diese Staaten auch weiterhin umgesetzt werden.
Andere Staaten der Welt jedoch sollen sich weitestgehend selbst verwalten und auch selbst für eine Stabilität der Region sorgen. In diesem Sinne ist das Bestreben der USA spätestens seit dem Antritt George W. Bushs zu verstehen, sich aus Europa herauszuziehen und die europäischen Staaten anzuhalten, die Interessen in ihrer Region alleine durchzusetzen.

Die Freiheit der Barbarei

Eine entscheidende Folge der Anschläge stellt die sprunghafte Verschärfung innenpolitischer Repressionsmaßnahmen dar. In der BRD war innerhalb weniger Tage ein massiver Rechtsruck zu verspüren. Ohne eine einzige öffentliche kritische Stimme wurden mal eben 3 Milliarden DM für den Ausbau der Polizei, des BGS und der Geheimdienste bewilligt. Die verschiedensten staatlichen Maß nahmen zur Überwachung, Repression etc., die über Jahre als überzogen in der Kritik standen, werden nun im Zuge der geschürten Angst vor dem Terror wieder hoffähig. Sei es die umfangreichere Überwachung von Telefonen, die Wiedereinführung der Rasterfahndung, der Einsatz verdeckter ErmittlerInnen, die Erleichterung des Verbotes von Vereinen etc. Maßnahmen, die unter anderen Umständen weder in ihrer Intensität noch in ihrem Umfang und in dieser Schnelligkeit durchgekommen wären, können nun im Lichte der Ereignisse von New York ohne wirklichen Widerstand durchgefü hrt werden. Neben der Verschärfung der Innenpolitik wird es ebenso eine noch größere Verschärfung des Asylrechts geben, als sie durch das neue Einwanderungsgesetz ohnehin zu erwarten gewesen wäre. Nicht nur außenpolitisch, sondern auch innenpolitisch kommt es zu einer Aufrüstung der staatlichen Institutionen.
Dass in der medialen Öffentlichkeit verstärkt die Verbrechen der Taliban präsentiert werden, verwundert kaum. Dass ein Krieg gegen Afghanistan natürlich ein Krieg gegen die Ungerechtigkeiten in dieser Region ist, versteht sich von selbst, findet sich doch für jeden verbrecherischen Krieg noch eine humanitäre Begründung. Wie unsinnig das Ganze ist, zeigen die aktuellen politischen Initiativen genauso wie die Vergangenheit. So war es in der Vergangenheit der US-amerikanischen Politik schon immer so, dass zur Zerschlagung konkreter politischer Gebilde, Verbündete gesucht wurden, die zwar keinen Deut besser sind, der Ordnung der westlichen Welt jedoch nicht entgegenstehen. Sei es nun das Königreich Kuwait oder die UCK oder die Unterstützung der afghanischen Mudjahedin im Krieg gegen die Sowjetunion: Die humanitären Werte der von den USA und deren Verbündeten unterstützten Gruppen konnten ausschlaggebend nicht sein. Genauso ist die jetzt zu beobachtende Unterstützung der afghanischen Nordallianz zu beurteilen. Sie unterscheidet sich von den Taliban im Wesentlichen nur dadurch, dass sie in Folge der Unterstützung durch die USA und Großbritannien wohl keinen streng antiwestlichen Kurs einschlägt, sondern auf die formale Kooperation mit den Westmächten setzen wird. Für die Menschen in Afghanistan selbst wird sich nach dem Machtwechsel nichts Bedeutendes ändern.
Angesichts einer Konstellation der "westlichen", kapitalistischen Welt auf der einen und einer wie auch immer gearteten "antiwestlichen" Welt, die mit dem Islam identifiziert wird, auf der anderen Seite, verbietet sich aus einem emanzipativen Blickwinkel eine Parteinahme für eine dieser beiden.
Was nicht bedeuten soll, beiden Seiten das gleiche Potential an Unmenschlichkeit zu attestieren. Der repressive und antizionistische Islam, wie er u.a. vom Taliban-Regime verkörpert wird, sorgt nicht einfach "auch" nur für Opfer, sondern steht in Anspruch und Wirklichkeit für das Ende jeglicher Emanzipation.
Und selbst, wenn es bis zu diesem Zeitpunkt keine eindeutigen Anzeichen für die Motivation der Anschläge auf die USA gibt, der dabei anvisierte Massenmord muss als Ausdruck eines unmenschlichen Programms begriffen werden.
Demgegenüber auf den "Westen" zu setzen, ist insoweit verständlich, dass in seinen Zentren ein variierendes Potential an Freiheit und Menschenrechten existiert. Diese sind allerdings nicht sein Wesen. Vielmehr ging es ihm bis jetzt bei allem weltpolitischen Engagement um die Erhaltung der jeweils praktikabelsten Ordnung zum Zwecke der maximalen Kapitalverwertung.
Welche Opfer dies immer wieder gefordert hat, galt zumindest der Linken als Binsenweisheit. Falsch aber wäre es, wenn der Hinweis darauf den Eindruck erweckt, die Anschläge seien als fehlgeleiteter Protest zu begrüßen. Falsch wäre es auch, so zu tun, als hätten die USA und ihre Verbündeten nur darauf gewartet, einen Vorwand zu bekommen, um auch in Afghanistan ihr Ökonomie- und Werte-Modell zu installieren.
Wenn die USA jetzt militärisch losschlagen, dann nur, um sich und der Welt, als Reaktion auf die Anschläge, die Sicherheit des globalisierten kapitalistischen Systems zu demonstrieren. Für sich genommen ist Afghanistan ökonomisch und strategisch relativ wertlos. Aus diesem Grunde hätte auch keine noch so menschenverachtende Gesellschaftsordnung zu einem Eingreifen der westlichen Welt vor dem 11. September bzw. einer ähnlich gearteten Bedrohungssituation geführt.
Die ideologische Legitimation des "Westens" wird in dieser Auseinandersetzung steigen und sich stärker noch als im Zuge des Jugoslawienkrieges gegen Kritik wappnen. Dies gilt es zu bedenken, wenn die banale Tatsache "im Westen lebt es sich besser als unter den Taliban" in die Diskussion gebracht wird. Zur Legitimation für den linken Schlachtruf, jetzt müsse mit allen Mitteln gegen den " islamischen Fundamentalismus" ins Feld gezogen werden, taugt der Allgemeinplatz aber auch mit seiner Einschränkung nicht. So wenig, wie in der Vergangenheit die Mehrzahl der Interventionen im Namen der Menschenrechte mit ihrer Verwirklichung oder gar emanzipativen Verhältnissen gleichgesetzt werden konnten, so wenig wird der Krieg gegen Afghanistan entsprechende Folgen haben.

Phase 2 Leipzig